Der (hohe) Preis des Fortschritts

Lang vorbei sind die Zeiten, in denen die Medizin in die Bereiche der Esoterik und Magie hineinreichte. Statt Wunderheilungen stehen heute hochmoderne Apparate wie Computertomografen und Hightech-Medikamente zur Verfügung. Aber der Fortschritt hat natürlich seinen Preis. So ist in der Pharmaindustrie viel Geld zu verdienen – aber auch zu verlieren. Die Kosten für die Entwicklung eines innovativen Medikaments betragen heute laut dem „Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz“ über eine Milliarde Franken (rund 800 Millionen Euro). Es können aber auch schon einmal 1 bis 1,5 Milliarden Euro werden, über die genauen Zahlen geben die einzelnen Unternehmen nicht gerne Auskunft.

Drastisches Beispiel

Ein drastisches Beispiel bietet „Sovaldi“, ein Medikament, das gegen Hepatitis C eingesetzt wird – eine einzige Tablette kostet an die 1.000 Euro, die rund zwölfwöchige Therapie kommt somit auf 84.000 Euro. Nicht jede Arznei ist so teuer, dennoch müssen die EndverbraucherInnen dafür aufkommen – oder wie im Falle Österreichs die Krankenkassen. Im Jahr 2012 gab die soziale Krankenversicherung rund drei Milliarden Euro für Arzneimittel aus. Die Gesamtausgaben lagen bei rund 15,2 Milliarden Euro, Medikamente machen somit ein Fünftel der Gesamtausgaben aus. Zugleich sind sie der drittgrößte Posten. Die erste und zweite Stelle nahmen 2011 Spitalsbehandlungen mit rund 4,5 Milliarden (29 Prozent) und ärztliche Hilfe mit etwa 3,7 Milliarden (24 Prozent) ein. 2008 lagen die Ausgaben für Medikamente noch bei 2,53 Milliarden Euro oder 400 Euro pro VersicherungsnehmerIn, bis 2012 stiegen sie auf 411 Euro pro Kopf an. Ein Mehraufwand von 500 Millionen Euro innerhalb von vier Jahren ist keine Kleinigkeit, wobei Jutta Piessnegger vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger zu bedenken gibt, dass die Kosten durch den vermehrten Einsatz von Generika noch gebremst wurden. Die Abteilungsleiterin für den Bereich „Vetragspartner Medikamente“ bestätigt, dass „signifikant mehr“ teure Medikamente auf den Markt kommen und somit mit einer stärker steigenden Kostenbelastung für die Krankenkassen zu rechnen ist.
Wie groß der Anteil des medizinisch-technischen Fortschritts nun an der Gesamtbelastung für das heimische Gesundheitssystem ist, kann laut der Health-Care-Expertin Maria M. Hofmarcher-Holzhacker nicht befriedigend beantwortet werden – es fehlen detaillierte Studien zu dem Thema. Unterschiedlichen Schätzungen und Berechnungsweisen für Wohlfahrtsstaaten zufolge trägt die medizinische Weiterentwicklung aber 40 bis sogar über 65 Prozent zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen bei.
Wie lässt sich nun gegensteuern, ohne die Versorgungsqualität zu gefährden? Experten meinen: Es gilt, schon bei der Diagnose anzusetzen. So gibt es PatientInnen, die unter somatoformen Störungen leiden, das heißt, sie weisen körperliche Beschwerden auf, die sich nicht oder nicht hinreichend mit einer organischen Erkrankung erklären lassen. Das führt dazu, dass sich diese Menschen immer wieder hochtechnisierten (und teuren) Untersuchungen unterziehen, um der scheinbar unerfindlichen Ursache auf den Grund zu kommen. Dabei wird an der falschen Stelle gesucht, nämlich nach organischen und nicht nach psychischen Beeinträchtigungen. Krankenhaus-Ärzte berichten in diesem Zusammenhang, dass es immer wieder vorkommt, dass PatientInnen brandaktuelle Befunde verbergen, um sich erneut der gleichen Untersuchung zu unterziehen, die bereits wenige Tage zuvor in einem anderen Spital vorgenommen worden war. Hier tut eine ausführliche Beratung not, die auch nicht gratis ist, aber solche Mehrfachkosten verhindern kann.

Eine Frage der Ethik

Thomas Sycha, Facharzt für Neurologie, hat sich intensiv mit dem Thema Health-Care-Management auseinandergesetzt. Der Experte sieht einen weiteren springenden Punkt: „Die Frage ist, inwiefern der Kostenaufwand zum Nutzen in Relation steht. Das heißt, wie stark profitiert der Patient oder die Patientin wirklich von teuren Behandlungsmethoden? Wird die Lebensspanne deutlich gesteigert und wird dabei auch die Lebensqualität verbessert?“ Nehmen wir zum Beispiel ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, die es durch Aktionen zahlreicher Prominenter aktuell zu einiger Popularität gebracht hat. ALS-PatientInnen müssen über viele Monate hinweg das Medikament Rilutek einnehmen, das Kosten und Nebenwirkungen verursacht, um eine Lebensverlängerung von wenigen Wochen zu erreichen – wobei hier die Fragen der Lebensqualität und der PatientInnenwünsche noch gar nicht berücksichtigt sind. Wäre es also nicht sinnvoller, das Geld in andere Bereiche zu transferieren, die in Summe mehr Nutzen bringen können? „Natürlich befinden wir uns hier in einer ethischen Diskussion, die aber erlaubt sein sollte. So fehlt es an Mitteln für präventive Maßnahmen wie die Förderung von Sport und Aufklärungsarbeit im Gesundheitsbereich. Mehr Wissen erleichtert die sogenannte Lifestyle-Modifikation, also Gesundheitsvorsorge durch eine gezielte Abstimmung bzw. Änderung des Lebensstils“, meint Sycha.

Limitierte Mittel

Der Mediziner fordert deshalb eine ehrliche Diskussion: „Österreich verfügt über ein hervorragendes, aber teures Gesundheitssystem. Die Politik definiert Gesundheit gerne als ,höchstes Gut‘ – auch aus Angst, Wahlen zu verlieren. Die Wahrheit ist aber: Selbst wenn Gesundheit das höchste Gut ist, sind die Mittel auch in diesem Bereich limitiert.“ Sycha spricht sich deshalb für einen breiten Diskurs aus, in dem eruiert wird, wie viel die Gesellschaft bereit ist, für die Gesundheit auszugeben, welche Mittel vorhanden sind und in welchen Bereichen sie sinnvoll eingesetzt werden sollen. „Diese Diskussion sollte nicht nur zwischen Ärzten und Ökonomen ablaufen, sondern die gesamte Gesellschaft miteinbeziehen. Natürlich vor allem die PatientInnen“, so der Mediziner. Er selbst plädiert dabei klar für den Ausbau der Gesundheitsvorsorge, die seiner Meinung nach derzeit zu wenig gefördert wird: „PolitikerInnen denken kurzfristig und in Legislaturperioden, präventive Maßnahmen zeigen aber erst nach vielen Jahren oder Jahrzehnten Auswirkungen, deshalb wird dieser Bereich vernachlässigt.“
Wie Sycha gehen viele ExpertInnen davon aus, dass ohne explizite Beteiligung der Betroffenen, also der PatientInnen, eine Eindämmung der Kosten von Apparatemedizin und aufwendiger Medikamentation nicht möglich ist. Außerdem geht die Behandlung nicht selten am Wohl der PatientInnen vorbei. Ein anschauliches Beispiel: MedizinerInnen definieren den Erfolg einer antiepileptischen Therapie über die Anfallsfreiheit der PatientInnen.
Umfragen der Cochrane Collaboration bei betroffenen PatientInnen und Angehörigen haben aber ergeben, dass sie natürlich die Anzahl der Anfälle reduzieren wollen. Noch wichtiger ist ihnen allerdings, aktiv am Alltag teilnehmen zu können. Das wird aber durch Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Schwindel etc., die durch alle Antiepileptika hervorgerufen werden können, massiv erschwert. Schlussfolgerung: Wenn nicht nach den Präferenzen der PatientInnen gefragt wird, führt auch die teuerste Behandlung nicht zum Ziel.
Das bringt uns zu einem – vielleicht brutal anmutenden – Gedankenexperiment: Die Krebs-Therapie für eine Patientin/einen Patienten im fortgeschrittenen Stadium ohne Heilungsaussicht kostet um die 100.000 Euro – mit dem Effekt, dass die Lebenserwartung um einige Wochen bis Monate steigt. Wie würde sich der/die PatientIn entscheiden, wenn ihm/ihr statt der Behandlung ein Großteil der Summe zur freien Verfügung gestellt würde? Der/die Erkrankte könnte sie zum Beispiel an Angehörige vererben, spenden oder einen letzten Lebenstraum verwirklichen. Der Differenzbetrag auf 100.000 Euro könnte wiederum an anderer Stelle verwendet werden, zum Beispiel für begleitende Maßnahmen wie Physiotherapie, Ergotherapie, soziale Dienste, Pflege. Wie gesagt, es handelt sich hier nur um ein Gedankenspiel und vielleicht sogar um ein „unmoralisches Angebot“. Kann man Geld mit Gesundheit aufwiegen? In der Realität herrscht hier jedenfalls ein direkter Zusammenhang, auch wenn wir diese „bittere Pille“ nicht so gerne schlucken wollen.

Internet:
Mehr Info unter:
www.euro.who.int
www.bmg.gv.at

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Von Harald Kolerus, Freier Journalist

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 8/14.

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