Gerne ist man geneigt zu sagen, dass es ungerecht ist, dem Unternehmen hier eine Strafe anzudrohen. Schließlich sei doch alles im Interesse des Kunden geschehen. Wer wollte denn schon mit zerlegter Therme dastehen, vielleicht noch im Winter? Außerdem habe der Arbeiter das ja auch noch selbst entschieden. Der Chef habe ihm doch gar nicht aufgetragen, dass er die Arbeitszeitgrenze überschreiten soll. Und schon hat man eine schöne Geschichte, die wieder einmal zeigt, wie wirtschaftsfeindlich und unflexibel die Arbeitszeitbestimmungen in Österreich sind.
Konstruierte Geschichten
Nach demselben Strickmuster lassen sich Dutzende weitere Geschichten konstruieren – mit Betonung auf konstruieren, denn in der Regel haben solche Darstellungen mit der Realität nur wenig zu tun. Nehmen wir einmal unsere Geschichte auseinander. Stellen wir uns die Frage, wie realitätsnah die Story wirklich ist. Dann erkennen wir zunächst, dass hier scheinbar eine Fehlkalkulation seitens des Unternehmens vorliegt. Denn wenn ein Spezialist gerufen wird, weil ein Gerät nicht funktioniert, dann ist anzunehmen, dass das Zerlegen und Zusammenbauen eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Zusätzlich muss eine gewisse Zeit für die eigentliche Reparatur geschätzt werden. Das alles sollte sich in der Regelarbeitszeit von acht Stunden ausgehen. In diesem Fall sind es noch zwei Stunden Spielraum bis zur Höchstgrenze – für den Fall, dass etwas schiefgeht. Sieht der Unternehmer, dass sich das so nicht ausgeht, sollte er dem Kunden sagen, dass die Reparatur an einem Tag nicht zu schaffen ist. Oder er wird anders planen und zwei Arbeiter nacheinander hinschicken, die dann die Arbeit innerhalb der jeweiligen Arbeitszeitgrenze erledigen. Kalkuliert der Unternehmer aber bereits so, dass sich die Arbeit schon irgendwie innerhalb der Höchstarbeitszeitgrenze von zehn Stunden ausgehen wird, und es kommt etwas Unvorhergesehenes dazwischen, dann wird auf einmal eine Geschichte daraus. Doch in Wirklichkeit haben wir es hier mit einem Problem des Managements zu tun – und nicht mit einem Problem der starren Arbeitszeitgrenzen.
Ein weiterer wichtiger Punkt dieser Geschichte betrifft die Frage, ob es sich um eine Ausnahmesituation handelt oder ob wir daraus eine Regel machen. Denn die geschilderte Situation beschreibt einen Fall, in dem etwas Unvorhergesehenes passiert. Es ist also eine Ausnahmesituation. Gerade anhand solcher Ausnahmesituationen stellt die Wirtschaft gleich die ganze Regel infrage. Dabei haben wir sogar Regelungen für genau solche Situationen: Bis zu zwölf Stunden am Tag und bis zu 60 Stunden in der Woche sind im Ausnahmefall heute schon möglich. Das gilt allerdings nur für einen begrenzten Zeitraum und nur unter bestimmten Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Vorhandensein einer Betriebsvereinbarung, also für den Fall der vorhersehbaren Ausnahme.
Fremdbestimmt
Was uns zur nächsten Frage bringt: Wer bestimmt, wann wie viel gearbeitet werden soll? In aller Regel teilen sich die Beschäftigten die Arbeit nicht selbst ein. Üblicherweise wird ihnen gesagt, wann sie zu arbeiten haben – vor allem dann, wenn es sich um Mehrarbeit handelt. Wir kennen Klauseln in vielen Dienstverträgen, die Mehrarbeit nur dann als zulässig erachten, wenn sie angewiesen wird. Daraus ist bereits ganz klar ersichtlich, dass sich ArbeitnehmerInnen normalerweise nicht selbst zu Mehrleistungen einteilen.
Was sind aber die Folgen, wenn nun die Grenzen der möglichen Mehrarbeit ausgeweitet werden? Überstunden können vergleichsweise kurzfristig angeordnet werden. Wenn sie ein, zwei Tage vorher angekündigt werden und der/die ArbeitnehmerIn keine wichtigen Gründe anzuführen weiß, die ihn/sie daran hindern, so sind diese in der Regel auch zu leisten. Heute geht das üblicherweise bis zu maximal zehn Stunden am Tag. Wenn der Zwölfstundentag die Regel wird, dann heißt das, dass auch kurzfristig bis zu zwölf Stunden Arbeit angeordnet werden können.
Die gesundheitlichen Folgen von regelmäßiger langer Arbeit sind hinlänglich bekannt. Durch überlange Arbeitszeiten werden Körper und Psyche sehr stark beansprucht. Wenn dies regelmäßig passiert, dann kommt es sehr schnell zur Überlastung. Die Unfallhäufigkeit steigt nach der achten und besonders nach der zehnten Arbeitsstunde signifikant an. Dafür sinken die Konzentrationsfähigkeit und damit auch die Produktivität stark ab. Die Kosten, die als Folge der Überlastung im Sozialsystem entstehen, trägt dann die Allgemeinheit.
Soziales Leben in Gefahr
Doch auch der soziale Aspekt ist nicht zu vernachlässigen. Wenn Beschäftigte regelmäßig und kurzfristig zu überlanger Arbeitszeit herangezogen werden, dann fällt es ihnen immer schwerer, ihr soziales Leben zu organisieren. Sie können sich schwerer unter der Arbeitswoche mit FreundInnen verabreden oder sie müssen die Treffen öfter kurzfristig absagen. Auch die Folgen für das Familienleben sind verheerend. Immer seltener kommen Eltern und Kinder zum Abendessen zusammen, weil ein Elternteil schon wieder länger – und dann noch länger – arbeiten muss.
Das eröffnet ein weiteres Problemfeld. Wer kann dem Arbeitgeber zwölf Stunden am Tag zur Verfügung stehen? Oder anders gefragt: Wer wird als leistungsbereiter empfunden, wenn es Beschäftigte gibt, die dazu eher bereit sind als andere? In der Regel werden Männer eher die Möglichkeit haben, es sich auch kurzfristig einzurichten, einen überlangen Arbeitstag zu leisten. Das liegt klarerweise nicht an ihrer größeren Leistungsbereitschaft, sondern an den gesellschaftlichen Gegebenheiten. In der Regel haben Frauen den größten Teil der unbezahlten reproduktiven Arbeit des Haushalts, der Kindererziehung und der Pflege naher Angehöriger zu leisten. Mit der generellen Ausweitung der Höchstarbeitsgrenzen macht man es Frauen noch schwerer, den Ansprüchen der Wirtschaft an Flexibilität und Einsetzbarkeit gerecht zu werden.
Gerne wird – vor allem vonseiten der Industrie – betont, dass es bei der Ausweitung der Arbeitszeit zu keiner Reduktion von Zuschlägen kommen soll. Es soll nur mehr gearbeitet werden dürfen. Angeblich geht es nicht darum, weniger zu zahlen. „Die Botschaft hör’ ich wohl“, beginnt sich Goethes Faust in mir zu melden, „allein mir fehlt der Glaube.“ Denn die Forderung nach genereller Ausweitung der Arbeitszeit auf zwölf Stunden steht ja nicht allein da. Sie ist Teil eines ganzen Pakets von Wünschen der Industrie, und in diesem Paket befindet sich auch die Forderung nach längeren Durchrechnungszeiten.
Keine Zuschläge
Das bedeutet, dass Überstundenzuschläge nicht sofort fällig werden, sondern erst dann, wenn die Arbeitszeit innerhalb eines gewissen Zeitraums im Durchschnitt bestimmte Grenzen überschreitet. Je länger dieser Zeitraum ist, desto eher lassen sich längere Arbeitszeiten durch Freizeit wieder ausgleichen. Und so wird heute die generelle Ausweitung der Höchstarbeitszeit gefordert, um morgen die Zuschläge über den Umweg der Durchrechnung zu streichen.
Erst zu unflexibel, dann zu teuer
Heute sagen sie „Es ist so unflexibel“ und morgen sagen sie „Es ist so teuer“. In diesem Fall ist das leicht zu durchschauen. Aber was wäre mit unserem Installateur, wenn nun wirklich zwölf Stunden auch kurzfristig ohne Strafdrohung generell möglich wären? Wären damit die Probleme gelöst? Der Soziologe Jörg Flecker hat die Arbeitszeitgrenzen öfters mit Geschwindigkeitsbeschränkungen im Straßenverkehr verglichen. Sind 50 km/h erlaubt, dann fahren viele 60. Bei 70 km/h sind es dann 80 – es gibt immer Überschreitungen. Wenn zehn Stunden erlaubt sind, dann werden es manchmal zwölf. Wenn zwölf Stunden erlaubt sind, dann werden auch diese überschritten.
Was uns zu unserem Beispiel zurückbringt. Denn was wäre nun, wenn die Therme auch nach zwölf Stunden Arbeit nicht wieder funktionstüchtig zusammengebaut wäre?
Martin Müller
ÖGB-Sozialpolitik
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 3/18.
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