Mit Anti-Streik-Gesetz gegen höhere Löhne
Großbritannien kennt aktuell nur ein Thema. Die „cost of living crisis“. Also die Lebenskostenkrise. Wie in Österreich auch treibt die Inflation die Preise für Lebensmittel, Energie und Wohnen in ungeahnte Höhen. Doch während es hierzulande die Gewerkschaften geschafft haben, die Bevölkerung vor den schlimmsten Folgen zu bewahren, eskaliert die Situation in Großbritannien. Aus verschiedenen Gründen.
Zum einen ist die Nachfrage nach Arbeitskräften in Großbritannien wesentlich größer. Hintergrund ist der Brexit. Früher konnte das Land einfach Arbeiter:innen aus Europa rekrutieren. Vor allem, um Personallöcher im Gesundheitswesen zu stopfen. Diese Möglichkeit fehlt jetzt. Eines der wichtigsten Argumente für den Brexit – die angeblich frei werdenden finanziellen Mittel, die in das nationale Gesundheitssystem (NHS) investiert werden könnten – entpuppte sich auch für die letzten als dreiste Lüge. Zum anderen verteuerte das Ausscheiden die Waren, die aus der EU importiert werden, zusätzlich.
Mit Streik und Protest gegen die Lebenskostenkrise
Seit Jahresbeginn wechseln sich die Branchen, die streiken, in Großbritannien ab. Mal sind es die Lehrer:innen, mal Lokführer:innen oder der Grenzschutz. Bei Letzteren sprangen Soldaten ein. Sie kontrollierten an den Londoner Flughäfen Heathrow und Gatwick die Pässe der Einreisenden. Doch vor allem am Gesundheitsbereich wird die Hilflosigkeit der aktuellen Regierung deutlich.
Während des aktuellen Winters wütet in Großbritannien – wie auch in vielen anderen Ländern – eine Influenza-Welle. Viele Patient:innen müssen ins Krankenhaus. Parallel steigt die Zahl der Coronafälle an. Im November 2022 mussten 38.000 Menschen länger als zwölf Stunden in der Notaufnahme warten, bis sie aufgenommen wurden. Vor den Krankenhäusern bilden sich lange Schlangen an Rettungswägen, die ihre eingesammelten Patient:innen nicht abliefern können. Das System ist schon derart lange marode, dass die eigentliche Meldung in Großbritannien nicht ist, dass Menschen überhaupt so lange warten müssen, sondern dass sich deren Zahl dreieinhalbmal höher lag als im Vorjahresmonat.
Dank des Engagements der Mitarbeiter:innen überstand Großbritannien trotz eines derart kaputt-gesparten Systems die Hochphase der Coronapandemie. Für die Angestellten der Branche warb der im Jahr 2020 der damalige Premierminister dafür zu klatschen. „Clap for Carers“, so sein Aufruf. Mehr Geld gab es nicht. Jetzt fordern die ehemaligen Held:innen der Pandemie 19 Prozent mehr Lohn. Die Regierung bietet ihnen fünf Prozent. Eine Einigung ist nicht in Sicht.
Anti-Streik-Gesetz statt Verhandlungen
Statt auf die Streikenden zuzugehen, die sich Sorgen machen, ob sie sich Essen und eine Wohnung leisten können, will Sunak ihnen den Arbeitskampf verbieten. Per Anti-Streik-Gesetz. Das soll in den Bereichen der kritischen Infrastruktur – unter anderem Gesundheit, Bildung, Feuerwehr – das Streikrecht einschränken. So soll die Versorgung sichergestellt werden. Wer dagegen verstößt, soll gekündigt werden können.
In der Bevölkerung fällt das Verständnis für die Streiks unterschiedlich aus. Die größten Sympathien bekommt das Pflegepersonal. Für die Arbeitsniederlegung des Grenzschutzes und der Polizei haben weniger Bürger:innen Verständnis. Dennoch wird der Vorstoß von Sunak als Klassenkampf verstanden. Längst haben die Zeitungen des Landes diesen Begriff übernommen, um über das Anti-Streik-Gesetz zu berichten.
Kein Wunder. Denn die Tories legen einen aggressiven den Ton an den Tag. Das Problem seien gar nicht die miesen Arbeitsbedingungen, sondern die Gewerkschaftschefs mit ihren hohen Gehältern. Nicht die hohe Inflation müsste bekämpft werden, sondern die Arbeitnehmervertreter:innen, die nur Roboter seien, die ständig ‚nein‘ sagen würden.
Heftige Daten zu Großbritannien. Was Politik alles im Gesundheitswesen anrichtet, die auf einen schwachen Staat, Kürzungen der öffentlichen Dienstleistungen, und Privatisierung setzt. https://t.co/IVu2RkrsBk
— Oliver Picek (@OliverPicek) January 11, 2023
Reaktionen auf das Anti-Streik-Gesetz
Das Anti-Streik-Gesetz gilt in Großbritannien als sehr durchsichtiges Manöver. Sunak versuche durch Härte die Partei und die Wähler zu einen, so die Meinung der politischen Analyst:innen. Schließlich habe das unter Margaret Thatcher in den 1980er Jahren schon einmal funktioniert. Entsprechend eindeutig sind die Reaktionen auf das Anti-Streik-Gesetz. Keir Starmer, Labour-Oppositionsführer, grub ein zwei Jahres altes Wortspiel aus. Statt „Claps for Carers“ gäbe es jetzt „Slaps for Carers“. Also Ohrfeigen statt Applaus.
„Diese drakonische Gesetzgebung ist undemokratisch, nicht durchführbar und mit ziemlicher Sicherheit illegal“, machte Paul Nowak deutlich. Er ist Chef des Trades Union Congress. Also des Gewerkschaftsbundes. Aus Schottland meldete sich Mhairi Black von der Nationalpartei zu Wort. „Die Wahrheit ist, dass dieses Gesetz die Rechte von Arbeitnehmern sowie die Demokratie untergraben und attackieren soll.“ Die Tories würden nur gegen die Gewerkschaften vorgehen, weil deren Arbeit funktioniere.
Großbritannien: Kein Ende der Streiks
Für die kommenden Wochen und Monate sind in Großbritannien fast durchgehend Arbeitsniederlegungen angekündigt. Löst die Tory-Regierung die Lebenskostenkrise nicht rasch, dürfte das Ende ihrer Regierungszeit bei den Parlamentswahlen 2024 besiegelt sein. Aktuelle Umfragen sehen die Tories rund zwanzig Prozentpunkte hinter Labour (45 bis 47 Prozent).