Analyse: Was das EU-Wahlergebnis für Arbeitnehmer:innen bedeutet

Eine EU-Flagge, an der auf einer Hebebühne zwei Arbeiter:innen arbeiten. Symbolbild für das soziale Europa.
Wird die EU jetzt umgebaut? Der Erfolg der Rechten und der Europäischen Volkspartei wird Europa eine neue Richtung geben. | @ Adobestock/Sir_Oliver
Das Ergebnis der Europa-Wahl stärkt das politische Spektrum rechts der Mitte. Extreme, populistische und nationalistische Parteien haben zugelegt. Für Arbeitnehmer:innen bedeutet das nichts Gutes.
Der Sonntagabend war geprägt von einer Schlagzeile: „Rechtsruck in Österreich“. Die FPÖ erzielte mit etwas mehr als 25 Prozent den Platz 1. Die Headline „Rechtsruck“ trifft aber auch auf andere Länder zu. In Deutschland gewinnt die AfD vor allem mithilfe vieler Stimmen der Jungwähler:innen. Marine Le Pen triumphiert in Frankreich und löst ein innenpolitisches Erdbeben aus: Staatspräsident Emmanuel Macron löst die Nationalversammlung auf und ruft Neuwahlen aus. In Italien siegt die neofaschistische Partei „Fratelli d‘Italia“ von Giorgia Meloni. In Ungarn, das in der zweiten Hälfte dieses Jahres den Vorsitz in der EU übernimmt, verliert Viktor Orbán die absolute Mehrheit. Immerhin ein Dämpfer für seine illiberale Demokratie.

Noch wissen wir nicht, ob die Fraktionen der diversen rechten Parteien gleich bleiben wie bisher oder ob sie neue Formationen bilden. Beschlüsse der vergangenen Jahre haben immer wieder gezeigt, dass es bei Fragen der Klimapolitik, der Gleichstellung, der Agrar- und Regionalförderungen, bei Anliegen von Arbeitnehmer:innen oder beim Lieferkettengesetz eine Allianz der rechten Gruppierungen gab, in manchen Fällen auch mit der Europäischen Volkspartei. Es wird also auf das Votum bei spezifischen Fragen ankommen und nicht nur auf die Zugehörigkeit zu einer Fraktion – im EU-Parlament gibt es ja keinen Fraktionszwang. Eines ist aber klar: Pro-europäische Entscheidungen werden durch den Sieg der Rechten schwieriger. Eine EU-Politik, die auf die Stärkung der Rechte von Frauen sowie von Arbeitnehmer:innen zielt, wird mit diesem Wahlergebnis blockadeanfällig.

Sozialpartnerschaft gegen Populismus

„Besorgniserregend“ nennt Oliver Röpke, der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA), das Ergebnis der EU-Wahl. Für ihn ist es ein „Weckruf an die demokratischen Kräfte“, künftig stärker zusammenzuarbeiten und „nicht mit Extremisten zu paktieren“. Röpke drängt darauf, die Sozialpartnerschaft auf europäischer Ebene zu verteidigen, um gegen Populist:innen aufzutreten und Mehrheiten für ein starkes soziales Europa zu finden. „Die Rechten haben bisher gegen alles gestimmt, was ein soziales Europa angeht und die ökonomischen und sozialen Sorgen der Menschen betrifft“, sagt der EWSA-Präsident gegenüber „Arbeit&Wirtschaft“.

Die Baustellen der EU

Was steht in der nächsten Legislaturperiode inhaltlich auf dem Prüfstand? Die Skizzen der Brüsseler Baustellen sind bekannt. Nach dem Vorbild des „Green Deal“ soll jetzt ein „Deal für die europäische Wettbewerbsfähigkeit“ kommen, wie es die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen Mitte April festgelegt haben. Teile des ambitionierten Klimaschutzprogramms sollen zurückgenommen oder verwässert werden. Zum Beispiel will die EVP das für 2035 beschlossene Aus für Verbrennungsmotoren wieder kippen. Heftige Widerstände gibt es bei der Umsetzung des europäischen Renaturierungsgesetzes. Auch Österreich widersetzt sich den Plänen zur Wiederherstellung der Natur. Am 17. Juni folgt darüber im Rat der Umweltminister:innen die Entscheidung.

Die Rechten haben bisher gegen alles gestimmt,
was ein soziales Europa angeht und
die ökonomischen und sozialen Sorgen der Menschen betrifft.

Oliver Röpke, Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA)

Eine weitere Europa-Baustelle ist die Landwirtschaft und die Regionalpolitik, in die weit mehr als die Hälfte des EU-Budgets fließen. Die Agrarpolitik der vergangenen Jahre ist schlicht gescheitert. Unter heftigen Bauernprotesten und massiven Lobbying mächtiger Verbände räumte die EU Umweltvorschriften, die in den vergangenen drei Jahren ausverhandelt worden waren, einfach ab. Das wird mit Sicherheit die Verhandlungen über die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) beeinflussen. Die GAP regelt die Vergabe der Subventionen an Bauern, die ein gutes Drittel des EU-Haushaltes ausmachen.

Gemeinsame Schulden?

Verteidigung und Sicherheit sind weitere Aufgaben ebenso wie die Entscheidung über das mehrjährige EU-Budget von 2028 bis 2034. Der bisherige Budgetrahmen bis 2027 in Höhe von mehr als 1,2 Billionen Euro setzt sich aus den Beiträgen der Mitgliedsländer sowie einem jeweils festgelegten Anteil an den Mehrwertsteuer- und Zolleinnahmen zusammen. Der Ruf Frankreichs nach einer Verdoppelung des EU-Haushalts sowie der Aufnahme gemeinsamer Schulden wird lauter und auch in anderen Ländern gehört. Doch der größte EU-Staat, Deutschland, ist dagegen. Auch Österreichs Regierung zeigt sich bislang ablehnend, wenn es um gemeinsame Schulden zugunsten von Investitionen in Beschäftigung und Soziales geht.

Auf der Agenda von Kommission, Parlament und Rat stehen die Energiewende und eine Reform des Emissionshandels. In den nächsten Jahren sollen weniger Zertifikate für energieintensive Unternehmen, die viel Kohlendioxid ausstoßen, verkauft werden.

Das sind die großen inhaltlichen Aufgaben. Ob es für viele Themen, die für Arbeitnehmer:innen, für Jugendliche oder Studierende relevant sind, Mehrheiten im Parlament geben wird, steht in den Sternen. Wenn der progressive Anteil der Fraktionen der Mitte, EVP, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne groß genug wird, um für ein sozialeres und auf Integration ausgerichtetes Europa zu stimmen, könnten diese wichtigen Anliegen berücksichtigt werden.

Zähne zeigen

Die bisherige sozialpolitische Bilanz des EU-Parlaments kann sich jedenfalls sehen lassen: Mindestlohn-Richtlinie, fixe Frauenquoten in Aufsichtsräten, Lohntransparenz, mehr Möglichkeiten für Europäische Betriebsräte, Mindeststeuer für globale Konzerne sowie der Kampf gegen Korruption und Steuerbetrug. Das alles wurde durchgesetzt.

Wichtig wäre aber, die Vorteile des Binnenmarktes und der Regionalförderung auszubauen, um die wirtschaftliche und soziale Kluft zwischen den EU-Staaten zu verringern. Warum soll die EU künftig nicht Arztstellen am Land, von denen es viel zu wenige gibt, mitfinanzieren? Das wäre sicherlich ein Beitrag, um etwas für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu tun und würde auch die Einstellung zur EU verändern.

Auch der Verbraucherschutz muss besser werden. Es geht um günstige Preise, sichere Lebensmittel, mehr Rechte für Kund:innen und Reisende. Und wie steht es um die Erlöse für Stromproduzent:innen? Sollten diese nicht gedeckelt und der Strom aus erneuerbaren Energien günstiger und vom Emissionshandel entkoppelt werden? Nicht zu vergessen wäre auch der Abschluss fairer und nachhaltiger Handelsverträge. Die Liste der berechtigten Anliegen von Konsument:innen und Arbeitnehmer:innen ist lang. Das Parlament ist gleichberechtigter Gesetzgeber mit dem Rat, es entscheidet mit und kann – wenn nötig – auch Zähne zeigen.

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Über den/die Autor:in

Margaretha Kopeinig

Margaretha Kopeinig ist freie Journalistin, Autorin und Brüssel-Korrespondentin für den Kurier. Ihre universitäre Ausbildung führte sie nach Wien und Bogotá, wo sie sich mit den Schwerpunkten Politik, Soziologie und Geschichte beschäftigte.

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