90 Jahre Arbeiterkammern – Zukunft gestalten

Jubiläen werden zumeist als Leistungsschau zelebriert. Nostalgische Rückblicke in eine „glorreiche“ Vergangenheit sollen dazu beitragen, die Akzeptanz des Jubilars zu stärken. Die Arbeiterkammern, deren Leistungen gegenwärtig stärker denn je in Anspruch genommen werden, beschlossen im Zuge der Vorbereitung der Veranstaltungen anlässlich des 90. Jahrestages ihrer Konstituierungen, einen anderen Weg zu gehen. Als „Zukunftsprojekt“ in der wirtschaftlichen und sozialen Umbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg konzipiert und errichtet, galt es einmal mehr, den Blick nach vorne, in die nahe und weitere Zukunft zu richten. Angesichts des nach Jahrzehnten neoliberalen Regimes hinterlassenen Scherbenhaufens, der sich in vielfältigen Problemlagen und Krisen zeigt, ist es für die Arbeiterkammern Gebot der Stunde – wie in der Vergangenheit -, aus der Analyse der Gegenwart Handlungsperspektiven für die zukünftige Gestaltung unserer Gesellschaft zu entwickeln.

Zukunft gestalten – Visionen denken

Die Kammerleitung hat beschlossen, zum 90-jährigen Jubiläum keine „Festschrift“ im landläufigen Sinn herauszugeben, sondern sich vielmehr brennenden Fragen unserer Gegenwart und Zukunft zu widmen. Die inhaltlichen Schwerpunkte von „Zukunft gestalten – Visionen denken“ (so der Titel der „Zukunftsfestschrift“) sollten denn auch der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklung unserer Gesellschaft, unseres Staates und der Europäischen Gemeinschaft gewidmet sein. Namhafte österreichische WissenschafterInnen und PublizistInnen wurden eingeladen, ihre Analysen und Visionen in Form eines kurzen Essays zu Papier zu bringen. Dieser „Außensicht“ unserer Gegenwart und möglichen Zukunft wurden die Forderungen von ExpertInnen der Büros der BAK gegenübergestellt. Damit sollte ein Teil jener KollegInnen zu Wort kommen, die überwiegend im Hintergrund die Grundlagen der Entscheidungen der FunktionärInnen der BAK erarbeiten. Weder den KammermitarbeiterInnen noch den „externen“ AutorInnen wurden die Themen, Inhalte und Texte der anderen bekannt gegeben. Damit sollte bewusst eine gewisse Spannung erzeugt werden, die zum Weiterdenken anregt und damit den Weg für eine neue, gerechte und faire Gestaltung unserer Gesellschaft ebnet. Ohne nun auf einzelne Beiträge des Bandes einzugehen, ohne Namensnennung der AutorInnen und ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige in der Publikation näher ausgeführte zentrale Gedanken benannt.
Im Maßstab von Jahrhunderten gemessen leben wir in einer Übergangsphase. Das „Modell Neuzeit“, jene in der Zeit der Aufklärung entstandene Wissenschaftsgläubigkeit, scheint am Ende. Notwendig erscheint ein neues Denken, welches sich von der Logik der Wissenschaft löst und alternativen Betrachtungsweisen Raum gibt. Denn Globalisierung bedeutet „Ent-Grenzung“. Wo sich einst Ost und West, Nord und Süd in Konflikten befanden, schwirren heute in Sekundenbruchteilen Datenströme. Und die Informationstechnologie entwickelt sich rasant weiter. Die Folgen sind demokratiepolitisch, menschen- und arbeitsrechtlich kaum abschätzbar, aber gestaltbar.

Neoliberalismus 

Die Herrschaft des Neoliberalismus – so die überwiegende Meinung der AutorInnen – zerstörte die fundamentalen Gerechtigkeitsprinzipien als Grundgerüst des Zusammenlebens. Und die Politik spielte mit. Während die Freiheit für das Individuum propagiert wurde, führte etwa der Staat unter dem Vorwand die Menschen zu schützen neue Verbote ein, während er die mächtigen Konzerne ungeschoren ließ. Der Mythos, Eigentum fördere sittliches Handeln, zerstörte jedes Streben nach Gerechtigkeit. Der Glaube an die selbstheilenden Mächte des Marktes erwies sich spätestens nach den Finanz- und Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre als Betrug an der Bevölkerung, die nun Folgen und Kosten zu tragen hat. Und doch erscheint es zu früh, das Totenlied auf die gerechtigkeitsverachtende Ideologie der vorigen Jahrzehnte zu singen. Vielmehr sind wir alle gefordert, neue Modelle einer fairen, gerechten Gesellschaft zu entwickeln.

Auf „Megatrends“ eingegangen

Wenn auch zugegebenermaßen die „große umfassende Zukunftsidee“ fehlt, so gibt es doch „Megatrends“. Es sind dies die Trends zu mehr Bildung, zur Aufhebung nationaler Grenzen und sozialer Unterschiede zwischen den Geschlechtern sowie der Trend zu einer Neuformierung von Arbeit. Es geht dabei um die Überwindung sozialer Schranken, den Verlust traditioneller Staatlichkeit, um eine Feminisierung als Überwindung einer männerdominierten Gesellschaft und um eine Stärkung des Arbeitsmarktes bei gleichzeitiger Humanisierung der Arbeitswelt. Jedoch: Trends und Veränderungen in unserer Gesellschaft folgen keinen „Naturgesetzen“, geschehen nicht von selbst, sondern sind politisch beeinfluss- und gestaltbar. Wenn durch die Politik auch nur langsame Schritte gesetzt werden, so muss immer das Postulat einer nachhaltigen sozialen Gerechtigkeit höchste Priorität haben.
Die genannten „Megatrends“ sind nicht nur im Bewusstsein der AK-ExpertInnen verankert, sondern vielmehr Inhalt ihrer täglichen Arbeit. Es geht dabei weniger um die großen gesellschaftspolitischen Entwürfe, als vielmehr um aktuelle, verhandel- und durchsetzbare Forderungen, um die Lage der Arbeitnehmerinnen zu verbessern. Die „Mühen der Ebene“ bedeuten einen steten Kampf um die richtigen Argumente, um durchsetzbare Verhandlungsgegenstände, um Paragrafen. In den Beiträgen der AK-MitarbeiterInnen geht es um die Notwendigkeit sozialer Ausgewogenheit bei der Lösung ökologischer und ökonomischer Fragen, um Verteilungsgerechtigkeit, um die Schaffung eines zeitgemäßen Arbeitsrechtes oder um Strategien gegen das ungehemmte Treiben von ManagerInnen.
Die in einigen Beiträgen „externer“ AutorInnen geforderte Umorientierung von Politikbereichen in der EU wird auch von den AK-ExpertInnen geteilt. Das BAK-Büro in Brüssel und das Europabüro des ÖGB begreifen sich als Reformkraft und versuchen, durch strategische Allianzen dem in der EU vorherrschenden neoliberalen Regime Paroli zu bieten. Zur Stärkung gewerkschaftlicher Handlungskompetenz wird an der Sozialakademie der europäischen und internationalen Gewerkschaftsarbeit in Zukunft breiterer Raum gegeben.
Gilt es die ständig im Wandel begriffene Arbeitswelt auf Ungleichgewicht zuungunsten der ArbeitnehmerInnen zu überprüfen, so liegen künftige Herausforderungen besonders auch darin, die ökonomische Situation von Frauen zu verbessern, bezahlte und unbezahlte Arbeit zwischen den Geschlechtern gerechter zu verteilen und Einkommensunterschiede aufgrund des Geschlechts zu beseitigen. Integrations- wie Migrationspolitik wird immer „work in progress“ bleiben. Geht es doch darum, für alle Menschen die gleichen Chancen zu schaffen. Bildungsökonomie wird – wie die Situation der Universitäten zeigt – immer wichtiger zur Durchsetzung bildungspolitischer Forderungen. Bildung muss unterschiedslos allen zugänglich sein und darf keinem anderen Zweck, als dem demokratisch begründeten dienen.
Mit neuen Gesprächsformen und Diskussionsrunden zwischen ExpertInnen der AK, BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen sowie VertreterInnen von NGOs wird versucht, Bewegung in Richtung einer Humanisierung der Gesellschaft zu bringen.

Gerechtigkeit muss sein

Das Leitmotiv der aktuellen Kampagne der Arbeiterkammern „Gerechtigkeit muss sein“ kann nur – so wie bisher – im erfolgreichen Zusammenspiel zwischen einem starken ÖGB, durchschlagskräftigen Gewerkschaften, gut ausgebildeten BetriebsrätInnen und PersonalvertreterInnen und leistungsfähigen Arbeiterkammern zum Erfolg führen. Denn der Kampf um gleiche Rechte, gleiche Chancen, faire Verteilung und soziale Sicherheit wird nie aufhören. Er begleitet uns als Aufgabe und immer neue Herausforderung in die Zukunft.

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Von Klaus-Dieter Mulley (Institut für Geschichte der Gewerkschaften und AK. Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien)

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/2011.

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