Gabriele Schmid, Stabstelle Fachkräfte in der Bereichsleitung Soziales der AK Wien, schließt sich der Kritik an. Sie hat das White Paper „Fachkräftebedarf in Österreich – Analyse der Ursachen, Status der Quantifizierung und steuernde politische Maßnahmen aus Arbeitnehmer:innensicht“ geschrieben, das im März veröffentlicht wurde. Auch sie stieß an die Grenzen der Datenlage. Es gebe das AMS-Fachkräftebarometer und den Fachkräftemonitor, aber kein „wirklich solides Zahlengerüst“. So sei nicht bekannt, wie viele Menschen welche Berufe ausüben oder aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden: „Ohne eine halbwegs gesicherte Ausgangslage ist es schwer, die notwendigen Schritte zu setzen und ein entsprechendes Ausbildungsangebot zu schaffen.“ Spätestens jetzt aber müssten Aktivitäten gesetzt werden, um Menschen für die benötigten Berufsfelder auszubilden, denn das dauert Jahre. Dass das nicht passiert, hält Schmid für fahrlässig.
Arbeitsmarkt kann konstruktiven Beitrag zur Klimakrise leisten
Grob dürfte der Fachkräftebedarf in Österreich aktuell bei 210.000 Personen liegen, wobei die zugrunde liegende Unternehmensbefragung des Wirtschaftskammer-Forschungsinstituts ibw nicht zwischen Fachkräften und Arbeitskräften unterscheidet. Groß ist der Bedarf vor allem in der Pflege, in der Kinderbetreuung und in Schulen sowie in Gastronomie, Hotellerie und Handel. Auch IT bzw. IKT sind unterversorgte Bereiche. Und nicht zuletzt hat sich Gabriele Schmid den wachsenden Arbeitskräfte- und Fachkräftebedarf aufgrund der sozial-ökologischen Transformation angesehen. „Wenn wir in Österreich zum Thema Klimakrise einen konstruktiven Beitrag liefern wollen, brauchen wir die entsprechenden Fachleute. Vor allem im Bereich der Gebäudesanierung und generell in handwerklichen Berufen, also etwa Installateur:innen und Dachdecker:innen. Dort liegen die großen Herausforderungen der Zukunft.“
Aber wie ist der Arbeitsmarkt in diese Schieflage geraten? Und vor allem: Wie kommen wir wieder raus? Die Hauptgründe für den Fachkräftebedarf sind dem White Paper zufolge: Betriebe ziehen sich aus der betrieblichen Aus- und Weiterbildung zurück; viele Fachkräfte gehen in Pension; und es entsteht ein hoher Bedarf durch die „Twin Transition“, also Digitalisierung und Klimawandel. Gabriele Schmid stellt fest, dass Unternehmen beim Fachkräfte- und Arbeitskräftebedarf mehr in der Verantwortung sind, als sie zugeben. In der Gastronomie oder im Handel etwa handle es sich fast durchwegs um ein Problem der Vertreibung von Fachkräften, weil die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung weiterhin schlecht seien. Auf dem aktuellen Arbeitsmarkt könnten Menschen den Job wechseln: „Und das machen sie auch. Alle Unternehmen, die gute Arbeitsbedingungen anbieten, finden Leute.“
Billige Arbeitskräfte aus dem Ausland
Anstatt an dieser Schieflage etwas zu ändern, indem sie mehr bezahlen, bessere Arbeitsbedingungen schaffen, Lehrlinge ausbilden und Weiterbildung für ältere Arbeitnehmer:innen anbieten, versuchen laut Schmid viele heimische Betriebe, „billige Arbeitskräfte aus dem Ausland zu bekommen“. Insbesondere Weiterbildung werde stiefmütterlich behandelt. Dabei sei der Wettkampf um die besten Arbeitskräfte in ganz Europa im Gange, und es werde bald nicht mehr möglich sein, aus Nachbarstaaten oder anderen EU-Ländern Arbeitskräfte zu rekrutieren – insbesondere qualifizierte Arbeitskräfte. Schmid: „Leben wir jetzt im Kapitalismus, oder nicht? Wenn wir sagen: Hier herrscht Angebot und Nachfrage, und die Menschen suchen nach Jobs, dann gehen sie dorthin, wo sie besser bezahlt werden.“ Die Hürden für Zuzug seien immer noch sehr groß, wie man etwa bei der Rot-Weiß-Rot-Karte selbst nach den Erleichterungen sieht.
Zuzug sei aber ohnehin nur ein kleiner Teil der Lösung: „Es wird Migration und Zuwanderung brauchen, damit wir genug qualifizierte Fachkräfte haben, die das Wirtschaftssystem am Leben erhalten und modernisieren. Aber es gibt ausreichend Potenzial an Arbeitskräften im Inland, die unserer Meinung nach zuerst angesprochen und qualifiziert werden sollten.“ Schmid denkt vor allem an die „Entmutigten“ auf dem Arbeitsmarkt – zwischen 300.000 und 400.000 Menschen, viele von ihnen Migrantinnen aus Staaten, in denen Frauen kaum Chancen hatten. „Die muss man ansprechen und qualifizieren. Aber es braucht auch Infrastrukturmaßnahmen wie Kinderbetreuung, Pflege, Ausbau des öffentlichen Verkehrs in ländlichen Regionen und Gesundheitsmaßnahmen.“
Rückzug aus dem Arbeitsmarkt
Das bestätigt auch Julia Bock-Schappelwein, Senior Economist in der Forschungsgruppe „Arbeitsmarktökonomie, Einkommen und soziale Sicherheit“ am WIFO. In ihrer Forschung für die Studie „Integration von Frauen auf dem niederösterreichischen Arbeitsmarkt“ wurde etwa deutlich, „dass vor allem viele junge Migrantinnen sich mit der Familiengründung gänzlich aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen. Da wäre es wichtig zu schauen, dass diese Frauen den Anschluss zum Arbeitsmarkt nicht verlieren.“ Ein weiteres Problem ist die demografische Entwicklung. Ältere Erwerbstätige sollten in Beschäftigung gehalten werden, damit sie nicht frühzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Und bislang nicht erwerbstätigen Personen sollte der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden – etwa Menschen mit Behinderungen und „NEETs“, also jungen Menschen, die den Weg von der Ausbildung zum Arbeitsmarkt nicht schaffen und dem Arbeitsmarkt verlorengehen.
Helmut Mahringer, Ökonom @WIFOat: „Unsere Studie zeigt: Es gibt erhebliche zusätzliche Potenziale an Arbeitskräften. Neben Arbeitssuchenden gibt es weitere Gruppen, die sogenannte ‚stille Reserve‘ und die unterbeschäftigten Teilzeitkräfte.“ pic.twitter.com/DjSJcaFgqO
— AK Österreich (@Arbeiterkammer) October 13, 2023
Ein Arbeitsmarkt mit neuer Arbeitskultur
Trotz wirtschaftlich schwieriger Zeiten sollten Unternehmen jetzt in ihre Mitarbeiter:innen investieren, um der Arbeits- und Fachkräfteproblematik entgegenzuwirken. Julia Bock-Schappelwein ist dabei eine neue Denkweise, weg von der Defizitorientierung, wichtig. Sie fragt sich: Was machen Unternehmen richtig, die keine Schwierigkeiten beim Suchen und Halten von Arbeitskräften haben? Das hat sie sich für die Studie „‚New Work‘ in der Industrie“ konkret angesehen. Zum Beispiel bieten Good-Practice-Unternehmen verschiedene Arbeitszeitmodelle an, darunter etwa Teilzeit-Schichtmodelle: „Manche haben sogar sieben verschiedene Schichtmodelle, um den Präferenzen der Mitarbeiter:innen entgegenzukommen.“ Ein ganz großes Thema sei auch die wertschätzende Arbeitskultur. Und auch die Aus- und Weiterbildung sowie die Arbeitsplatzgestaltung waren laut Studie wesentlich für die Mitarbeiterbindung. Es gibt also noch sehr viele Stellschrauben, um etwas für den Fachkräftebedarf zu tun – auch, aber nicht nur durch Migration.
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