Interview mit Gudrun Biffl zur Arbeitsmigration nach Österreich
Arbeit&Wirtschaft: Frau Prof. Biffl, mittlerweile stehen auf der Berufsmangelliste des Arbeitsmarktservice (AMS) 110 Berufe. Hat es die österreichische Politik verabsäumt, sich rechtzeitig nach geeigneten Fachkräften im Ausland umzusehen, um diese gezielt anzuwerben?
Biffl: Ein Versäumnis sehe ich darin, dass die Leute, die in Österreich leben, zu spät und unzureichend qualifiziert und spezialisiert wurden. Das betrifft Migrant:innen wie auch Personen ohne Migrationshintergrund. Denn die Arbeitslosenzahlen sind kaum unter das Niveau von vor der Pandemie gesunken. Ohne Schulungsmaßnahmen sind das heute noch an die 190.000 Menschen. Man muss hier Maßnahmen setzen, damit diese Menschen nicht in die Langzeitarbeitslosigkeit rutschen. Die in- und ausländischen Arbeitssuchenden sind oft in anderen Bereichen qualifiziert als in den Berufen, die auf der Berufsmangelliste stehen. Hier muss sich die Politik regionale Matchings überlegen und eine innerösterreichische Mobilität fördern.
Österreich will bis 2027 jährlich 15.000 Fachkräfte aus Nicht-EU-Ländern ins Land holen. Sind die Kriterien für die Vergabe der Rot-Weiß-Rot-Karte für Drittstaatsangehörige zu hoch? Eine Analyse der OECD könnte darauf hindeuten. Denn Österreich scheint für qualifizierte Migrant:innen oftmals wenig attraktiv.
Die Arbeitsplätze, die über die Rot-Weiß-Rot-Karte (RWR) angeboten werden, sind sehr wenige. Es kommt daher häufig vor, dass Menschen aus Drittstaaten, die die Voraussetzungen für die RWR-Karte mitbringen, nach Österreich kommen, aber hier ein halbes Jahr lang keine passende Arbeit finden. Hier müsste von der Wirtschaftskammer stärker urgiert werden, dass mehr und geeignete Job-Angebote auf der Homepage der ABA/RWR-Karte für Interessierte ersichtlich sind. Das AMS vermittelt nur selten Berufe im akademischen Bereich. In diesen Bereichen hat das AMS de facto eine geringe Einschaltquote. Und das, obwohl es die zentrale Institution zur Arbeitsvermittlung in Österreich ist oder sein sollte. Andere Gründe, dass jemand nicht nach Österreich zum Arbeiten kommt, sind das schlechte Abschneiden bei den PISA-Tests, bei der Gruppe der Österreicher:innen mit Migrationshintergrund – da das kein gutes Licht auf die Bildungschancen der Kinder von Zuwanderern:innen wirft. Und natürlich die Ausländerfeindlichkeit und der offene Rassismus mancher Politiker:innen. Somit verfestigt sich auch in der Bevölkerung ein Ausländerhass. Leider können wir das aktuell am hochkochenden Antisemitismus im Land beobachten. Willkommenskultur herrscht in Österreich keine.
Wie bewerten Sie das Abkommen, das Österreich mit den Philippinen geschlossen hat? Bis zum Jahr 2027 sollen jährlich 400 qualifizierte Pflegekräfte über die RWR-Karte nach Österreich geholt werden. Mittelfristig noch mehr Personen.
Mit den Philippinen hat man seit den 1970er-Jahren gute Erfahrungen gemacht. Damals wurden Pflegekräfte nach Österreich geholt. Die Ausbildung im Gesundheitsbereich ist dort international standardisiert und Österreich hat keine Weiterbildungskosten zu tragen. Bei dem Vorhaben in den kommenden Jahren muss man aber genau hinschauen, aus welchen Regionen man die qualifizierten Arbeitskräfte zu uns holt. Sonst löst man vor Ort im Herkunftsland einen Mangel an Pflegekräften bei der Versorgungsstruktur aus. Für Österreich wäre es außerdem wichtig, Länder, mit einer jungen Bevölkerung, vermehrt ins Blickfeld zu nehmen – dazu gehören afrikanische Länder oder auch Indien. Mit ihnen könnte man in Zukunft bei der Anwerbung von qualifizierten Arbeitskräften zusammenarbeiten und verstärkte wirtschaftliche Kontakte knüpfen.
Drittstaatsangehörige arbeiten in Österreich oftmals unter ihrem eigentlichen Qualifikationsniveau und in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Eine aufwendige Nostrifikation der im Ausland erworbenen Qualifikationen verhindert es, dass gelernte oder studierte Fachkräfte in ihren eigentlichen Berufen zum Einsatz kommen. Sollten die im Ausland erworbenen Qualifikationen in Österreich schneller anerkannt werden?
Schnell ist gefährlich, aber man muss sich das genau anschauen. Wenn Leute praxisorientierte Qualifikationen erworben haben, dann braucht es hier Tests, die die Kompetenzen abchecken. Deshalb gibt es beispielsweise beim AMS aktuell auch den Übergang weg von einem reinen Qualifikationsmatching hin zum Kompetenzmatching. Die Nostrifikationen in Österreich sind langwierig und entmutigend. Wenn Fachkräfte sehen, dass in anderen Ländern ihre Kompetenzen rascher erfasst werden, dann gehen sie natürlich lieber dorthin. Die diversen Demütigungen, die in diesem Zusammenhang in Österreich stattfinden, sind nicht gut für die Psyche und die spätere Integration in den Arbeitsmarkt. Wir sollten uns daher überlegen, ob unser Bildungssystem bzw. die Art, wie wir berufliche Qualifikationen feststellen, adäquat für die Akkreditierung von im Ausland erworbener Qualifikationen sind.
Der neueste Forschungsbericht des Österreichischen Integrationsfonds zu den Erwerbsverläufen von Migranten:innen aus diesem Frühjahr zeigt, „dass unter Frauen die Arbeitsmarktintegration deutlich langsamer verläuft als bei Männern gleicher Herkunft“. Fünf bis sechs Jahre nach der Zuwanderung ist erst eine von fünf Frauen ausreichend beschäftigt. Wie kann die Beschäftigungsquote bei diesen Frauen schneller angehoben werden, welche Voraussetzungen braucht es?
Bei der begleitenden Integrationsarbeit haben wir gesehen, dass hier beispielsweise Imame eingebunden werden können. Dadurch haben Familien oft Vorteile. Etwa weil die Frauen rascher sozial und beruflich integriert werden, die Kinder von einer arbeitenden Mutter mehr unterstützt werden, und sich die Familien mehr leisten können. Es braucht aber auch eine Analyse der Umstände, um herauszufinden, was die Auslöser sind. Fehlen die richtigen Kompetenzen oder sind es die fehlenden Kinderbetreuungsplätze? Man findet ohne einen Kindergartenplatz nur schwer einen Arbeitsplatz und umgekehrt. Das hängt zusammen, hier darf man nicht mit dem Finger auf die Frauen zeigen und ihnen unterstellen, dass sie nicht arbeiten wollen.
Im Jahr 2024 stehen dem AMS 75 Millionen Euro mehr an Budget für eine intensivere Betreuung von jungen Flüchtlingen zur Verfügung. Dieses Geld soll für verbindliche Vollzeitmaßnahmen verwendet werden, um dort Deutsch-Kenntnisse zu erwerben und auch um Berufspraktika zu absolvieren. Wie stehen Sie zu diesem Ansatz und sind 75 Millionen Euro so viel, wie es klingt?
Ein Budget von 75 Millionen Euro stand auch in den Jahren 2015/16 zur Verfügung, als viele Menschen nach Österreich geflüchtet sind. Damals waren die Qualifikationen der Zuwanderer:innen jedoch ziemlich gut. Es kamen viele aus der syrischen und irakischen Mittelschicht zu uns. Jetzt sind die Qualifikationen teils schlechter. Die betroffenen Personen sind in ihrer eigenen Muttersprache nicht alphabetisiert worden, nicht zuletzt, weil sie verstärkt aus Flüchtlingslagern kommen, in denen Kinder keinen Zugang zu Schulen hatten und Erwachsene nicht arbeiten konnten. Es braucht daher rasche Maßnahmen. Es müssen auch Personen mit geringen Qualifikationen schnell in den Arbeitsmarkt aufgenommen werden.
Ohne österreichische Staatsbürgerschaft ist es für Beschäftigte aus Drittländern nicht möglich, an Nationalratswahlen oder Bundespräsidentschaftswahlen teilzunehmen. Die Zahlen zeigen, das Demokratiedefizit steigt immer weiter an. Sollte es neben der Verleihung der Staatsbürgerschaft weitere Möglichkeiten geben, dass sich jemand am politischen Geschehen in Österreich beteiligen kann?
Ich unterstütze die Wahlbeteiligung im regionalen Bereich, wie es beispielsweise Wien im Jahr 2004 versucht hat. Die hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) aufgrund des Verstoßes gegen das Homogenitätsprinzip allerdings gekippt. Die Staatsbürgerschaft in Österreich zu bekommen, ist extrem schwierig. Manche Parteien folgen hier dem Prinzip „Je schwieriger, desto besser“. Aber es wäre hilfreich, den Menschen zumindest die Möglichkeit zu geben, auf regionaler Ebene zu wählen. In Wien gibt es viele ausländische Personen mit hohen Qualifikationen, die in ihrem Arbeitsumfeld leicht mit Englisch durchkommen und Deutsch nicht erlernen, da sie es nicht benötigen. Diese Personen leben transnational, aber machen einen gewissen Prozentsatz der Wiener Bevölkerung aus. Sie wenden sich teilweise von Österreich ab und entwickeln kein Zugehörigkeitsgefühl. Eben, weil sie nicht am demokratischen Prozess teilhaben können.
Welche Rolle spielen Partizipationsmöglichkeiten wie die im Frühjahr 2024 stattfindenden AK-Wahlen? Für Drittstaatsangehörige sind diese und Betriebsratswahlen die einzigen Möglichkeiten, an einem demokratischen Prozess in Österreich teilzunehmen.
Diese Möglichkeiten sind unwahrscheinlich wichtig für die Teilhabe. Betriebsratswahlen sind beispielsweise für Migrant:innen mit einfachen Qualifikationen die einzige Chance, ihren Sozialstatus zu steigern. Es ist sehr relevant, weiterhin das aktive wie passive Wahlrecht für Migrant:innen zu fördern. Denn in einem Betrieb muss es egal sein, woher eine Person kommt.
Wie sich Migration auf Arbeitsmarkt und Löhne auswirkt, analysiert Gudrun Biffl in ihrem Buch „Migration und Arbeit“ (erschienen im Verlag der Österreichischen Wissenschaften).