„Knapp ist tot.“
„Der Chef? Was ist denn mit ihm? Hat er einen Herzinfarkt, weil ihm wer ein paar Hunderter zu wenig bezahlt hat für die letzte Waffenlieferung? Ein Raubüberfall? Er hat doch immer sein Bargeld im Tresor.“
„Weiß man nicht. Er wurde erschossen. An seinem Schreibtisch.“
„Dann kann er wenigstens keine Rehböcke mehr töten“, zischte eine junge Frau. Christine war die neue Praktikantin und bekennende Tierschützerin. Man würde sie vermutlich nicht länger behalten – und sie würde wohl auch nicht bleiben. Mit welchem Motiv sie sich überhaupt bei einem Waffenerzeuger beworben hatte und dass man sie genommen hatte, war undurchsichtig, so lautete die allgemeine Meinung unter Kolleginnen und Kollegen. Auch jetzt sahen die Umstehenden sie nur pikiert an. In der Kaffeeküche wurde es eng, Getuschel und Gerüchte wogten wie Meereswellen, brandeten über der Tür auf und schwappten über die Anwesenden hinweg.
„Ist die Polizei schon da?“, fragte Liane, die Chefbuchhalterin, und versuchte, sich zur Kaffeemaschine durchzudrängen. Irgendwo fiel klirrend eine Tasse zu Boden.
„Natürlich.“ Nicola hatte verweinte Augen, sie war erst seit Kurzem zu Knapps Assistentin aufgestiegen. „Vorerst darf noch niemand das Chefbüro betreten.“
„Nana“, machte Christine und drehte den Wasserhahn auf, um ein Glas damit zu befüllen, „sieht ja aus, als hätte die ein persönliches Verhältnis mit dem Chef gehabt.“
„Du hast’s nötig!“, rief Gewerkschafterin Robinia. „Beruhigt euch, Leute, bitte. Noch wissen wir gar nichts.“
Mittlerweile betraten die Polizisten das Chefbüro. Der Tote saß vornübergeneigt an seinem Schreibtisch, der Kopf auf der Marmortischplatte, die Arme auf dem Tisch. Neben ihm auf dem Boden lag die Flinte, es war tatsächlich seine eigene. Fingerabdrücke fanden sich nicht darauf. Als Todesursache wurde ein Schuss aus nächster Nähe festgestellt, Verletzungen, Projektil und Flinte passten zusammen. Als Todeszeitpunkt wurde ein Zeitraum zwischen 22 Uhr und 1 Uhr früh ermittelt.
Die Ermittler ließen sich die Aufnahmen der Überwachungskameras zeigen; doch diese waren um 20.01 Uhr ausgeschaltet worden. Der Security-Mann war selbst überrascht davon. Im Kalender des Toten fand sich ein letzter Termin am Abend seines Todes, mit Robinia Huber, Gewerkschafterin. Knapps Assistentin Nicola bestätigte diesen Besuch. Sie habe Robinia ins Büro zu Knapp geführt, da habe er natürlich noch gelebt. Dann habe der Chef sie nach Hause geschickt.
Bei der Überprüfung der Firmen-Bankkonten und von Knapps privaten Bankverbindungen wurden mehrere Zahlungen an neun Mitarbeiter entdeckt, die in der Nacht durchgeführt worden waren, nach dem vermuteten Todeszeitpunkt.
Man befragte also die Chefbuchhalterin Liane Berger.
„Einige Angestellte haben größere Zahlungen erhalten. Was wissen Sie darüber?“
„Nun, es gab einige Mitarbeiter, die extra Prämien bekommen sollten, eine Gewerkschafterin hat das so mit der Geschäftsleitung vereinbart.“
„Ich habe hier eine Liste“, sagte der Polizist, „derzufolge handelt es sich um neun Leute, die noch vor Kurzem zur Kündigung angemeldet werden sollten, laut Gewerkschafterin. Wir können jedoch keine Kündigungsschreiben finden.“
„Nun“, Liane stützte sich mit den Ellbogen auf ihrem Schreibtisch ab, „eine Weile sah es so aus, als müssten wir Mitarbeiter abbauen. Die Wirtschaftslage war nicht besonders gut. Mittlerweile hat sich aber alles wieder geändert, die wirtschaftliche Situation der Firma ist viel besser, wir haben neue Kunden gewonnen. Somit können und wollen wir nicht auf diese Mitarbeiter verzichten. Daher wurde auch nie eine Kündigung ausgesprochen. Die Details kennt vermutlich nur unsere Gewerkschafterin, Robinia Huber.“
Also wurde als Nächste Robinia befragt, was es mit den Vorgängen auf sich habe.
„Sie hatten gestern einen Termin mit dem später Verstorbenen. Vermutlich waren Sie die Letzte, die ihn lebend getroffen hat.“
Die Gewerkschafterin nickte und seufzte.
„Das ist natürlich furchtbar. Ich hatte etwas Wichtiges mit dem Chef zu besprechen. Es gab Unstimmigkeiten über gewisse Dinge, über Kündigungen und Gelder. Ich konnte schließlich in der Verhandlung mit Roman Knapp tatsächlich erreichen, dass diese neun Mitarbeiter nicht gekündigt werden und sogar eine Sonderzahlung für ihre Leistungen bekommen. Ich habe ihn dazu gebracht, es als Wiedergutmachung zu sehen für die harte langjährige Arbeit dieser Leute. Immerhin hatten sie alle jahrelang erfolgreich für das Unternehmen gearbeitet. Es geht dabei um Leute, die in besonderen Situationen stecken. Tibor Becks Haus zum Beispiel – das ist einer der Techniker – wurde beim Hochwasser letztes Jahr überflutet, ihm blieb nichts. Mit der Prämie kann er es halbwegs wiederaufbauen. Simone Haller wiederum hat fünf Kinder und ist Alleinerzieherin, zudem ist ihr Gehalt als Versandmitarbeiterin sehr niedrig. Wir haben endlich Leuten geholfen, statt sie zu feuern.“
„Verstehe. Das muss ein toller Sieg für Sie gewesen sein.“
„Schon, ja.“
Die Gewerkschafterin lächelte verhalten.
„Auf den Videoaufnahmen sehen Sie nicht so aus. Wie haben Sie Knapp zu dieser Zahlung überredet? Er gilt laut bisherigen Aussagen nicht gerade als freigiebig.“
„Die Geschäfte laufen gut, sogar besser als zuletzt. Und wir brauchen die Mitarbeiter. Wir sind auf sie angewiesen, um die Aufträge zu erfüllen und alle Bestellungen zu liefern. Ich habe Knapp klargemacht, dass Prämien helfen werden, die Produktion anzukurbeln, ganz einfach. Weil sie die Sorgen dann los sind und produktiver sein können.“
„Und das hat er so geschluckt?“
„Mit meinem Verhandlungsgeschick, ja.“
„Wie hast du ihn nur so weit gebracht, diese Zahlungen zu genehmigen, Robinia?“, fragte Simon seine Freundin Robinia am selben Abend. Simon arbeitete im selben Betrieb wie sie in der Kundenabteilung.
„Ist das nicht egal? Wichtig ist, dass er es getan hat. Freuen wir uns über unseren Erfolg.“
„So einfach lässt sich Knapp normalerweise nicht darauf ein, was von seinen Millionen rauszurücken.“
„Normalerweise nicht, aber das war eine besondere Situation.“
„Wie ist das Gespräch verlaufen? Oder muss ich es selbst rausfinden?“
Robinia und er hatten ständig solche Spiele laufen, wer etwas früher rausfände.
„Ich hatte ihn fast so weit, er hatte schon zugestimmt, dann hat er einen Rückzieher gemacht. Aber dass er ausgerechnet mit der Tierschützerin ein Verhältnis hat – das hätte er sich selbst früher überlegen müssen. Ich habe ihm klargemacht, wenn er dieser Christine Firmengeheimnisse verrät, braucht er keine Prämien mehr zahlen … dann ist die Firma am Ende. Er wäre vor dem Aufsichtsrat erledigt gewesen, und dort sitzen immerhin seine Söhne und Schwiegertöchter. Ich habe den Knapp mit Christine beim Turteln beobachtet. Mehrmals. Sie hatten ihr Stelldichein in einem kleinen Häuschen in der Nähe, wo ich jogge. Ich habe sie ein wenig belauscht. Nein, nicht absichtlich, natürlich nicht! Wo denkst du hin!“
Robinia lächelte fein.
„Nur so zufällig habe ich so einiges mitgehört, was Knapp seiner jungen Freundin verraten hat. Fast hat es sich angehört, als würde Christine den Alten für irgendwelche Aktionen zugunsten von Federvieh oder Pelzverwertungstieren rekrutieren. – Na, und das habe ich Knapp dann gesagt. Also ist er auf meine Umverteilungsidee eingestiegen. Dass sich Knapp aus Angst danach selbst erschossen hat, dafür kann ich nichts. Immerhin hat Rashid jetzt das Geld für die OP seiner Schwiegermutter in Afghanistan und Greta kann ihre Kinder zur Schulsportwoche anmelden.“
Robinia zuckte lächelnd die Achseln.
„Ist doch schön, oder?“
Anni Bürkl ist Journalistin, (Krimi-)Autorin und Lektorin. Ihr jüngstes Buch trägt den Titel „Göttinnensturz“ und ist Teil einer Krimireihe rund um Teelady Berenike Roither, erschienen im Gmeiner Verlag.
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Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/14.
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