Arbeitszeitverkürzung ist überfällig
„Im Jahr 1975 gab es die letzte Arbeitszeitverkürzung – von 45 auf 40 Wochenstunden“, sagt Martin Müller, der sich schon länger für das Thema einsetzt. Seither hat sich die Arbeitswelt massiv verändert, mit sichtbaren Folgen für die Beschäftigten. „Wie hat ein Büro im Jahr 1975 ausgesehen? Es gab ein Wählscheibentelefon und eine mechanische Schreibmaschine. Heute kommunizieren wir mit dem Handy, immer und überall. Wir verschicken E-Mails im Sekundentakt.“ Für die Arbeitnehmer:innen bedeute dies vor allem eine Verdichtung des Arbeitsalltags.
Der ÖGB beklagt, dass sich die Arbeitszeit immer stärker in die Freizeit ausdehnt, etwa indem von Arbeitnehmer:innen dauernde Erreichbarkeit verlangt wird oder Lohnarbeit nach Hause mitgenommen wird. „Die psychische Belastung und Erschöpfung der Arbeitnehmer:innen nehmen dadurch enorm zu“, sagt Müller. „Irgendwann halten die Menschen den Druck nicht mehr aus.“ Das gelte auch für den Produktionsbereich: „Die Menschen in den Fabriken werden viel stärker überwacht als früher, während die körperliche Arbeit weniger wird. Das ist ein Beispiel für Verdichtung. Man muss die ganze Zeit viel aufmerksamer sein.“ Als Konsequenz sei deshalb eine Verkürzung der Arbeitszeit nötig. „Je beanspruchender eine Tätigkeit ist, desto mehr Ausgleich benötigt man. Dadurch wird die Belastung verringert“, so Müller.
Arbeitszeitverkürzung ist populär
Tatsächlich ist Arbeitszeitverkürzung unter Arbeitnehmer:innen in Österreich ein Anliegen mit vielen Sympathien. Lange Arbeitszeiten sind es hingegen nicht. Das geht aus aktuellen Statistiken und Erfahrungen in der Arbeitswelt hervor. Laut Zahlen der Statistik Austria aus dem Jahr 2022 ist jede:r dritte lohnabhängig Beschäftigte mit einem 40-Stunden-Job mit der Arbeitszeit unzufrieden. Besonders schlecht wird die Lebens- und Arbeitszufriedenheit inzwischen von jungen Menschen bewertet, die den wachsenden Arbeitsdruck am meisten zu spüren bekommen. Sinkt hingegen die Wochenarbeitszeit, wächst die Zufriedenheit. Laut Statistik Austria waren im Jahr 2021 rund 84 Prozent der Beschäftigten mit einem Arbeitseinsatz zwischen 36 und 40 Stunden pro Woche zufrieden. Eine im Auftrag der Arbeiterkammer erstellte WIFO-Studie aus dem Jahr 2023 kam zusätzlich zu dem Schluss, dass sich die Beschäftigten am Ende ihrer beruflichen Laufbahn besonders stark nach einer Arbeitszeitverkürzung sehnen.
In einer Zeit mit hohem Bedarf an Fachkräften kann eine derartige Unzufriedenheit unter lohnabhängigen Menschen auch einen Schatten auf den Personalstand werfen. Ein Beispiel dafür bietet die Online-Marketing-Agentur eMagnetix. Sie führte im Jahr 2018 aufgrund eines Mangels an Bewerber:innen die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ein. Im Jahr 2022 untersuchte die Arbeiterkammer die Folgen dieses Experiments in einer wissenschaftlichen Studie. Das Ergebnis: Über 90 Prozent der in der Studie befragten Belegschaft waren zufriedener mit ihrer Arbeitszeit und berichteten von einer deutlich besseren Work-Life-Balance. Auch auf die Gesundheit der Beschäftigten hatte die 30-Stunden-Woche positive Auswirkungen. Etwa zwei Drittel der Beschäftigten berichteten, mehr Zeit für gesunde Ernährung aufzuwenden, während 40 Prozent aufgrund der verkürzten Arbeitszeit länger schliefen. Für das Unternehmen wurde die 30-Stunden-Woche zu einem Recruitment-Argument. Die Belegschaft konnte aufgrund der kürzeren Arbeitszeiten verstärkt werden.
Herausforderung Schichtarbeit
Es arbeiten aber längst nicht alle Berufstätigen in Österreich im Büro und „nine to five“. Für Zehntausende Arbeitnehmer:innen in Industriebetrieben ist Schichtarbeit der berufliche Alltag. Hier stellen sich beim Thema Arbeitszeitverkürzung in Richtung einer „gesunden Vollzeit“ besondere Herausforderungen. Das weiß Patrick Bauer, der für die Produktionsgewerkschaft (PRO-GE) Betriebsratskörperschaften beratend zur Seite steht, wenn diese neue Arbeitszeitmodelle auf betrieblicher Ebene aushandeln. „Schichtarbeit erfordert es, dass die Arbeitnehmer:innen zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten arbeiten, oft auch an Wochenenden und Feiertagen“, sagt er. „Das kann erhebliche Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit der Beschäftigten haben.“
Aber er kennt auch die Hürden, die für ein gesünderes Arbeiten zu überwinden sind: „Es gibt Fabriken, die Güter im voll kontinuierlichen Betrieb produzieren, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche“, sagt Müller und bringt das Beispiel eines Hochofens. „Der kann nicht einfach abgeschaltet werden. Er würde auskühlen und kaputtgehen. Auch eine Papierwalze hängt durch, wenn sie stillsteht.“ Eine Herausforderung bestehe somit darin, gesunde Arbeitszeitmodelle auf die Bedürfnisse des Arbeitsplatzes abzustimmen.
Mit einer Arbeitszeitverkürzung nehmen Unternehmen die Bedürfnisse der Beschäftigten ernst
Gleichzeitig sind berufstätige Menschen aber nicht nur Arbeitskräfte, sondern Personen mit Bedürfnissen, Hobbys und familiären Verpflichtungen. Auch das sei bei Änderungen der Arbeitszeitgestaltung zu bedenken. Es sei wichtig, den Menschen zuzuhören und sie mitzunehmen. „Es gibt Schichtsysteme, da arbeiten die Beschäftigten 21 Tage durch und haben dann eine Woche frei. Das ist total ungesund“, sagt Bauer. Aber für viele Beschäftigte würde genau dieses Modell gut passen, „weil sie sich in der freien Woche ehrenamtlich engagieren oder sich dann Zeit für ihr Kind nehmen oder für die Woche zurück in ihr Heimatbundesland fahren“. Die Freizeit der Menschen sei eng mit dem Schichtsystem verknüpft, und deshalb müsse bei jeder Änderung neu verhandelt werden.
Gerade weil es im Bereich der Arbeitszeit viele Aspekte zu berücksichtigen gilt, beurteilt Bauer ähnlich wie Martin Müller die Arbeitszeitreform von ÖVP und FPÖ sehr kritisch. Besonders der Begriff der „Freiwilligkeit“ zur Ableistung von längeren Arbeitszeiten auf Überstundenbasis sei zu hinterfragen, „vor allem in voll kontinuierlich produzierenden Betrieben, weil die Maschinen dort nicht einfach abgeschaltet werden können. Das erzeugt einen Druck auf die Kolleg:innen. Freiwilligkeit existiert de facto nicht“, sagt Bauer. Ein weiterer negativer Aspekt seien Verknappungen beim Personal. „In vielen Betrieben sind die Reserve-Mitarbeiter:innen eingespart worden. Es handelt sich dabei um Kolleg:innen, die einspringen, wenn jemand ausfällt. Wenn die Reserve wegfällt, erzeugt das sofort eine Verdichtung und somit eine Verschlechterung für andere Mitarbeiter:innen.“ Auf kollektivvertraglicher Ebene habe man aber auch Erfolge erzielt, sagt Bauer. „Wir haben zum Beispiel die Überstundeneinsätze enorm verteuert. Da gibt es jetzt teilweise über 100-prozentige Zuschläge.“
Royal Canin und die Erfolge mit der Arbeitszeitverkürzung
Welche Möglichkeiten es gibt, auch in Schichtbetrieben gesündere Arbeitszeiten und Rhythmen auszuhandeln. Das zeigt das Beispiel des zum weltweit agierenden Mars-Konzern gehörenden Futtermittelherstellers Royal Canin in Bruck an der Leitha. Hier wurde lange im 4-Schicht-System gearbeitet und die Arbeitsbelastung für die Mitarbeiter:innen über Jahre hinweg immer wieder intensiviert. Mit Beginn der Pandemie im Jahr 2020 gab es einen regelrechten Ansturm auf den Haustiermarkt, der in weiterer Folge einen Boom in der Futtermittelbranche herbeiführte. Royal Canin wollte weiter expandieren und die Produktion deshalb flexibilisieren. Die Geschäftsführung beauftragte zu diesem Zweck eine externe Firma.
Hier sah der Betriebsratsvorsitzende Julius-Jürgen Mayer eine Chance zu intervenieren. „Ich habe der Geschäftsführung eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich vorgeschlagen“, sagt er. „Das ist schließlich eine alte sozialistische Forderung.“ Doch mit der reinen Forderung war es nicht getan, Argumente und statistisch belastbare Fakten mussten her. „Deshalb habe ich während eines Treffens mit der Geschäftsleitung Patrick Bauer von der PRO-GE kontaktiert. Er benutzt dasselbe Berechnungsprogramm wie die Firma. Ich habe ihn gefragt: Kannst du mir auf die Schnelle ein 5-Schicht-Modell mit Arbeitszeitverkürzung schicken?“
Kürzer arbeiten und Vollzeit verdienen? Was sagen Frau und Herr Österreicher dazu? #AK fragte nach. #Straßenumfrage #Arbeitszeitverkürzung @hasenm 🔽 1/2 pic.twitter.com/t9eNbzQAtL
— AK Österreich (@Arbeiterkammer) August 12, 2024
Und das hat Bauer sogar recht schnell geschafft. „Anhand seiner Berechnungen hat die Firma gesehen, wie sie 24 Stunden, sieben Tage die Woche produzieren kann – und das sogar günstiger als in den alten Modellen, ohne Überstundenzuschlag.“ Die Arbeitszeit beträgt jetzt sechs Tage die Woche, gefolgt von vier freien Tagen. Für die Arbeiter:innen bedeutet das neue Modell eine Arbeitszeit von 33,6 Wochenstunden. „Viele Arbeiter:innen haben mir gesagt, dass das Modell 20 Jahre zu spät eingeführt wurde“, sagt Mayer. „Sie lieben es. Die Firma weiß das auch, und hat es trotz etwas zurückgegangener Auftragslage nicht zurückgenommen.“ Und das darf als großer Erfolg gewertet werden.