Dabei ist Rainer Hofer kein Einzelfall. In Österreich leben rund eine Million funktionale Analphabet:innen. Das ist jeder neunte Mensch. Die Zahl wurde vor mehr als zehn Jahren von der OECD für die PIAAC-Studie ermittelt. Darin wurden neben anderen Schlüsselkompetenzen die Lesekompetenzen von Erwachsenen überprüft – Schreibkompetenzen wurden nicht getestet. Das Ergebnis: Eine knappe Million Menschen in Österreich können nicht lesen oder haben nur geringe Lesekenntnisse. Sonja Muckenhuber, Gründerin und Leiterin des B!LL Instituts für Bildungsentwicklung Linz, die schon seit den 1990er-Jahren im Bereich Basisbildung tätig ist, erklärt: „Zu dieser Million gehören auch Menschen, die ganz einfache Texte lesen können, aber ein bisschen anspruchsvollere nicht mehr. Sie können mit Sicherheit weder eine Wahlinformation noch einen Beipackzettel oder einen Aufklärungszettel im Krankenhaus lesen.“ Gleiches gilt für eine amtliche Vorladung, einen Brief vom AMS oder einen Arbeitsvertrag.
Verzicht auf Arbeitslosengeld durch Analphabetismus
Als Rainer Hofer so gut wie nicht lesen konnte, war sein Leben sehr anstrengend. Gab es im Restaurant kein Menü mit Bildern, deutete er auf irgendeinen Tisch und bestellte dasselbe – ob es ihm schmeckte oder nicht. Gab es keine anderen Gäste, kam er ins Schwitzen. Die Buchhaltung machte seine Frau. Zwar hat er den Führerschein, weil er für die Prüfung den Stoff, den ihm ein Freund vorlas, auswendig lernte. Doch dann fuhr der Oberösterreicher fast nur auf Landstraßen. Stadtfahrten vermied er, weil dort zu viele Hinweisschilder zu lesen waren.
Auch bei der Arbeit hatte Hofer Probleme. Er arbeitete am Bau, wo es Phasen von Arbeitslosigkeit gab. Da er den Antrag auf Arbeitslosengeld nicht ausfüllen konnte, verzichtete er auf das Geld – insgesamt kamen sechs Monate ohne Einkommen zusammen. Aber das Schlimmste von allem war die Angst, aufzufliegen. Sie besteht bis heute, obwohl er dank der kostenlosen Basisbildungskurse, die er schließlich besucht hat, schon seit rund 15 Jahren lesen und schreiben kann: „Es wäre für mich eine Katastrophe, mich zu outen.“ Der Mittfünfziger lacht. „Vielleicht sollte ich ein paar Stunden beim Psychiater nehmen, damit ich das Outing schaffe.“
Was ihn richtig ärgert, ist die Bagatellisierung von Analphabetismus, wie sie vor allem in ländlichen Gegenden noch vorkommt: „Wenn jemand nicht lesen kann, wird das oft als Lappalie abgetan – nach dem Motto: ‚Sei froh, dass du gesund bist, schau dir andere an, die sitzen im Rollstuhl.‘“ Das bestätigt Sonja Muckenhuber, die seit Jahrzehnten im Bereich Basisbildung und Deutsch als Erstsprache arbeitet: „Auf dem Land findet man immer noch die Haltung: Das sind liebe Kinder – die werden schon ihren Weg machen, auch wenn sie nicht lesen und schreiben können.“
Analphabetismus kreativ kompensieren
Für Außenstehende sind Lese- und Schreibschwächen oft schwer erkennbar. Schließlich suchen und finden viele Betroffene zahlreiche Aus- und Umwege. Rainer Hofer sagt: „Durch mein Defizit bin ich kreativ geworden.“ Ein Klassiker ist zu sagen, man habe seine Brille vergessen – etwa am Amt oder beim Arbeitgeber. Dann darf man Formulare oder Verträge mit nach Hause nehmen. Oder man sagt: „Bitte schreib du das, du kannst viel besser formulieren.“ Sonja Muckenhuber erzählt, dass viele Betroffene ein hervorragendes Gedächtnis entwickeln: „Sie können einen Text, der ihnen einmal vorgelesen wurde, einwandfrei wiedergeben.“ Andere können zwar lesen, aber verstehen den Text nicht. Sie sagen dann etwas wie: „Ich kann eh lesen, ich weiß halt nur nicht mehr, was ich gelesen habe.“ Diese Menschen können mitunter auch schreiben. Übrigens: Texte abschreiben können viele Analphabet:innen, wobei sie die Buchstaben genau genommen abmalen.
Wenn jemand nicht lesen kann,
wird das oft als Lappalie abgetan – nach dem
Motto, ‚Sei froh, dass du gesund bist!
Rainer Hofer, ehemaliger Analphabet
Für Rainer Hofer bedeutet lesen und schreiben zu können Lebensqualität. Auslöser, den Kurs „Deutsch als Erstsprache“ zu besuchen, waren seine Kinder: „Ich wollte mit meinen Kindern lernen. Da habe ich gewusst: Ich muss was tun.“ Er pendelte Woche für Woche zum Kurs nach Linz. Während die meisten Teilnehmenden die Kurse zwei bis drei Jahre lang besuchen, drückte Rainer Hofer acht Jahre lang die Kursbank – weil er sich lange nicht sicher genug fühlte und weil die Kursgruppe zu seiner zweiten Familie wurde, die ihn gestärkt hat. Heute hilft er in der Arbeit Kolleg:innen, Arbeitszeiten aufzuschreiben oder Arbeitsberichte zu verfassen: „Das ist eigentlich banal, aber früher war
das unvorstellbar.“
Fehlende familiäre Unterstützung
Doch wie ist es möglich, in einem Land mit Schulpflicht nicht oder quasi nicht lesen und schreiben zu können? Doris Wyskitensky, Leiterin der Abteilung Erwachsenenbildung im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, sagt: „In den meisten Fällen ist es ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Dazu gehört fehlende familiäre Unterstützung. Manche Familien messen Bildung keinen großen Wert bei. Das kann damit zu tun haben, dass Schulen in früheren Zeiten sehr große Klassen hatten, sodass die Unterstützung, die eine Person gebraucht hätte, nicht möglich war.“ Heute gebe es eine Reihe von Unterstützungsinstrumenten in den Schulen sowie gute außerschulische Angebote.
Rainer Hofer erzählt, seine Lehrer:innen hätten immer gesagt, er sei zu blöd und werde das alles eh nie lernen. „Sie haben mich einfach mit Fünfern benotet.“ Seine Eltern glaubten den Lehrkräften. „Was die Lehrer:innen gesagt haben, war Gesetz.“ Auch Schicksalsschläge und Krankheiten können Gründe sein, dass Menschen trotz Schulbesuchs nicht ausreichend lesen und schreiben lernen. Doris Wyskitensky verweist darauf, dass Lese- und Schreibkompetenzen, wenn sie im Alltag und am Arbeitsplatz wenig genutzt werden, auch wieder verlernt werden können. Und es gibt auch Menschen, die in anderen Ländern aufgewachsen sind und deren Erstsprache nicht Deutsch ist. Manche von ihnen haben noch nie eine Schule besucht und können in keiner Sprache schreiben und lesen. Andere beherrschen ihre Muttersprache und manchmal weitere Sprachen wunderbar in Wort und Schrift.
Analphabetismus: Unterstützung durch Kinder
Zu Letzteren gehört Lili Yudzhel, die seit 19 Jahren in Österreich lebt. 16 davon hat sie als Reinigungskraft in einem Hotel und einer Papierfabrik gearbeitet. Die 38-Jährige spricht mehrere Sprachen, darunter Englisch, Türkisch und ihre beiden Muttersprachen Romanes und Bulgarisch. In einigen kann sie lesen und schreiben. Deutsch hat sie bei der Arbeit von ihren Kolleg:innen gelernt und kann sich darin fast fehlerfrei ausdrücken. Sie spricht schnell und erzählt gern. Musste sie etwas lesen, unterstützten sie ihre älteste Tochter und ihr heute zwölfjähriger Sohn. Ihre jüngste Tochter ist gerade fünf geworden. Als sich Lili Yudzhel im vergangenen Jahr scheiden ließ, wurde ihr klar, dass sie Deutsch lesen und schreiben lernen will: „Irgendwann sind die Kinder nicht mehr bei mir, und dann muss ich das alleine schaffen.“
Deshalb besucht Yudzhel seit Jänner an der VHS Floridsdorf einen Basisbildungskurs – nach einer Sommerpause geht es weiter. Lesen und schreiben zu lernen ist nur ein Etappenziel: „Wenn ich die Chance habe, mache ich den Schulabschluss. Ich schaffe das. Ich finde mich sehr stark.“ Ihr Traum: „Ich liebe es zu kochen.“ Sie möchte später als Köchin arbeiten, am liebsten bei der Stadt Wien und auf jeden Fall Vollzeit, denn das war bisher wegen der Kinder schwierig. Yudzhel wurde mit 16 Jahren zum ersten Mal Mutter. Den nächsten Arbeitsvertrag, den sie unterschreibt, wird sie also lesen können – das war bisher nicht der Fall.
Ihr Glück: Ihre Chefin war selbst aus Bulgarien und wusste Bescheid, dass Yudzhel nicht lesen konnte. Sie erklärte ihr alles auf Bulgarisch, und Yudzhel unterschrieb, obwohl sie den Vertrag auch zuerst mit nach Hause nehmen hätte können: „Ich habe ihr vertraut. Eine Chefin lügt nicht.“ Trotzdem fragte sie im Anschluss ihren damaligen Mann: „Kannst du mal schauen, was ich unterschrieben hab?“ Zum Glück war alles in Ordnung. Dennoch: Der Verdienst war bescheiden – das will sie durch die Basisbildungskurse, den Schulabschluss und einen neuen Beruf ändern.
Arbeitsrechtliches Vokabular
Zur Basisbildung gehören auch mathematische Grundkompetenzen und Informations- und Kommunikations-Technologien, also etwa der Umgang mit Handy, Laptop, dem Bankomaten oder Fahrkartenautomaten. In eine Kursgruppe gehen an der VHS Floridsdorf maximal zehn Teilnehmende. Das ermöglicht den Kursleiter:innen, auf individuelle Bedürfnisse und Themen einzugehen. Manuela Ziegler, Kursleiterin für Basisbildung an der VHS Floridsdorf, berichtet, dass sie in den Kursen oft mit den Teilnehmenden über arbeitsrechtliche Themen spricht, denn hier fehle es an Wissen und Vokabular.
„Wir arbeiten ganz viel am Wortschatz: Was ist ein Kollektivvertrag? Ein Arbeitsvertrag? Eine Betriebsversammlung? Was ist die Arbeiterkammer? Die Gewerkschaft? Wie kann ich mich dort beraten lassen? Kostet das etwas?“ Oder Fragen wie: „Wenn ich eine neue Arbeit habe, darf meine Chefin entscheiden, wie viel ich arbeite oder wie viel sie bezahlt? Solche Dinge wissen die meisten Teilnehmenden nicht und trauen sich daher nicht, dagegen anzugehen.“ Auch dass es Stellen gibt, die sie unterstützen, ist vielen unbekannt. Immer wieder werden auch Beratungsstellen in die Kurse eingeladen. Das hat eine ermächtigende Wirkung: Einige Teilnehmer:innen kündigen und suchen sich eine neue Arbeitsstelle, nachdem sie im Basisbildungs-Kurs über ihre Rechte aufgeklärt wurden.
Sich beruflich weiterentwickeln zu wollen ist einer der Hauptgründe, warum Menschen sich im Erwachsenenalter entscheiden, lesen und schreiben zu lernen. Manuela Ziegler erzählt, dass immer wieder Teilnehmende kommen, die beispielsweise ein Handwerk ausüben, aber ihre Lehre nie abgeschlossen haben, weil sie aufgrund der Anforderungen in Mathematik und Deutsch nie die Abschlussprüfung gemacht haben: „Sie bekommen ein Hilfsarbeiter:innen-Gehalt, obwohl sie genau die gleiche Arbeit machen wie ihre Kolleginnen und Kollegen mit Lehrabschluss, die nach Kollektivvertrag bezahlt werden.“ Irgendwann wollen sie das ändern und machen deshalb einen Deutsch-als-Erstsprache- bzw. Basisbildungs-Kurs.
Ungerechtfertigtes Stigma bei Analphabetismus
Für Ziegler ist das Stigma, im Erwachsenenalter nicht ausreichend lesen und schreiben zu können, ein gesellschaftliches Problem: „Das sollte nicht so sein, denn es betrifft so viele Menschen.“ Nicht individuelles Versagen, sondern soziale Aspekte würden dazu führen, dass jemand trotz neun Jahren Schulpflicht nicht ausreichend lesen und schreiben könne. Sie erzählt etwa von einer Teilnehmerin, die als Schülerin ihre kranke Mutter pflegen musste. Da die Lehrkräfte das wussten und Mitleid hatten, benoteten sie das Mädchen trotz schlechter Leistung positiv.
Manchen Menschen würden auch Steine in den Weg gelegt. So sei etwa ein Teilnehmer wegen logopädischer Probleme in die Sonderschule geschickt worden und fand danach keine Lehrstelle: „Das war ein irrsinnig intelligenter junger Mann, der hier alles in kürzester Zeit gelernt hat.“ Wie so oft war der Kurs auch wichtig für sein Selbstwertgefühl: „Ihm wurde vorher von allen Seiten gesagt, dass er zu dumm sei, um einenArbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. Das war überhaupt nicht gerechtfertigt.“ Er fand schließlich eine sehr gute Lehrstelle – auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Sogar manche Betriebsrät:innen können praktisch nicht lesen und schreiben. Peter Schissler, Bundesgeschäftsführer für Bildung in der Produktionsgewerkschaft PRO-GE, erzählt, es würde manchmal in den Seminaren für Betriebsrät:innen auffallen, dass jemand nicht oder nicht zusammenhängend lesen kann. „Wenn wir zum Beispiel an Gesetzestexten arbeiten oder etwas in einem Buch nachzulesen ist, melden sich Einzelne und sagen: ‚Ich mag das nicht lesen, das ist so schwierig.‘ Oder sie sind gehemmt, wenn sie etwas auf ein Plakat schreiben müssen.“ Meist seien das ältere Kolleg:innen. Manche Betriebsrät:innen würden gleich gar nicht zu den Kursen fahren. Oft seien das Menschen mit Betreuungsaufgaben; die sagen, sie müssten auf die Kinder oder Eltern aufpassen. Schissler vermutet, dass manchmal eine Lese- und Schreibschwäche der wahre Grund für die permanente Abwesenheit bei den Seminaren ist.
Zeichensprache und Geselligkeit
Betriebsrät:innen müssen von Zeit zu Zeit E-Mails an die Kolleg:innen verschicken oder einen Zettel für einen Aushang am schwarzen Brett schreiben – aber dafür können sie sich unauffällig Hilfe holen. Da in manchen Betrieben Menschen aus bis zu 40 Nationen arbeiten, setze sich zudem immer mehr eine Zeichensprache durch. Und viele wissen sich anders zu helfen: „Wenn die Leute gesellig sind, erfahren sie die Dinge auch in Gesprächen“, sagt Schissler. Problematisch werde es, wenn Mitarbeiter:innen, die nicht gut lesen können, im Betrieb eine Sicherheitsbelehrung bekommen und anschließend Anweisungen dazu durchlesen und unterschreiben müssen, dass sie diese verstanden haben: „Das hat arbeitsrechtliche Folgen, wenn zum Beispiel ein Unfall passiert.
Wenn Arbeitnehmer:innen die Belehrung unterschrieben haben, sind sie schuld, und die AUVA hat Regressansprüche an sie.“ Sonja Muckenhuber erzählt von Betroffenen, die es sogar zu Kündigungen kommen lassen: „Sich zu verweigern, in den Krankenstand zu gehen oder Schulungen abzubrechen sind beliebte Vermeidungsstrategien – so lange, bis der Chef sie kündigt.“ Dabei haben viele Betroffene eigentlich genau davor Angst: „Viele sagen: Wenn mein Chef draufkommt, dass ich so schlecht lesen und schreiben kann, entlässt er mich.“ Muckenhuber ist sich sicher, „dass das gar nicht oft passieren würde“. Vermeidung gibt es aber auf beiden Seiten: Auch jemanden auf eine Leseschwäche anzusprechen wird häufig vermieden. So gab es an Muckenhubers Institut etwa auch Workshops für Betriebsrät:innen. Dort hörte sie gelegentlich, dass Kolleg:innen auf das Thema nicht angesprochen werden, weil das einen
Gesichtsverlust bedeuten würde.
Analphabetismus sensibel ansprechen
Anstatt gar nichts zu tun, sollte man laut Doris Wyskitensky versuchen, sehr sensibel vorzugehen. Sie glaubt, eine direkte Ansprache wäre nicht zielführend. „Wahrscheinlich würde sich die Person zurückziehen.“ Das gilt vor allem für Menschen mit Deutsch als Erstsprache, denn bei ihnen ist die Scham meist groß, während Menschen mit Migrationshintergrund in der Regel offen damit umgehen, auf Deutsch nicht lesen und schreiben zu können – sie bilden mit rund 70 Prozent auch die Mehrheit in den Basisbildungskursen. Wer sich über Basisbildungsangebote informieren möchte, wird beim Alfatelefon (0800 244 800), das vom B!LL betrieben wird, beraten. Egal, ob als betroffene Person, als Angehörige:r, Vorgesetzte:r oder Kolleg:in. Das kann ein guter erster Schritt aus einem Leben sein, in dem Angst, Scham, Vermeidungund Geheimnistuerei eine so große Rolle spielen, dass ein gutes Stück Lebensqualität und Lebensfreude auf der Strecke bleibt.