Ganz zentral legt § 39 ArbVG in seinem Absatz 1 fest: „Ziel der Bestimmungen über die Betriebsverfassung und deren Anwendung ist die Herbeiführung eines Interessenausgleiches zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebes.“ Zwar ist das Arbeitsverfassungsgesetz durchdrungen von diesem Gedanken des Interessenausgleichs, aber keiner der Protagonist:innen war so naiv, von einer „Überwindung“ des Interessengegensatzes zwischen Betriebsinhaber:in und Arbeitnehmer:innen auszugehen. Damit kennt das ArbVG anders als die Betriebsverfassung unserer deutschen Kolleg:innen auch keine formalisierte „Friedenspflicht“ des Betriebsrats oder ein Verbot, zum Arbeitskampf als äußerstem Mittel der Interessendurchsetzung zu greifen.
Tatsächlich zeigt sich in der Praxis aber, dass die Baumeister:innen des ArbVG ein Gesetz gestaltet haben, dem es über weite Teile recht gut gelungen ist, die Interessengegensätze zwischen Unternehmer:innen und Arbeitnehmer:innen „friedlich“ auszugleichen. Das ArbVG stellt der Belegschaft und ihrer Interessenvertretung also einen nicht nur reichhaltigen, sondern vielfach auch ausreichenden Werkzeugkoffer zur Verfügung. Dennoch: Die Welt hat sich in den vergangenen 50 Jahren enorm verändert, und hier bröckelt das einstige Machtgleichgewicht.
In über 96 Prozent der Betriebe sind keine 150 Arbeitnehmer:innen mehr beschäftigt. Dem Geist des ArbVG entspräche es längst,
in kleineren Betrieben zumindest Teilfreistellungen zu ermöglichen.
Arbeitsverfassungsgesetz modernisieren? Der Blick in die Geschichte
Um die Frage nach einem Reformbedarf im Arbeitsverfassungsgesetz zu beantworten, müssen wir zunächst einen Blick in die Vergangenheit werfen. 1973 waren weite Teile der österreichischen Industrie verstaatlicht und Betriebsgrößen weit über 1.000 Arbeitnehmer:innen keine Seltenheit. Ein Fünftel der Industriebeschäftigten, 125.000 Arbeiter:innen, waren in der „Verstaatlichten“ beschäftigt. Die Rolle der Betriebsräte war dort insbesondere seit der Schaffung der ÖIAG (Österreichische Industrieholding AG) Ende der 1960er-Jahre besonders stark. Es gilt als Vorreiter für das Arbeitsverfassungsgesetz. Wenig überraschend orientierte sich das ArbVG damals (wie heute) am „klassischen“ Arbeitnehmer:innenbegriff. Mit stabilen, großen Standorten und relativ wenig Veränderung im behäbigen betrieblichen Geschehen.
Auch die großen Neuerungen im Vergleich zum Betriebsrätegesetz in der Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten haben genau diese Situation vor Augen: von der Möglichkeit zum Abschluss von Sozialplänen als Folge nachteiliger Betriebsänderungen bis hin zum ausgebauten Anfechtungsrecht bei sozialwidrigen Kündigungen. Viele Rechte sind auf die industriellen Großbetriebe zugeschnitten. Beispielsweise Richtlinien zur Vergabe von Werkwohnungen, Einstellungs- und Beförderungsrichtlinien.
Ganz anders die Situation heute. Über Privatisierungen, neue Managementformen wie „Lean Management“ und Kostenoptimierung durch Ausgliederungen wurde Österreich zum Land der Klein- und Mittelunternehmen. Wenn nicht sogar Kleinstunternehmen. Laut Arbeitsstättenzählung sind in über 96 Prozent der Betriebe in Österreich keine 150 Arbeitnehmer:innen mehr beschäftigt. Also die Grenze, die das Arbeitsverfassungsgesetz für die Freistellung eines Betriebsratsmitglieds vorsieht. Allein hier braucht es eine Ausweitung und mehr Flexibilität. Dem Geist des ArbVG entspräche es längst, in kleineren Betrieben zumindest Teilfreistellungen zu ermöglichen. Auch an zwischen mehreren Betriebsratsmitgliedern geteilte Freistellungen ist zu denken. Das würde die massiv veränderten Arbeitsrealitäten und zunehmenden Flexibilitätsanforderungen widerspiegeln.
Veraltete Grundlagen
Denn ein Arbeitnehmer (!) ist männlich, arbeitet Vollzeit bis zur Pensionierung, und das im selben Betrieb. So oder so ähnlich sahen das wohl die Autoren des ArbVG, wenn sie sich die Praxis ihres Monumentalwerks vor Augen führten. Damit wurde dem ArbVG ein heute zunehmend bröckelndes „Normalarbeitsverhältnis“ zugrunde gelegt. Unterbrochene Erwerbsbiografien, prekäre Dienstverhältnisse, zum Beispiel über freie Dienstverträge, dreipersonale Verhältnisse wie die Arbeitskräfteüberlassung oder die massive Teilzeitquote vor allem der Frauen passen da nicht rein. Die Folge sind unter anderem wenig diverse Betriebsratsgremien. Anderen Gruppen steht der Zugang zum Betriebsrat erst gar nicht offen (etwa freien Dienstnehmer:innen) oder nur unter sehr erschwerten rechtlichen und faktischen Bedingungen (zum Beispiel überlassenen Arbeitskräften).
Die notwendigen Maßnahmen sind mannigfaltig und reichen von der Einbeziehung der freien Dienstnehmer:innen ins ArbVG. – womit für sie erstmals Kollektivverträge gelten würden – bis hin zur Schaffung einer umfassenden Vertretung für überlassene Arbeitskräfte, die im Dreiecksverhältnis zwischen Überlasserbetrieb und Beschäftigerbetrieb stets das Nachsehen haben. Hier darf sich der Gesetzgeber durchaus trauen, das Vertretungsmandat aufzudoppeln! Und noch ein Phänomen greift um sich. Die Entgrenzung des Arbeitsortes, dezentrale Betriebsstrukturen, Homeoffice und mobiles Arbeiten stellen ganz neue Anforderungen an die Mitbestimmungsstrukturen des ArbVG – von der Betriebsversammlung bis zur Betriebsratswahl.
Veränderte Arbeitswelt
Vielfach wird ins Treffen geführt, dass es die neuen Technologien und ihr Einsatz in der Arbeitswelt seien, die eine Änderung des ArbVG verlangen würden. Tatsächlich ist der Gesetzgeber diesem Ruf allerdings bereits 1986 nachgekommen. Man schuf besondere Einsichtsrechte des Betriebsrats in die Grundlagen digitaler Datenverarbeitung und ein Mitbestimmungsrecht in Form einer Betriebsvereinbarung. Gleichzeitig wurde dem Betriebsrat (als besonders starkes Recht) ein Vetorecht gegen den Einsatz von Technologien gegeben, die Gefahr laufen, die Menschenwürde zu berühren. Der Gesetzgeber hat diese Bestimmungen bewusst technikneutral gestaltet. Und damit unabhängig vom Stand der Technologie oder neuen Phänomenen wie komplex vernetzten Netzwerken oder künstlicher Intelligenz. Dem ArbVG ist es egal, ob die Menschenwürde durch eine klassische Videoüberwachung oder eine komplexe Mensch-Maschine-Schnittstelle berührt wird. Wie so oft liegt das Problem nicht im Rechtlichen, sondern in der Handhabung in der Betriebsrealität.
Die technologische Entwicklung hat es mit sich gebracht, dass Informationen wesentlich einfacher zugänglich sind oder gemacht werden können als noch vor einigen Jahrzehnten. Gleichzeitig führt die technologische Komplexität dazu, dass kaum noch überblickt werden kann, was ein eingesetztes technisches System denn tatsächlich kann und wo allfällige Gefahren für die Arbeitnehmer:innen durch Überwachung, Kontrolle und Datenmissbrauch liegen. Was wir brauchen, ist eine Diskussion über die Ressourcen des Betriebsrats. In welchem Ausmaß können Expert:innen, die auch etwas kosten, hinzugezogen werden? Inwiefern muss der:die Betriebsinhaber:in nicht ohnedies Informationen so aufbereiten, dass sie zweifelsfrei nachvollziehbar sind? Hier braucht es tatsächlich lediglich eine Klarstellung im Gesetz – damit derlei Streitigkeiten im Sinne beider Seiten nicht unnötigerweise vor Gericht landen müssen.
Veränderte Betriebsrealitäten
Das Arbeitsverfassungsgesetz regelt einen klaren Vorrang des Kollektivvertrags vor der Betriebsvereinbarung. Dahinter steht der zentrale Grundsatz, dass Arbeitszeit– und Entgeltregelungen in branchenweiten Kollektivverträgen überbetrieblich zu treffen sind. Und damit dem negativen Wettbewerb zwischen den Betrieben entzogen werden. Betriebsvereinbarungen sind dementsprechend auf einen engen, im Gesetz abschließend aufgezählten Katalog beschränkt. Dieser wurde nennenswert nur ein einziges Mal, in den 1980er-Jahren, hinsichtlich neuer Phänomene wie Arbeitskräfteüberlassung und Digitalisierung modernisiert.
Gerade die veränderten Betriebsstrukturen,
wirtschaftlichen Verflechtungen und Auswüchse der Globalisierung lassen das Arbeitsverfassungsgesetz stellenweise älter als seine 50 Jahre aussehen.
Susanne Haslinger
Dennoch bringen es die geänderten Betriebs- und Arbeitsrealitäten mit sich, dass der Betriebsvereinbarung in manchen Bereichen eine stark steigende Bedeutung zukommt. Zum Beispiel bei der betriebsspezifischen Regelung der Arbeitszeit. Paradox: Korrespondierende Entgeltregelungen darf der Betriebsrat nicht in die Betriebsvereinbarung aufnehmen (etwa Zuschläge oder Zulagen). Damit fehlt ihm das maßgebliche Instrument zum Interessenausgleich. Spätestens mit der zunehmenden Flexibilisierung der Arbeitszeit in den 1990er-Jahren hätte hier nachgezogen werden müssen. Eine Erweiterung der Möglichkeiten, „echte“ Betriebsvereinbarungen mit Normwirkung abzuschließen, ohne dabei den Grundsatz des Vorrangs der Branchenkollektivverträge zu verletzen, ist längst geboten.
Veränderte Wirtschaftswelt
Auch die Wirtschaftswelt hat sich verändert, was nahelegt, das Arbeitsverfassungsgesetz zu modernisieren. Betriebswirtschaftliche Dogmen – nicht selten vom neoliberalen Mainstream seit den 1990ern beeinflusst – haben Einzug in die Chefetagen gehalten. Globalisierung(sdruck), Flexibilisierung und die „Standortfrage“ führen zu einer sukzessiven Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und einer Überwälzung des wirtschaftlichen Risikos auf die Arbeitnehmer:innen, womit das einst fortschrittliche System nicht mehr mithalten kann. Die betriebliche Mitbestimmung gelangt mehr und mehr an ihre Grenzen – der Betriebsrat ist regelmäßig dazu verdammt, Umstrukturierungen, Standortschließungen und groben Verschlechterungen lediglich mit einem Sozialplan und damit der „Abfederung“ in sozialer Hinsicht begegnen zu können. Das ist gut und wichtig – jedoch nicht ausreichend. Das Machtgleichgewicht ist damit in eine gehörige Schieflage geraten.
Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, dass regelmäßig Entscheidungen an der Konzernspitze in einem anderen Land getroffen werden, die einzig den Aktionär:innen gegenüber verantwortet werden müssen. Vielerorts ist der Betriebsrat zum „Störfaktor“ geworden. „Union Busting“ ist das moderne Stichwort, unter dem sich Sabotage des Betriebsrats, Verhinderung einer Betriebsratswahl oder schlicht noble Zurückhaltung von Informationen einordnen lassen. Derlei Praktiken gelten allerdings viel zu oft als Kavaliersdelikt. Wo ein Bruch mit der Arbeitsverfassung strafbar ist, werden die Pönalen aus der Portokasse bezahlt. Hier bedarf es effektiver, spürbarer Strafen bis hin zur lang geforderten gerichtlichen Strafbarkeit der Verhinderung von Betriebsratswahlen. Gleichzeitig muss der Kündigungsschutz für all jene, die erstmals einen Betriebsrat gründen wollen, zeitlich nach vorne gezogen werden, denn aktuell beginnt dieser Schutz erst mit der Wahl zum Wahlvorstand oder der Kandidatur und damit regelmäßig zu spät.
Arbeitsverfassungsgesetz modernisieren – Fazit
Die langen Vorarbeiten zum Arbeitsverfassungsgesetz machen sich bezahlt, in zahlreichen Bereichen kann es auch zu seinem 50. Geburtstag noch mit den geänderten Gegebenheiten Schritt halten. Das trifft allerdings nicht überall zu. Gerade die veränderten Betriebsstrukturen, wirtschaftlichen Verflechtungen und Auswüchse der Globalisierung lassen das Arbeitsverfassungsgesetz stellenweise älter als seine 50 Jahre aussehen. Hier ist dringender Handlungsbedarf gegeben, um das Arbeitsverfassungsgesetz zu modernisieren. Das gilt auch für den Arbeitnehmer:innenbegriff aus dem Jahr 1974 – er trifft zwar noch immer auf die Mehrheit der Beschäftigten zu, die zunehmenden Entgrenzungs- und Prekarisierungsphänomene am Rande kann das ArbVG allerdings nur teilweise mitnehmen. Hier ist genauso eine Öffnung vonnöten wie in der täglichen Betriebsratsarbeit: Teilfreistellungen, geteilte Freistellungen und ein leichterer, selbstverständlicher Zugriff auf externe Expertise ermöglichen es auch den Betriebsräten, mit den modernen Phänomenen ihrer Arbeits- und Betriebsrealität Schritt zu halten und die Interessen ihrer Belegschaft weiterhin effektiv zu vertreten.
Weiterführende Artikel:
Wie das Arbeitsverfassungsgesetz vor fiesen Tricks schützt