Auf den ersten Blick sieht Branko Milanović mehr wie ein gemütlicher Mathematiklehrer aus und weniger wie ein weltweit angesehener Wirtschaftswissenschafter. Der ehemalige Ökonom der Forschungsabteilung der Weltbank ist Ende August Stargast beim Forum Alpbach. Seit über 30 Jahren beschäftigt sich der gebürtige Serbe mit der Verteilung und Ungleichheit von Einkommen. Er wird gerne mit seiner Parademetapher zitiert: „Ungleichheit ist wie Cholesterin.“ Dabei unterscheide man wie beim Cholesterin zwischen guter und schlechter Ungleichheit. Gute Ungleichheit biete den Menschen einen Anreiz, Risiken einzugehen, härter zu arbeiten, mehr zu lernen, um mehr Geld zu verdienen. Sie schaffe Leistungsanreize und kurble die Wirtschaftsdynamik an. Anders liegen die Dinge jedoch bei der schlechten Ungleichheit. Diese festigt bestehende Strukturen und lähmt die Gesellschaft, beispielsweise wird ärmeren Gesellschaftsschichten aufgrund von Geldmangel der Zugang zur Bildung verwehrt. Aber wer ist denn jetzt eigentlich dieser Branko Milanović?
Statistik statt Studentenpartys
Milanović wurde am 24. Oktober 1953 in Belgrad geboren. Bereits relativ früh konnte er sich für soziale Themen begeistern, er entdeckte schnell seine Vorliebe für Zahlen und interessierte sich für soziale Zusammenhänge. Dementsprechend entschied er sich, Wirtschaftswissenschaften zu studieren, und inskribierte an der Wirtschaftsuniversität in Belgrad. Die jugoslawische Teilrepublik Serbien konnte selbst damals eine hohe Wirtschaftswachstumsrate verzeichnen, der gesellschaftliche Wohlstand – auch der seiner eigenen Familie – stieg von Jahr zu Jahr.
Milanović mochte empirische Wirtschaftswissenschaften und spezialisierte sich auf Statistik, bis er es verstand, sein Wissen und Verständnis aus Sozialthemen und Zahlen zu kombinieren.
„Ich habe angefangen, zu überprüfen, ob die paar Einkommensdaten, die ich hatte, mit der Kurve übereinstimmen würden. Damals benutzten wir noch Papier, Stift und Taschenrechner, um die Größe jeder Gruppe und ihren Anteil am Totaleinkommen zu berechnen. Dann wandten wir eine statistische Funktion an, um zu sehen, ob die Zahlen stimmen oder nicht. Es schien mir, dass sich irgendwie das Geheimnis, wie Geld unter den Menschen verteilt wird oder wie Gesellschaften organisiert sind, vor mir offenlegen würde. Ich habe viele Nächte damit verbracht, diese Zahlen durchzugehen. Ich habe das lieber gemacht, als mit Freunden auszugehen.“
1977 schloss Milanović sein Studium an der Wirtschaftsuniversität Belgrad ab und knüpfte mit einem Doktorat an, das er 1987 erfolgreich beendete. In seiner Dissertation behandelte er die Einkommensungleichheit im ehemaligen sozialistischen Jugoslawien – vier Jahre nach seiner erfolgreichen Defensio zerfiel die Sozialistische Föderative Republik. Milanović forschte weiter zur Einkommensverteilung in Osteuropa in der Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zerfall der Sowjetunion. Indem jedoch die Staaten nach und nach der Europäischen Union beitraten, verlor dieses Thema an Bedeutung. Daher begann Milanović, sich der Einkommensverteilung auf globaler Ebene zu widmen.
Rezepte für eine gerechtere Welt
Ab 1990 arbeitete er in der Forschungsabteilung der Weltbank in Washington und beschäftigte sich mit der Analyse von Armut, Ungleichheit und Haushaltsbefragungen. Seit 1996 lehrt er an Universitäten und Hochschulen, so war er als außerordentlicher Professor an der Johns Hopkins University und als College-Park-Professor an der Universität von Maryland tätig. Seit 2014 lehrt er am Graduate Center der City University of New York.
2011 veröffentlichte Milanović sein Buch „The Haves and the Have-Nots“, in dem er in drei Essays und 26 Kurzgeschichten, sogenannten „Vignettes“, einen Überblick über die globale Ungleichheit gibt. Dabei differenziert Milanović zwischen drei Arten der Ungleichheit: zwischen den Bürgern eines Staates, zwischen verschiedenen Nationen und zwischen den Bürgerinnen und Bürgern der Welt.
Im 21. Jahrhundert angekommen sind die Menschen so reich wie noch nie. Global betrachtet beziehen neun Prozent der Weltbevölkerung rund 50 Prozent des Gesamteinkommens, die ärmsten zehn Prozent hingegen nur 0,7 Prozent. Bildlich gesprochen: Um das zu verdienen, was die Reichsten in einem Jahr erarbeiten, müssten die Ärmsten fast 200 Jahre lang arbeiten.
Globale Ungleichheit reduziert
Auch wenn es uns genau gegenteilig erscheint, die derzeitige Entwicklung betrachtet Milanović als positiv. So konnten Indien, China und Indonesien mit einem großen Aufschwung punkten, viele Arme konnten ihre Situation deutlich verbessern. China verzeichnete in den vergangenen 30 Jahren das rasanteste Wirtschaftswachstum eines Landes in der Geschichte, viele Menschen haben den Sprung in die mittlere Gesellschaftsschicht geschafft. Durch diese Faktoren ist die globale Ungleichheit reduziert worden – 50 Prozent der ehemals Armen sind der Armut entkommen.
Sollte sich dieser Trend die kommenden Jahrzehnte fortsetzen, könnte die globale Ungleichheit substanziell sinken. Allen positiven Prognosen zum Trotz dürfen jedoch Dritte-Welt-Länder wie Nigeria oder Bangladesch nicht vergessen werden. Denn diese verzeichneten keinen Aufschwung und könnten mit ihrem Bevölkerungswachstum und der gleichzeitigen wirtschaftlichen Stagnation die globale Ungleichheit in die Höhe schießen lassen. Auch wenn man Europa, Lateinamerika und die USA betrachtet, nimmt die Ungleichheit wieder zu: In Europa und den USA stagnieren die Einkommen, und für Osteuropa waren die 1990er-Jahre ein Desaster.
Umverteilung und Wachstum
Milanović spricht drei mögliche Lösungsvorschläge an, um die Ungleichheit zu mildern. Einerseits gäbe es die Möglichkeit einer größeren und nachhaltigen Umverteilung von Reich zu Arm. Eine zweite Lösung wäre eine Beschleunigung des Wirtschaftswachstums von armen – vor allem afrikanischen – Staaten. Damit könnte man sowohl die Armut als auch die Ungleichheit in den Griff bekommen. Der dritte – und laut Milanović effektivste – Vorschlag ist die Migration. Eine Grenzöffnung der USA und von Europa würde Millionen von MigrantInnen anziehen, deren Einkommen steigen würden. Gleichzeitig würde dies aber zwei große Probleme mit sich bringen: einerseits einen Zusammenstoß von verschiedenen Kulturen und Religionen, andererseits sinkende Einkommen der BürgerInnen im Ankunftsland.
Bereits während seines Studiums musste Milanović feststellen, dass er mit dieser Thematik auf wenig Gegenliebe stieß. Das Tito-Regime hieß dieses Forschungsgebiet nicht gut. Schließlich lebte man dort von der Ideologie einer klassenlosen Gesellschaft und wollte von einer Ungleichheit nichts wissen. Auch in den USA musste der Ökonom nach seiner Ankunft erfahren, dass die Erforschung der Einkommensunterschiede ein tabuisiertes Thema war und sich keine Organisationen und Institute finden wollten, die seine Projekte finanziell fördern würden. Projekte, die sich mit Armut beschäftigen, hingegen schon, wie diese Anekdote aus seiner Zeit in einer Washingtoner Ideenfabrik zeigt: „Ich war bei einem Think-Tank in Washington“, erzählte Milanović in einem Interview. „Der Präsident dieses Think-Tanks sagt zu mir: ,Also, Sie können tun, was immer Sie wollen, aber sagen Sie bloß nicht Ungleichheit. Nehmen Sie dafür das Wort Armut. Denn wir haben viele reiche Leute in unserem Vorstand, und wenn sie das Wort Armut sehen, fühlen sie sich gut, denn sie sind wirklich nette Leute, die sich um die Armen sorgen. Wenn sie das Wort Ungleichheit sehen, regt sie das auf, denn man möchte ihnen Geld wegnehmen.“
Einkommensungleichheit ist ein heikles Thema, denn allein schon der Begriff stellt die Legitimität des eigenen Einkommens infrage.
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Von Maja Nizamov, Freie Journalistin
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/14.
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