Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Jörg Flecker
Ist seit März 2013 Professor für Allgemeine Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Wien. Der 1959 in Graz geborene Wissenschafter studierte zunächst Handelswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien und gelangte über einen Postgraduate-Lehrgang am Institut für Höhere Studien zur Soziologie. Zwischen 1991 und 2013 war Flecker Wissenschaftlicher Leiter der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA). Seine Schwerpunkte sind der Wandel der Beschäftigungssysteme im internationalen Vergleich, dynamische Vernetzungen von Organisationen und die Qualität der Arbeit, die Transformation öffentlicher Dienstleistungen in europäischen Wohlfahrtsstaaten und Arbeit in transnationalen Wertschöpfungsketten.
A&W: Ungleichheit und ungerechte Verteilung nehmen weltweit zu. Wird diese Schere noch weiter aufgehen?
Jörg Flecker: Die Gefahr besteht. Es gibt eine Tendenz zu zunehmender Armut und Umverteilung nach oben. Ohne politische Gegenmaßnahmen und gesellschaftlichen Widerstand könnte es weiter in diese Richtung gehen.
Wo liegen die Gründe für diese Entwicklungen?
Das liegt zum einen am Finanzmarkt-kapitalismus seit der Liberalisierung der globalen Finanzmärkte. Der Druck, hohe Renditen zu erzielen, setzt sich in Kürzungen der ArbeitnehmerInnen-Einkommen, der Flexibilisierung der Beschäftigung und einem wachsenden Niedriglohnbereich fort. Der zweite Grund ist die Dominanz neoliberaler Vorstellungen. Der Staat hat durch Privatisierung und Deregulierung Einflussmöglichkeiten abgegeben. Vormals öffentliche Dienstleistungen werden privat erbracht und dabei Profit angestrebt. Hier haben sich die Arbeitsbedingungen verschlechtert, die Einkommen sind gesunken. Als dritten Punkt möchte ich das nennen, was Colin Crouch als „Postdemokratie“ bezeichnet hat: Die Demokratien funktionieren nur der Form nach, aber die Entscheidungen sind inhaltlich stark von Lobbyisten und Großunternehmen beeinflusst. Jene, die private Reichtümer haben, bringen ihre Interessen viel stärker durch.
Wann müssen bei der Ungleichheit von Arbeit und Vermögen die Alarmglocken läuten?
Sie läuten schon, aber viele schützen sich mit Ohropax dagegen. Eine Studie der Europäischen Zentralbank hat vor Kurzem gezeigt, dass Österreich zu den europäischen Ländern mit der größten Ungleichheit bei der Verteilung des Vermögens gehört. Das Bild einer relativ gleichen Gesellschaft in Österreich, das viele noch im Kopf haben, stimmt also absolut nicht.
Welche Indikatoren für Ungleichheit gibt es noch?
Ein weiterer Indikator ist die Lohnquote: Seit Mitte der 1970er-Jahre ist sie kontinuierlich gesunken – von circa 75 Prozent Anteil des ArbeitnehmerInneneinkommens am Volkseinkommen auf unter 65 Prozent. Die Nettolohnquote ist noch stärker gesunken, weil die Steuer- und Abgabenbelastungen auf ArbeitnehmerInneneinkommen höher sind als auf Gewinneinkommen. Zudem gibt es rund 200.000 „Working Poor“ und einen wachsenden Niedriglohnbereich – und das bei steigenden Lebenshaltungskosten. Daran ist deutlich erkennbar, wie sehr die Schere auseinandergeht.
Ist es Zeit für eine Kehrtwende?
Ein Grund zur Umkehr wäre zu sagen: Man kann in einem reichen Land Armut aus moralischen Gründen nicht akzeptieren. Auch verlieren bei großer Ungleichheit alle – sogar die Reichen. Oder: Wir können uns die großen privaten Reichtümer und ihr Anwachsen einfach nicht mehr leisten, weil dadurch der Wirtschaft Nachfrage entzogen wird – und das schadet der Konjunktur und führt zu Arbeitslosigkeit.
Was ist gefährlicher: die reicher werdenden Reichen oder die ärmer werdenden Armen?
Wir sehen an beiden Enden eine Gefährdung der Demokratie. Kleine Gruppen von reichen und damit mächtigen Personen können politische Entscheidungen bestimmen, die somit der demokratischen Willensbildung entzogen werden. Das führt zum Verlust des Vertrauens in die politischen Institutionen. Die Leute sagen dann: Die da oben richten sich’s ja eh! Da haben wir bereits ein massives Problem. Und dann ist es nur mehr ein kleiner Schritt zur Gefährdung der Demokratie durch Desinteresse oder den Wunsch nach dem sogenannten „starken Mann“, nach autoritären Lösungen.
Der ÖGB fordert Vermögenssteuern. Wie sollten diese gestaltet sein?
Österreich hat im OECD-Vergleich eine sehr niedrige Besteuerung von Vermögen. Wenn Umverteilung nach oben läuft, ist es schwer, die Steuereinnahmen nur von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Niedrigverdienenden zu bekommen, weil es da an Masse mangelt. Es ist schwierig, an die Vermögen heranzukommen – das verweist wieder auf die Finanzmärkte. Es wäre ein Gesamtpaket nötig, bei dem man nicht nur große Vermögen effektiver besteuert, sondern auch sagt: Die Freizügigkeit des Kapitals, die Deregulierung des globalen Finanzmarktes war ein Irrweg.
Halten Sie die Senkung des Einkommensteuersatzes für eine sinnvolle und ausreichende Maßnahme gegen Ungleichheit?
Ändert man etwas an der Besteuerung, betrifft das immer nur die, die genügend Einkommen haben, um Steuern zu zahlen. Die größte Problematik besteht aber bei den ganz niedrigen Einkommen und den Menschen ohne Erwerbseinkommen. Ich denke eher, dass man bei den Mindesteinkommen, also den Kollektivvertragseinkommen, ansetzen muss und auch bei den Transferzahlungen wie Mindestsicherung, Arbeitslosengeld und Pensionen.
Wäre ein Mindestlohn nach deutschem Vorbild sinnvoll?
In Deutschland wird der gesetzliche Mindestlohn eingeführt, weil das Tarifvertragssystem löchrig geworden ist und der Anteil derer, die unter einen Branchentarifvertrag fallen, stark zurückgegangen ist. In Österreich ist die Situation eine andere: Für die meisten Beschäftigungsverhältnisse gibt es – solange es wirklich Anstellungsverhältnisse sind, die dem Arbeitsrecht unterliegen – einen kollektivvertraglichen Mindestlohn. Daher wird argumentiert, dass keine Notwendigkeit besteht. Auch gibt es die Befürchtung, dass gesetzliche Mindestlöhne politisch oder von außen und ohne demokratische Legitimation reduziert werden könnten, wie es etwa in Griechenland passiert ist. Eventuell könnte andererseits ein gesetzliches Mindestmaß dazu beitragen, die niedrigeren Kollektivvertragslöhne in die Höhe zu kriegen. Wichtig ist, dass die kollektivvertraglichen Mindestlöhne immer wieder über eine neue Mindestschwelle gehoben werden.
Was halten Sie von einem bedingungslosen Grundeinkommen?
Das ist eine berechtigte Forderung in einer Gesellschaft, die grundsätzlich sehr reich ist. Man könnte fragen, warum diejenigen, die in Familien hineingeboren werden, wo es Besitz an Unternehmen, Großgrund etc. gibt, so viel besser gestellt sind als Personen, die in Familien hineingeboren werden, wo es nur Schulden und kein Bildungskapital gibt. Man kann argumentieren: Es braucht eine gesellschaftliche Solidarität, die allen Bürgerinnen und Bürgern einen Anteil an dem von allen erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtum sichert.
Und was spricht dagegen?
Es spießt sich meist an der Höhe des Grundeinkommens. Einerseits besteht die Gefahr, dass es, wenn es durchgesetzt würde, sehr niedrig wäre. Dann würden die „Überzähligen“, die vom Kapitalismus als Arbeitskräfte und Konsumentinnen und Konsumenten nicht gebraucht werden, gerade noch am Leben gehalten. Bei einem ausreichend hohen Grundeinkommen wird befürchtet, dass sich die Menschen nicht am Produktionsprozess beteiligen. Bei hoher Arbeitslosigkeit ist das aber nicht unser Problem. Außerdem halte ich diese Gefahr für gering, weil Arbeit nicht nur Einkommen, sondern auch soziale Kontakte und gesellschaftliche Anerkennung gewährt. Eine Alternative wäre, die Mindestsicherung stark anzuheben, aber die Verpflichtung, eine Erwerbstätigkeit anzunehmen, aufrechtzuerhalten.
Hängen die Verteilung von Vermögen und die Verteilung von Arbeit zwangsweise zusammen?
Nein, im Gegenteil. Es gibt viele extrem reiche Menschen, die nicht arbeiten müssen – das ist das gesellschaftlich akzeptierte arbeitslose Einkommen. Und große Reichtümer kann man nicht erarbeiten. Weniger akzeptiert ist sonderbarerweise das arbeitslose Einkommen der Leute, die keinen Job bekommen – da hat man gleich eine „Sozialschmarotzer“-Diskussion.
Wie ist das bei den Erwerbstätigen?
Dort gibt es riesige Bandbreiten. Bei den Selbstständigen gibt es unter anderem Ein-Personen-Unternehmen mit niedrigem Einkommen, die sich trotz sehr viel Arbeit schwer über Wasser halten können. Zu den Unselbstständigen zählen auch die „Working Rich“, etwa Vorstandsmitglieder mit Millioneneinkünften. In Österreich gibt es einen zaghaften Versuch, Jahreseinkommen über 500.000 Euro nicht mehr als Betriebsausgabe anzuerkennen, weil es de facto Anteil am Gewinn ist. Auf der anderen Seite stehen die Niedriglöhne, die Armutslöhne. Und dann ist da noch der große Bereich der Erwerbslosigkeit: Wir haben die höchste Arbeitslosigkeit seit den 1950er-Jahren.
Welche Möglichkeiten der Umverteilung gibt es noch?
Man könnte die Arbeitszeit betrachten. Es liegt nahe, die Arbeitszeit zwischen denen, die sehr lange arbeiten, und denen, die bei der Erwerbsarbeit auf null gesetzt sind, umzuverteilen – also den gesellschaftlichen Reichtum zur Arbeitszeitverkürzung zu nutzen und so in Zeitwohlstand zu verwandeln. Österreich hat insgesamt lange und in Teilbereichen sehr lange Arbeitszeiten. Lange Arbeitszeiten machen krank, das ist arbeitsmedizinisch deutlich nachgewiesen und nicht nur unter dem Gesichtspunkt des menschlichen Leids höchst problematisch, sondern auch in Bezug auf die Kosten, die im Sozial- und Gesundheitssystem entstehen. Insofern sollte man diskutieren, was man für mehr Zeitwohlstand tun kann.
Wie stellen Sie sich das vor?
Die Möglichkeit, in Kollektivverträgen für Zeit anstelle von Gehalts- und Lohnerhöhungen zu optieren, ist ein erster Schritt. Man muss sich das aber leisten können. Diejenigen, die Schwierigkeiten haben, ihre Miete zu zahlen und die Wohnungen zu heizen, können das natürlich nicht. Bei denen, die besser verdienen, ist die Präferenz für mehr Zeit aber sehr verbreitet. Es wäre denkbar zu sagen: Wir machen eine spürbare Arbeitszeitverkürzung bei gleichbleibendem Einkommen – und das soll bewusst zu einer Umverteilung von oben nach unten in der Vermögens- und Einkommensskala führen, auch mit begleitenden Umstellungen bei den Steuern und den Sozialabgaben.
Blickt man nach Lampedusa, nähert sich da die Ungleichheit in menschlicher Form. Stehen wir unter Druck, bei der Umverteilung global zu denken?
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Wir können uns nicht mit Scheuklappen auf Österreich beschränken. Ich würde im ersten Schritt auf Europa schauen: Was hat die Politik hier an Katastrophen verursacht in den sogenannten Krisenländern? Was hat sie mit verursacht an Arbeitslosigkeit, Armut, Verlust von Lebensperspektiven bis hin zum Anstieg von Selbstmordraten? Da braucht es eine europäische Perspektive, eine europäische Solidarität. Die nationalistischen Tendenzen zeigen sich darin, dass in den Medien von „Pleite-Griechen“ geschrieben wurde oder diskutiert wird, ob Menschen aus anderen Mitgliedsstaaten Anspruch auf soziale Leistungen haben sollen. Sie gipfeln in rassistischen Handlungen, wenn wie in Frankreich Roma ausgewiesen werden. Die europäischen und globalen Verflechtungen sind sowohl in wirtschaftlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht so stark, dass es keinen Sinn hat, Ungleichheit nur in einem Land zu betrachten. Für alle Themen gilt: Uns sollte die Situation in Spanien und Griechenland genauso interessieren wie die in Kärnten und Vorarlberg.
Und die globale Perspektive? Afrika, aber auch der Nahe Osten liegen vor unserer Haustür.
Die globale Ebene ist auch enorm wichtig, weil im Süden massive Armut zu finden ist und dort die Unterschiede noch viel größer sind. Das wirft wiederum die Frage auf: Welche Effekte haben europäische Politik, Handelspolitik oder die Subventionierung der Landwirtschaft in dem Zusammenhang? Hier werden z. B. in Afrika Lebensgrundlagen zerstört. Viele Menschen, die deshalb mit Booten nach Europa flüchten, lassen auf dem Weg ihr Leben. Und dann wird über Frontex versucht, diese Menschen draußen zu halten – insgesamt also eine zynische Politik.
Der Zwang zur Gewinnmaximierung scheint weit gediehen zu sein, Konzerne scheinen weiter an Macht zu gewinnen. Herrscht hier nicht schon ein Gefühl der Ohnmacht in der Bevölkerung?
Natürlich gibt es ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, weil die großen Konzerne deutlich mehr Macht haben als – vor allem kleinere – Nationalstaaten. Die EU könnte ein Gegengewicht bilden, wenn sie nicht durch Lobbyismus und Einfluss der Konzerne am Gängelband dieser Wirtschaftsinteressen hinge. Es wird aber auch massiver Widerstand gegen weitere Verschlechterungen geleistet, beispielsweise in der Diskussion um TTIP (Anm.: das geplante Freihandelsabkommen mit den USA). Und es gibt einen starken Widerstand der Zivilbevölkerung und einzelner Regierungen, die etwas bewirken können. Man hört jetzt weniger von Protestbewegungen wie Occupy, aber diese Bewegungen haben Zulauf bekommen. Sie sind auch Bewegungen für mehr Demokratie und dafür, dass man das Leben wieder selber in die Hand nehmen kann.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
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Von Das Interview führte Alexandra Rotter für Arbeit&Wirtschaft
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/14.
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