Arbeit&Wirtschaft: Die ANEP ist heute die auffälligste Gewerkschaft Costa Ricas, die in den Medien breiten Widerhall findet und deren Mitgliedschaft wächst. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?
Albino Vargas: Die ANEP wurde 1958 als Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes gegründet und war in den ersten 20 Jahren sehr stark an den Staat und die sozialdemokratische Partei gebunden. Zwischen 1978 und 1990 war die hohe Zeit der linken Marxisten in unserer Gewerkschaft. Beide Phasen verzeichneten wenig Erfolg. 1990 hat sich ein parteipolitisch unabhängiger Kurs durchgesetzt. Ich wurde 1991 zum Generalsekretär gewählt, von einer Koalition der verschiedenen Flügel. Im Zuge des neuen Kurses haben wir uns 1998 auch für den Privatsektor geöffnet.
Arbeit&Wirtschaft: Mit der parteipolitischen Distanz allein kann sich aber doch das Profil der Gewerkschaft nicht verändert haben?
Albino Vargas: Es hat uns aber den Weg bereitet, gewisse Tabus der Gewerkschaftspolitik in Costa Rica zu brechen. So haben wir inzwischen intensive Kontakte zu den Medien. Die Presse wurde früher immer nur als Feind gesehen, als Sprachrohr der Elite. Natürlich sehen wir ihren Charakter, aber man muss die Spielräume ausnutzen. Man muss natürlich auch etwas Substantielles zu sagen haben. ANEP verfügt über ein ausgezeichnetes Netz von Beratern. Ein Gewerkschaftsführer kann nicht alles wissen. Wir haben viel Geld in die Hilfe unabhängiger Fachleute investiert. Dies hat unsere Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit stark erhöht.
Arbeit&Wirtschaft: Inwieweit hat sich diese neue Politik in der Mitgliederentwicklung niedergeschlagen?
Albino Vargas: Im Jahr 1991 hatten wir 5000 Mitglieder, heute sind es fast 15.000, und das trotz Privatisierung und Angst vor Arbeitslosigkeit. Wir investieren aktuell viel in die Ausbildung der mittleren Funktionäre, damit die Betreuung der Basis stärker wird. Faktisch gibt es allerdings fast nur Gewerkschaften im öffentlichen Dienst, mit einem Organisationsgrad von etwa 60 Prozent. In der Privatwirtschaft beläuft sich die Zahl auf nicht einmal zwei Prozent.
Arbeit&Wirtschaft: Wie erklärt sich dieser eklatante Unterschied?
Albino Vargas: Man soll die Schuld nicht immer bei den Anderen suchen. Hierfür gibt es zunächst historische Gründe. Nach dem Bürgerkrieg von 1948, in dem kommunistische Gewerkschaftsgruppen keine rühmliche Rolle gespielt haben, waren Gewerkschaften diskreditiert und wurden dann für zehn Jahre illegalisiert. Auch die ANEP konstituierte sich 1958 in ihrem Namen nicht als »Gewerkschaft«, sondern als »Vereinigung«. Auf der anderen Seite haben die Sieger des Bürgerkrieges auf eine soziale Entwicklung gesetzt, die viele Menschen befriedigte. Der staatliche Sektor wurde aufgebaut und Gewerkschaften dort toleriert, deshalb haben sie sich darauf konzentriert. Im privaten Sektor des Handels, der Industrie, der Dienstleistungen gibt es folglich keinerlei Gewerkschaftstradition.
Arbeit&Wirtschaft: Aber in den Bananenplantagen gibt es doch eine ganze Reihe an Gewerkschaften?
Albino Vargas: Das stimmt, aber die Anzahl der Gewerkschaften sollte nicht mit einem hohen Organisationsgrad verwechselt werden, den gibt es in den Bananenplantagen auch nicht. Doch hier hat es harte Kämpfe gegeben, und die Kollegen haben sich der internationalen Solidarität und einer breiten gesellschaftlichen Vernetzung in Costa Rica bedient. Das ist bei uns sonst nicht üblich.
Arbeit&Wirtschaft: Warum hat also die Öffnung der ANEP für den Privatsektor noch nicht viele Früchte getragen?
Albino Vargas: Ich sage immer: Das Wort Gewerkschaft ist in der Privatwirtschaft Costa Ricas ein Synonym für Entlassung. Natürlich sind diese Entlassungen illegal, aber wer den Rechtsweg bestreiten will, benötigt bis zur Entscheidung mindestens fünf Jahre. Selbst wenn er dann Recht bekommt, seine Entlassung wegen gewerkschaftlicher Aktivität als illegal erklärt wird, ist die Firma verschwunden oder läuft unter einem anderen Namen. Es gibt eine doppelte Moral in Costa Rica. Auf der einen Seite fordert unsere Regierung andere Staaten der Region zu demokratischen Reformen auf, auf der anderen Seite kann sie den Schutz der Menschenrechte ihrer eigenen Bürger nicht garantieren. Angesichts der Angst vor Entlassungen gibt es natürlich auch nicht viele Initiativen der Menschen.
Arbeit&Wirtschaft: Welche Perspektiven sehen Sie von daher für ANEP im Privatsektor?
Albino Vargas: Es kommen mehr und mehr Leute, um bei uns Unterstützung zu suchen. Sie haben über uns in der Presse erfahren und suchen Unterstützung. Die meisten Beschwerden richten sich gegen enorme Überstunden, den Arbeitsdruck und willkürliche Lohnkürzungen. So entstanden in den letzten Jahren kleine Gewerkschaftsgruppen in optischen Werkstätten, mittelgroßen Autoreparaturwerkstätten, einer Röhrenexportfirma und Abott, einem Hersteller medizinischer Geräte mit Sitz in den USA.
Interessant ist ein neues Projekt, in dem wir mit der internationalen Textilarbeitergewerkschaft arbeiten. Es ist eine mittelamerikaweite Initiative, die auf die vielen Maquiladora-Weltmarktfabriken zielt, in denen Gewerkschaften fast immer unterdrückt werden. Wir haben diese Projekt über zwei Jahre intensiv vorbereitet, und es läuft gerade an.