Bruch des EU-Vertrages

Zur Person
Harald Schumann ist Redakteur der deutschen Zeitung „Tagesspiegel“. Dort beschäftigt er sich mit Fragen der wirtschaftlichen Macht und den Folgen von Globalisierung und Europäisierung. Von 1984 bis 1986 war er Redakteur bei der „tageszeitung“, von 1986 bis 2004 arbeitete er für den „Spiegel“. Bekannt wurde Schumann Ende der 1990er-Jahre mit dem Bestseller „Die Globalisierungsfalle“. Im Jahr 2013 wurde die Fernsehdokumentation „Staatsgeheimnis Bankenrettung“ ausgestrahlt. Die Dokumentation wurde mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie „Beste Reportage“ ausgezeichnet. Seine neueste Dokumentation widmet sich der Troika.

 

Arbeit&Wirtschaft: Ihre Dokumentation über die Troika hat im Titel den Zusatz: „Macht ohne Kontrolle“. Sie kritisieren diese als undemokratisch. Warum?

Harald Schumann: Die Troika, also der Verbund aus IWF, EZB und EU-Kommission, ist in keinem europäischen Vertrag und auch nicht in der EU-Verfassung vorgesehen. Ihre Arbeit fußt lediglich auf einer Vereinbarung zwischen den Regierungen. Das heißt, alles, was die Beamten der Troika tun, geschieht juristisch gesehen außerhalb des Vertrags der Europäischen Union und ihrer Institutionen.

Nun könnte man auch sagen: Die Regierungen wurden demokratisch gewählt, somit erfolgt die demokratische Kontrolle auf diesem Weg. Das Problem ist, dass diese Beamten niemandem gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet sind – außer den Ministern der Euro-Gruppe. Wir haben also eine Gruppe von Beamten, die viel Macht ausüben, sich aber gegenüber keinem Parlament rechtfertigen müssen. Kein Parlament kann sie herbeizitieren und Anweisungen geben. Sie werden auch von keinem Rechnungshof überprüft.

Dazu kommt, dass sich die Parlamentarier der nationalen Parlamente für die Details der Programme und vor allem für deren Konsequenzen weder interessiert haben noch sich verantwortlich fühlten, als die Folgen sichtbar wurden. Ich kann mich nicht erinnern, dass es irgendeine relevante, auch nur denkbare Mehrheit im Deutschen Bundestag gegeben hätte, die sich dafür verantwortlich fühlte, dass in Griechenland ein Viertel der Bevölkerung inzwischen keine Gesundheitsversorgung mehr hat. Vielmehr sagen sie: Da sind die Griechen schuld, sollen sie doch sehen, wie sie damit klarkommen. Dass genau das das Ergebnis einer völlig überzogenen Kürzungspolitik ist, der auch sie zugestimmt haben: Dafür haben sich die meisten Parlamentarier in Deutschland oder in den anderen Ländern nicht verantwortlich gefühlt. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass das Europäische Parlament diese Notmaßnahme aus dem Frühjahr 2010 bis heute zulässt. Ich kann ja sogar noch nachvollziehen, dass man sich am Anfang gesagt hat: „Okay, man muss jetzt ganz schnell handlungsfähig werden.“ Aber das Europäische Parlament hätte sagen müssen: „Das ist ein Ausnahmezustand, und spätestens nach drei Monaten müssen wir in einen Zustand kommen, wo Beamte normaler demokratischer Kontrolle unterliegen.“ Stattdessen haben wir einen gigantischen exekutiven Apparat ohne jegliche parlamentarische Kontrolle! Dass das Europäische Parlament mit seiner konservativen, liberalen Mehrheit einfach hinter der Gruppe der Euro-Finanzminister hergedackelt ist, um dann nach viereinhalb Jahren einen ein bisschen kritischen Bericht zu machen, wo sie sagen: „Eigentlich war das alles illegal“ – und dann aber aus dem Bericht überhaupt keine Konsequenzen zu ziehen: Das zeigt, dass sie sich selbst als Parlamentarier nicht ernst nehmen. In jedem anderen Job würde eine derartige Arbeitsverweigerung mit fristloser Kündigung geahndet.

Die von der Troika geforderten Maßnahmen erinnern an die Politik des IWF in den 1990er-Jahren, deren negative Folgen schon damals Josef E. Stiglitz kritisiert hat. Hat man daraus nichts gelernt?

Das ist ja das Erstaunliche: Als der IWF nach Europa geholt wurde, gab es von Anfang an sehr verschiedene Meinungen darüber, wie man mit der Krise umgehen müsste. Die Expertengruppe vor Ort hat zum Beispiel gesagt: Griechenland ist so überschuldet, dass man einen Schuldenerlass machen muss, bevor man mit der Sanierung anfängt, um die Gesamtlast zu senken und auch sicherzustellen, dass das Land eine Perspektive hat. Darüber haben sich die Europäer und die Amerikaner gemeinsam hinweggesetzt, weil ihnen die Stabilität der europäischen Banken wichtiger war als Griechenland.
Neuere Forschungsergebnisse des IWF legen zudem nahe, dass die gesamte Konzipierung der Programme falsch ist. Da heißt es zum Beispiel: Es gibt keinen empirischen Beleg dafür, dass Arbeitsmarktliberalisierung die Produktivität erhöht. Genau das ist aber eine der zentralen Annahmen für die Strukturprogramme. In einer Evaluation hat der IWF auch eingeräumt, dass die Austeritätsauflagen für Griechenland viel zu ambitioniert waren und mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht haben. Aber weder EU-Kommission und EZB noch IWF waren bereit, Konsequenzen daraus zu ziehen. Öffentlich demonstrierte Lernunfähigkeit könnte man das nennen. Die Europäische Kommission etwa hat diesen Bericht einfach zurückgewiesen und gesagt: Das sei falsch, ohne es zu belegen.

Zurück zur demokratischen Legitimation der Troika: Worin besteht der Verstoß gegen die EU-Verfassung?

Das bezieht sich vor allem darauf, dass die Aufgabe der Beamten der Kommission darin besteht, den EU-Vertrag zu hüten und zu verteidigen. Im EU-Vertrag steht unter anderem, dass die europäischen Institutionen für die Lohnfindung in den Mitgliedstaaten keinerlei Zuständigkeit haben. Als Troika-Beamte mischen sie sich aber ein und verfügen, dass Tarifverträge ungültig gemacht werden oder bisher geltende Regelungen zurückgefahren werden. Es gibt sogar interne Arbeitspapiere, in denen die Kommission ganz offen formuliert, dass sie starke gewerkschaftliche Verhandlungsmacht für ein Wachstumshindernis hält und diese deswegen zu schwächen sei. Das halte ich für einen Verstoß gegen den EU-Vertrag. Herr (Thomas, Anm.) Wieser hat das als Präsident der Euro-Gruppe ganz offen erklärt: Wenn der gleiche Beamte, der aus Steuergeldern auf Basis des EU-Vertrages bezahlt wird, für die Finanzminister der Euro-Gruppe unterwegs ist, dann ist er an den europäischen Vertrag nicht mehr gebunden. Das ist eine aberwitzige Konstruktion – und im Grunde auch eine Selbstentlarvung, weil es bedeutet, dass aus Steuergeldern bezahlte Beamte der EU-Kommission im rechtsfreien Raum tätig sein können. In Portugal hat das Verfassungsgericht nicht weniger als acht Mal geurteilt, dass Kürzungsmaßnahmen wegen der ungerechten Lastenverteilung verfassungswidrig sind. Das führte im Übrigen dazu, dass die Portugiesen ihren Staatshaushalt wesentlich langsamer konsolidiert haben und deshalb die Rezession nicht so schlimm war. Dass sich Portugal wieder erholt hat, ist also keineswegs auf eine Einsicht der Kommission zurückzuführen, sondern im Gegenteil: In einem internen Bericht haben die Kommissionsbeamten die Verfassungsrichter sogar als Politaktivisten in eigener Sache bezeichnet. Das muss man sich noch mal auf der Zunge zergehen lassen! Man sollte sich vorstellen, die EU-Kommission würde sich trauen, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe als Politaktivisten zu bezeichnen: Die Beamten, die das verfasst hätten, hätten keinen Monat länger ihren Job. Aber beim kleinen Portugal oder Griechenland können sie diese Arroganz der Macht haben, weil die sich dagegen nicht wehren können.
Auch in Griechenland hat der Oberste Gerichtshof Troika-Maßnahmen für rechtswidrig erklärt. Als jetzt die neue Regierung gesagt hat, dass sie die rechtswidrigen Entlassungen rückgängig machen will, wurde ihr vorgeworfen, sie würde die alten Reformen zurückfahren. Offenbar kümmern sich die Troikaner um die Urteile der höchsten Gerichtshöfe nicht. Mit anderen Worten: Diese Herren – es handelt sich leider überwiegend um Herren – haben irgendwie ein gebrochenes Verhältnis zum Rechtsstaat.

Sie schreiben, die Notkredite dienten dazu, private Gläubiger auf Kosten der Steuerzahler von ihren Fehlinvestitionen freizukaufen. Haben wirklich nur sie davon profitiert?

Bevor die Kreditprogramme einsetzten, hatten die Krisenländer Schulden bei privaten Investoren und Banken, konnten diese aber nicht mehr bezahlen. Daraufhin sprangen die Steuerzahler aus den anderen Eurozonen-Ländern ein und gaben Kredit, damit die auslaufenden Anleihen und Kredite bedient werden konnten. Also wurden die früher privaten Gläubiger durch öffentliche Gläubiger ersetzt.

Sind also die privaten Gläubiger an allem schuld?

Die privaten Gläubiger tragen die Hälfte der Verantwortung. Das ist in der Marktwirtschaft so: Wenn ich in eine Firma investiere und die Firma geht pleite, dann ist das mein Problem. Wenn ich nun in einen Staat investiere und der Staat geht pleite: Wessen Problem ist es, jenes der Steuerzahler in den anderen Euro-Staaten? Es war natürlich ein gigantisches Risiko. Ich weiß nicht, wie ich mich als Finanzminister im Jahre 2010 entschieden hätte, wenn ich gesehen hätte: Deutsche Banken haben in Griechenland insgesamt 65 Milliarden Euro im Feuer. Bei den französischen Banken waren es sogar 70 Milliarden Euro.

Die Verlogenheit bestand darin, nicht zu sagen: „Wir geben Griechenland Kredit, damit unsere Banken nicht zusammenbrechen.“ Vielmehr hat man den Wählern gesagt: „Wir geben Griechenland Kredit, weil wir so europäisch solidarisch sind.“ Das war aber ein Bruch des EU-Vertrages. Dieser sagt ausdrücklich, dass sich die Euro-Staaten gegenseitig finanziell nicht beistehen dürfen. Genau das musste man aber tun, um das Bankensystem zu retten. Um das den Wählern zu verkaufen, wurde diese Lüge von der Solidarität und der Hilfe, aber nur gegen Auflagen und Reformen verbreitet. Das war von Anfang an verlogen und Heuchelei! Es ging von Anfang an darum, diese Länder zahlungsfähig zu halten, um das Bankensystem zu stabilisieren.
Allerdings: Wenn man das öffentlich und ehrlich gesagt hätte, hätte das natürlich eine automatische Frage nach sich gezogen: Wer sind denn da die Begünstigten? Wem wird denn da bei seinen Fehlinvestitionen geholfen? Offensichtlich ja doch den Vermögenden, Spekulanten und den Banken, die griechische Anleihen von einer unseriösen Regierung gekauft haben – von der man spätestens seit den Olympischen Spielen wusste, dass sie überschuldet ist, sprich seit 2004. Wenn das rausgekommen wäre, hätte man festgestellt: Moment mal, wir retten nicht die Griechen, sondern wir retten eigentlich nur die reichen Investoren, die dort ein paar Basispunkte mehr Zins kriegten.
Dann hätte man sich überlegen können, woher man das Geld für die übernommenen Verluste zurückholen könnte, zum Beispiel durch eine Vermögenssteuer oder eine Finanztransaktionssteuer. Jedenfalls hätte man „Haftung – Verantwortung – Geld zurückholen“ in die richtige Reihenfolge gebracht.

In Ihrer Dokumentation ist von „Plünderungen“ die Rede. Was ist damit gemeint?

Eine der wesentlichen Auflagen der Troika-Programme ist, dass die Staaten den Staatsbesitz innerhalb von kurzen Zeiträumen verkaufen müssen – angeblich, um damit zur Schuldentilgung beizutragen. Tatsächlich führt es in Griechenland und Portugal dazu, dass nationale und internationale Investoren staatliches Eigentum zu extrem niedrigen Preisen erwerben können und damit unglaubliche Gewinne machen. Weil wenn man einen Staat in Verkaufszwang bringt, hat er natürlich eine schlechte Verhandlungsposition. Insbesondere in Griechenland unter der alten Regierung, die aufs Engste mit den Oligarchen und der reichen Elite verbandelt und von ihr finanziell abhängig war, führte es dazu, dass es bei den meisten Verkäufen ganz genau einen Bieter gab – und dieser Bieter war in der Regel ein Konsortium eines der griechischen Oligarchen, gemeinsam mit einem arabischen, chinesischen oder russischen Investor. Das hat eine unserer InterviewpartnerInnen, die jetzige griechische Parlamentpräsidentin, „Plünderungen unserer staatlichen Ressourcen genannt“ – und das ist es auch. Wenn man wertvolle staatliche Assets wie zum Beispiel ein Filetstück im Herzen Athens von der Größe Monacos mit sechs Kilometer Küstenlinie zu einem Drittel des geschätzten Marktwertes an einen griechischen Oligarchen und seine arabischen und chinesischen Freunde verkauft, na ja: Wie nennen Sie das denn?

Dass die EU und die Euro-Zone nicht übereinstimmen und Letztere keine Grundlage im Europäischen Recht hat, scheint ja ein grundlegendes Problem zu sein, für das man auf Dauer eine Lösung finden müsste …

Ich erkenne vor allem nicht die Suche. Es scheint Absicht, weil sich die Herren Finanzminister natürlich in ihrer Rolle als Machthaber, deren Macht über die eigenen Grenzen hinausreicht, ohne dabei von Parlamenten kontrolliert zu werden, sehr wohlfühlen. Darum haben sie gar kein Interesse daran, das zu ändern. Schlimm ist, dass sich das Europäische Parlament das gefallen lässt.
Man hätte längst im Wirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments einen Unterausschuss Euro-Gruppe bilden und sagen können: Wir fordern, dass sich die Euro-Finanzminister bei ihren gemeinsamen Beschlüssen diesem Unterausschuss stellen und sich an dessen Beschlüsse auch gebunden fühlen. Das hätte man fordern können, haben sie aber nicht. 

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Redaktion aw@oegb.at

Von Das Interview führte Sonja Fercher für Arbeit&Wirtschaft.

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/15.

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