Leo Gabriel schaffte es vom Tellerwäscher, wenn auch nicht zum Millionär, so doch ziemlich weit nach oben. Bis in die Geschäftsführung eines renommierten Gastro-Unternehmens. Seine „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Story endete 2018, an dem Punkt, an dem der Gesellschafter das Unternehmen plötzlich auflöste. Seither lebt er mit seinem Kind und seiner Frau abzüglich Miete von 1.000 Euro monatlich. Sein Problem: Das AMS kann ihn nur schwer vermitteln, seine Qualifikation ist zu hoch.
Iris Stroj servierte in den vergangenen Jahren Getränke in einem „namhaften 4-Sterne-Hotel“, war in einer Spar-Filiale „das Mädchen für alles“ und lernte im „Dorfwirtshaus“, wie man ordentlich „zurückmeckert“. Dazwischen war die gelernte Friseurin jeweils arbeitslos gemeldet. Ihre Geschichte erzählt sie in Mürzzuschlag, einer Kleinstadt im Nordosten der Steiermark, die junge Menschen wegen fehlender Perspektiven immer öfter verlassen.
Korn, Gabriel und Stroj sind sich in ihrem Leben höchstwahrscheinlich noch nie über den Weg gelaufen. Sie sind in ihren Eigenschaften so unterschiedlich, wie Menschen nun mal unterschiedlich sind. Ihre Geschichten haben eines gemeinsam: an irgendeiner Stelle „passten“ die drei nicht. Sie passten nicht in ein System, das weniger an den Bedürfnissen einzelner Betroffener als vielmehr am System als solchem interessiert ist. Sie passten nicht in ein System, dessen Vertreter:innen derzeit mehr denn je ideologische und ökonomische Geschütze auffahren, um das, was nicht passt, passend zu machen.
„Normalität“ des Arbeitsministers: ein Drohszenario
Nachdem die Zahl der Erwerbsarbeitslosen infolge der Corona-Krise im vergangenen Frühjahr mit 560.000 arbeitslos gemeldeten Menschen (inklusive Schulungsteilnehmer:innen) einen Höchststand erreichte, konstatierte Arbeitsminister Martin Kocher Mitte September „den schrittweisen Übergang zur Normalität“. Mit 335.000 Arbeitssuchenden bzw. Schulungsteilnehmer:innen bewegt sich die Arbeitslosigkeit, Stand Mitte September, wieder im Bereich des Vorkrisenniveaus.
Dominierten über Monate Themen wie „Kündigungswelle“ und „Kurzarbeit“ die Schlagzeilen, scheint sich diese Entwicklung nun umzukehren: Unternehmen und Betriebe suchen händeringend nach Mitarbeiter:innen. Ende August meldete das AMS knapp 114.000 sofort verfügbare Stellen. Doch, so der Tenor, niemand will sie. „Fachkräftemangel“ allerorts.
Im Verbund mit einflussreichen Boulevardmedien, Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung und AMS schlussfolgert die Regierung öffentlich: Erwerbsarbeitslosen werde das Leben zu bequem gemacht. Viele Stellen blieben nur wegen der üppigen Sozialleistungen unbesetzt.
„Den schrittweisen Übergang zur Normalität“, so Kocher, werde man daher mit entsprechenden „arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen begleiten“ müssen. Schon jetzt setze man beim AMS wieder verschärft auf Sanktionen. In den nächsten Monaten will Kocher einen „Reformdialog“ über die Höhe der Arbeitslosenversicherung, über Zuverdienstmöglichkeiten und Zumutbarkeitsbestimmungen führen. Diskutieren wolle er zudem ein degressives Arbeitslosengeld, mit steigender Bezugsdauer sollen Leistungen sinken.
Es ist einer der letzten warmen Sommerabende in Wien. Leo Gabriel bestellt Schwarztee. Aus Journalist:innen-Sicht ist Gabriel eine praktische Angelegenheit. Der 29-Jährige studierte Politikwissenschaft und zu seiner persönlichen Geschichte liefert er die abstrakte, systemische Analyse immer gleich mit dazu. „Was mich beim AMS geprägt hat, ist das Gespräch mit anderen Hochgebildeten“, sagt Gabriel in ruhigem, analytischem Ton. In derselben Tonlage, und nicht weniger bedacht, erzählt er, wie ihn seine Situation belastet. Die finanziell prekäre Lage führe auch zu sozialer Isolation, das Bier mit Freund:innen sei oft nicht mehr drin. Corona habe die Sache nochmals verschärft. Vor wenigen Monaten erlitt er einen Nervenzusammenbruch.
Was mich beim AMS geprägt hat, ist das Gespräch mit anderen Hochgebildeten.
Leo Gabriel, Arbeitssuchender
Beim AMS habe er Langzeitarbeitslose mit Doktortitel kennengelernt. Das habe ihn zum Nachdenken gebracht: Nur weil Jobs vorhanden sind, muss das nicht heißen, dass die auch passen. Das mit dem allerorts beklagten „Fachkräftemangel“ sei abstrakt gesprochen zwar richtig, aber realiter eine ziemlich „saloppe Formulierung“.