Dann klappt’s auch mit dem Nachbarn

Tonnen von Papier werden jedes Jahr von hochbezahlten Spezialistinnen und Spezialisten zum Thema Weiterentwicklung der europäischen Integration produziert. Und dann wird darüber in den europäischen Institutionen, aber auch in den Regierungsstellen europäischer Hauptstädte nachgedacht und diskutiert.

Dabei entsteht auch die eine oder andere gute und umsetzbare Idee. Wenn es aber um die tatsächliche Realisierung konkreter europäischer Zusammenarbeit geht, dann braucht es vor allem jene, die sie tagtäglich in die Tat umsetzen, jene, die Europa schon gelebt haben, lange bevor die EU 28 Mitgliedsstaaten hatte. Das sind in diesem Fall die vielen GewerkschafterInnen, die seit Jahrzehnten über die Grenze geschaut haben, jene Menschen, die stets offen auf die Kolleginnen und Kollegen im Nachbarland, in der Nachbarregion zugegangen sind. Dafür brauchten sie auch keine theoretischen Abhandlungen: Es war und ist diesen Kolleginnen und Kollegen klar, dass die Welt nicht an einer Grenzmarkierung endet, und selbst der lange existierende Eiserne Vorhang stellte im nachbarschaftlichen Dialog kein unüberwindliches Hindernis dar. Ein schöner spätherbstlicher Tag im slowenischen Ort Slovenj Gradec, die Blätter sind schon fast alle von den Bäumen gefallen und die spärlichen Sonnenstrahlen erhellen das kleine Wirtshaus. So schäbig es von außen wirkt, so schön und wohlig ist es in der Gaststube. Es ist das Stammlokal der Arbeiterschaft und wie einst, hängt noch immer wachsam blickend ein Bild von Präsident Tito über der Schank.

Hier treffen sich die slowenischen Gewerkschaftsregionalsekretäre Loize und Romana mit ihren Kollegen vom ÖGB, Heinrich und Martin, sowie dem Triester Gewerkschaftssekretär Roberto. Die Begrüßung verläuft betont freundlich, man umarmt sich und küsst, man verwendet ein paar Brocken von der Sprache des jeweils anderen und beginnt die Sitzung mit einem Espresso.

Gemeinsame Ideen und Lösungen

„Unsere Bauarbeiter haben Probleme mit ihren Kärntner und steirischen Arbeitgebern“, beginnt Kollegin Romana, „vor allem glauben wir, dass euer Kollektivvertrag nicht respektiert wird. Auch müssen immer wieder Arbeitnehmer lange auf ihre Gehälter warten. Wir ersuchen euch um Beratung für unsere Leute.“ Sofort reagiert der Kärntner Kollege: „Wir haben schon von diesen Problemen durch unsere Baugewerkschaft gehört. In vielen Fällen könnten wir helfen, es gibt aber leider oft ein Sprachproblem“, meint Martin, um gleich mit einem konkreten Vorschlag fortzufahren: „Würdet ihr mithelfen wenn wir eine kurze Information über Grundlagen des Arbeits- und Sozialrechts sowie einen Überblick über den Kollektivvertrag für slowenische Bauarbeiter in Österreich produzieren würden?“ Romanas Antwort kommt sofort und frei von Zweifel: „Natürlich!“ In den ständig wechselnden Verhandlungssprachen Deutsch und Englisch werden an diesem Nachmittag noch viele andere Ideen und konkrete Lösungen besprochen. So wollen sich auch die italienischen Kolleginnen und Kollegen an einer solchen Broschüre beteiligen. Auch in Triest und seinem Umland steigt seit Beginn der Wirtschaftskrise in Slowenien die Zahl der Arbeitsuchenden aus dem Nachbarland. Die italienische Regionalregierung erkennt die Wichtigkeit des Interregionalen Gewerkschaftsrates (IGR) zwischen der Region Friaul-Venetien und der slowenischen Seite und unterstützt die Aktivitäten mit jährlich immerhin 40.000 Euro. „Davon“, meint der steirische Kollege, „können wir nur träumen.“

Interregionales Handeln

Beim erwähnten Treffen in Slowenien waren drei verschiedene Interregionale Gewerkschaftsräte dabei. Neben dem italienisch-slowenischen waren es noch die IGR Steiermark/Podravje-Pomurje und Kärnten/Gorenjska-Koroska. In ganz Europa gibt es knapp 50 dieser vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) anerkannten Gremien. Geografisch finden sich die IGR vom südlichsten Rat zwischen Sizilien und Malta bis hinauf an den Polarkreis, wo die finnischen, schwedischen und norwegischen GewerkschafterInnen kooperieren. Österreich ist mit seinen neun IGR „Europameister“. Jedes Bundesland mit Ausnahme Wiens hat eine permanente grenzüberschreitende Gewerkschaftskooperation.

Wie die Arbeit in den Gremien auszusehen hat, ist nicht genau geregelt. Manche IGR geben sich ambitionierte Jahresarbeitsprogramme, andere treffen sich einfach fallweise. Für alle IGR gilt allerdings, dass die persönlichen Kontakte ausschlaggebend sind. Wie immer haben die zwischenmenschlichen Beziehungen star-ken Einfluss auf die Intensität der Zusammenarbeit auch im gewerkschaftlichen Bereich. Beim Treffen in Slowenien konnte man spüren, wie gut sich die Personen kennen, und vor allem, mit welchem Enthusiasmus sie sich neuen Herausforderungen stellen.

Szenenwechsel: Blicken wir nach Norden. Die Zusammenarbeit zwischen den tschechischen Gewerkschaften Südmährens und jenen in Niederösterreich gab es schon lange vor der Öffnung der Grenzen. Auch der Kommunismus konnte den guten Beziehungen nichts anhaben. Darauf angesprochen meint Stanislava, die Landessekretärin der Tschechisch-Mährischen Konföderation der Gewerkschaften (ČMKOS): „Auf beiden Seiten sind es vor allem Weingebiete, die den Regionen einen Stempel aufgedrückt haben. Und es ist ja auch kein Geheimnis, dass der Wein einen sehr verbindenden Charakter hat.“

So einfach ist es natürlich nicht. Hinter den engen Kooperationen stecken viel Arbeit und zahlreiche EU-geförderte Projekte, die Niederösterreich und Südmähren in den letzten zehn bis zwölf Jahren einander noch näher gebracht haben. Da gab es große Kooperationsvorhaben unter bezeichnenden Namen wie „Gemeinsam erweitern“ (vor dem EU-Beitritt Tschechiens), „Grenzraum aktiv“ oder „Zukunftsraum Wien-Niederösterreich-Südmähren“. Dabei wurden unzählige Seminare, Konferenzen, Betriebsbesuche, Branchentreffen, Sprachkurse, Lehrlingswettbewerbe und nicht zuletzt eine sehr effektive Rechtsberatung in tschechischer Sprache durchgeführt. Gerade die rechtliche Hilfeleistung für tschechische ArbeitnehmerInnen in ihrer Muttersprache hatte sich bewährt. Nachdem keine Fördergelder mehr zur Verfügung standen, musste sie allerdings nach fünf Jahren eingestellt werden. In diesem Zeitraum konnte mindestens 6.000 Tschechinnen und Tschechen geholfen werden. Sei es, um ihre Rechtsansprüche in Österreich geltend zu machen oder sie einfach nur vor Arbeitsantritt in Österreich über die bestehende Rechtssituation zu informieren. Hunderte Menschen konnten aus der Schwarzarbeit herausgeführt werden und ebenso viele falsche Kollektivvertragseinstufungen wurden – nach Urgenz durch den ÖGB – korrigiert. Angesprochen auf die Frage, wie es ohne EU-Förderungen weitergehen soll, zeichnet der niederösterreichische Gewerkschaftssekretär Norbert ein dennoch optimistisches Bild: „Wir werden auf keinen Fall die Zusammenarbeit über die Grenze abbrechen. Zu viel steht für beide Seiten auf dem Spiel. Die Region ist schon längst zu einer gemeinsamen geworden, denn der Raum zwischen Brünn und Wien kennt heute keine Hindernisse mehr. Wir geben daher nicht auf und planen für 2015 wieder ein gemeinsames Projekt.“

Positive Stimmung

Die durchwegs positive Stimmung herrscht in den meisten IGR vor. Während man in Brüssel oft ratlos über Europas Zukunft diskutiert, pessimistisch vom Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten und nationaler Unterschiede philosophiert, sind die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in unseren Grenzregionen in ihrem Handeln ganz zielbewusst. Sie müssen „ihr“ Europa nicht erst suchen, es liegt nämlich vor ihrer Haustür. Für sie gibt es schon längst keine Grenzen mehr und nur ein, nämlich unser gemeinsames, Europa.

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Von Marcus Strohmeier, Internationaler Sekretär des ÖGB, Leiter des internationalen Referats

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 1/14.

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