Ankunft in Europa?

Als 2004 zehn mittel- und osteuropäische Länder der Europäischen Union beigetreten sind, wollten die meisten davon vor allem eines: als moderne, westeuropäische Demokratie mit Marktwirtschaft wahrgenommen werden“, erzählt Peter Havlik vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Im Mai 2014, zehn Jahre nach der großen Erweiterungsrunde, ist dies zum Teil gelungen. Vollständig erreicht ist das Ziel jedoch nicht. Der Weg dorthin ist von enttäuschten Erwartungen und falschen Hoffnungen geprägt. Gegangen werden muss er trotzdem, sind Expertinnen und Experten überzeugt.

Steiniger Weg durch die Krise

„Bis 2008 waren die Entwicklungen in den Ländern der großen Osterweiterung eigentlich sehr positiv“, erinnert sich Wirtschaftsexperte Havlik. Das Wirtschaftswachstum war hoch und auch die Arbeitslosigkeit ist in den Jahren davor gesunken. Die Finanzkrise 2008 bedeutete einen herben Rückschlag für alle Länder Europas, besonders aber für die mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL). Die Krise hat die positiven Entwicklungen der Jahre zuvor in diesen Ländern stark überschattet. Viele ausländische Banken, die in den MOEL tätig sind, haben während der Krise ihr Geld zurückgezogen. Das hat sich unmittelbar auf die Finanzierung von Investitionen und Projekten ausgewirkt und die Krise zusätzlich verschärft. Seit 2008 sind die jüngsten EU-Länder wirtschaftlich kaum an den europäischen Durchschnitt herangekommen. Auch in den kommenden Jahren sind laut dem Wirtschaftsinstitut wiiw keine großen Sprünge zu erwarten. Einzig das Wirtschaftswunder Polen hat während der Krise keine negativen Wachstumsraten verzeichnet.

Musterschüler Polen

„Dass Polen trotz europaweiter Wirtschaftskrise einen Aufschwung erlebt, ist nicht zuletzt der politisch klügeren Reaktion auf die Krise zu verdanken“, so Havlik. Als Polen 2004 der EU beigetreten ist, befürchteten viele Bauern, sich gegenüber der industrialisierten Landwirtschaft des Westens nicht behaupten zu können. Heute ist Polens Landwirtschaft beispielhaft für den Erfolg einer EU-Mitgliedschaft. Dank Strukturförderungen aus den EU-Fördertöpfen stehen hochmoderne Fabriken im Land, zahlreiche Jobs wurden geschaffen. Ähnlich positiv sind die Entwicklungen in Industrie und Gewerbe. Seit dem EU-Beitritt sind das Einkommen der Bauern und die Kaufkraft der Bevölkerung um rund 50 Prozent gestiegen.

Dass sich gerade das stark agrarisch geprägte Polen zum Musterschüler entwickeln würde, hätte vor der Erweiterungsrunde kaum jemand für möglich gehalten. Polen hat rasch gelernt, sich die neuen Strukturen der EU eigen zu machen. Es schöpft einen großen Teil der ihm zur Verfügung stehenden EU-Fördergelder ab, während die meisten anderen mittel- und osteuropäischen Länder nur rund 50 Prozent der Fördertöpfe leeren. Rumänien und Bulgarien sogar nur 20 bis 30 Prozent.

Ausbau der Infrastrukturen

Ein beachtlicher Teil des Budgets für die MOEL bleibt unangetastet in Brüssel liegen. „Diese sogenannte Absorptionsfähigkeit ist ein echtes Problem. Man muss sich auskennen in diesem ganzen Förderdschungel, und da haben die neuen EU-Mitgliedsländer in der Regel sehr große Schwierigkeiten“, berichtet Havlik. Dennoch haben laut dem Wirtschaftsexperten alle EU-Mitgliedsstaaten sehr von den EU-Transferleistungen profitiert: „Wer durch die mittel- und osteuropäischen Länder fährt, kann mit freiem Auge sehen, was sich verändert hat.“ Es wurden Straßen renoviert, neue Verkehrswege erschlossen, Schulen und Kläranlagen gebaut, Eisenbahnen modernisiert und Umweltschutzmaßnahmen ergriffen. Allein nach Ungarn sind zwischen 2007 und 2013 mehr als 25 Mrd. Euro an EU-Fördergeldern geflossen, vor allem in den Ausbau der Infrastruktur. Havlik ist überzeugt: „Ohne EU-Mitgliedschaft wären diese Investitionen ausgeblieben. Die Wirtschaft hat sich in den Ländern Mittel- und Osteuropas dank Europäischer Union umstrukturiert und modernisiert. Heute werden viel mehr elektrotechnische Waren und Maschinen exportiert als noch vor zehn, 15 Jahren.“

Viel Hoffnung, viel Illusion

In Ländern wie Ungarn oder Slowenien hätten hingegen schwere Fehler in der eigenen Wirtschaftspolitik zur Verschärfung der Krise beigetragen. Die ungarische Bevölkerung hatte vor dem EU-Beitritt hohe Erwartungen an die EU-Mitgliedschaft, wie auch die anderen mittel- und osteuropäischen Länder. „Nach der Wende in den 1990er-Jahren war die EU so etwas wie ein ‚point of reference‘, ein Referenzpunkt, der vieles zum Guten wendet: besseres Einkommen, moderne Wirtschaft und mehr Lebensqualität“, erinnert sich Karoly György, Internationaler Sekretär des Dachverbands der Ungarischen Gewerkschaften MSZOSZ. Heute hingegen sind die Staatsschulden gestiegen, ausländische Unternehmen ziehen Gewinne ab und im Land grassiert Korruption. „Dass es nach zehn Jahren EU-Mitgliedschaft in Ungarn nicht rosig ist, hat nichts mit der EU zu tun. Das liegt an der eigenen Politik“, ist György überzeugt. Die Beschäftigungspolitik in Ungarn sei zum Beispiel ein seit Langem bekanntes, strukturelles Problem. Dass die Bevölkerung unzufrieden ist, liegt auf der Hand. Wie in anderen jüngeren EU-Ländern fehlt es an Kaufkraft und Inlandsnachfrage.

Bei einem durchschnittlichen Gehalt in Ungarn von 750 Euro und Preisen auf dem Niveau des EU-Durchschnitts kann von Anpassung an den westeuropäischen Lebensstandard keine Rede sein. Konsequenz dieser Entwicklungen: Viele Menschen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern sind von der EU-Integration enttäuscht. Sie haben sich mehr erwartet. Zu viel, wie Havlik meint. Die Hoffnung, in wenigen Jahren nach dem Beitritt so wie in Deutschland oder Schweden zu leben, sei von Beginn an eine Illusion gewesen. Seit der Krise ist der Aufholprozess der MOEL ins Stocken geraten. Bis Ungarn oder Tschechien auf dem Niveau von Österreich sind, dauere es laut Havlik mindestens zehn Jahre, wenn nicht länger.

Die Zukunft heißt Europa

Europa wächst in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Situationen der EU-Mitgliedsländer unterscheiden sich so sehr wie ihr Nutzen von der EU-Mitgliedschaft. Ihre Gemeinsamkeit besteht zu einem großen Teil in einer hoffnungsreichen Europa-Euphorie vor dem EU-Beitritt. Dass bei der „Rückkehr nach Europa“ auch der eigene Rucksack selbst getragen werden muss und immer wieder unerwartete Hürden am Weg auftauchen, missfällt vielen Ländern. Dennoch warnen Experten wie Havlik oder György vor Rückschritten. Den Weg nach Europa weiterzugehen, daran führe nichts vorbei. Gerade in Zeiten, in denen extremistische und rechtspopulistische Parteien in verschiedenen europäischen Ländern verstärkt auftreten, braucht es laut Havlik die Europäische Union, um diese Bewegungen im Zaum zu halten. Denn die EU ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft.

Ein Demokratieprojekt

„Für die mittel- und osteuropäischen Länder ist die Europäische Union vor allem ein Demokratieprojekt“, betont der ungarische Gewerkschafter Karoly György. Es gäbe zwar ein Leben außerhalb von Europa. Dieses wäre aber ein Leben geprägt von Isolation, Verarmung und noch höherer Arbeitslosigkeit, ist György überzeugt. Trotz vieler Probleme im eigenen Land steht er der Europäischen Union positiv gegenüber: „Unsere Zukunft ist in der Europäischen Gemeinschaft, nicht nur wirtschaftlich, auch sozial, kulturell und demokratiepolitisch. Ungarn kommt nun zurück, wo es eigentlich schon immer war. Hier ist unser Platz.“

Info&News
In der fünften und bisher größten Erweiterungsrunde im Jahr 2004 sind die Länder Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern der Europäischen Union beigetreten. 2007 kamen Bulgarien und Rumänien hinzu. Als jüngstes Mitgliedsland ist Kroatien seit 2013 bei der EU.

 

Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche:
www.wiiw.ac.at

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Von Irene Steindl, Alexander Franz, Freie Redakteurin, Freier Redakteur

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 1/14.

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