Am Ende war es nicht einmal knapp. Es war deutlich. Anfang des Jahres stimmten im Amazon-Verteilzentrum in Bessemer/Alabama die Beschäftigten gegen die Gründung einer Arbeiter*innenvertretung – mit 1.798 zu 738 Stimmen. Trotz einer breiten Solidarisierung in der Öffentlichkeit. Prominente und Politiker*innen hatten sich mit den Amazon-Angestellten solidarisiert. Schauspieler Danny Glover, die NFL-Spieler-Gewerkschaft und selbst US-Präsident Joe Biden.
Genutzt hat es nichts. In den USA befinden sich die Gewerkschaften seit Jahrzehnten auf dem absteigenden Ast. Und Amazon fuhr vorab eine radikale Kampagne gegen die Gewerkschaftsgründung. So gab es für die Angestellten verpflichtende Filmvorführungen, in denen die Arbeiter*innenvertretungen in ein schlechtes Licht gerückt wurden. Die Firmenleitung änderte außerdem die Ampelschaltung bei der Werkseinfahrt, damit die Wahlhelfer*innen die ankommenden Arbeitnehmer*innen nicht mehr im Auto ansprechen konnten.
Trotzdem ein Erfolg?
Orhan Akman, ver.di-Bundesfachgruppenleiter für Einzel- und Versandhandel in Berlin, wertet diese Wahl deswegen auch nicht als die ernüchternde Niederlage, als die sie in den Medien oft dargestellt wird: „Die Auseinandersetzung der US-amerikanischen Gewerkschaften in Alabama halte ich für einen Erfolg. Weil sie verdeutlicht hat, mit welchen Mitteln und welcher Radikalität dieses Unternehmen versucht, verbriefte demokratische Rechte abzuwürgen.“ Soll heißen: Die Arbeiter*innen mögen nicht organisiert sein, der Imageschaden für Amazon ist aber angerichtet.
Es ermittelt die Finanzpolizei
Etwas, das den Österreicher*innen bekannt vorkommen dürfte. Denn auch hier hat Amazon keine Arbeiter*innenvertretung, und auch hier passte sich das Image des Versandriesen an dessen eher rücksichtsloses Geschäftsgebaren an. Grund dafür ist eine Ermittlung der Finanzpolizei. Die fand zwar bereits im Februar 2020 statt, die Auswertung dauerte aber fast ein Jahr.
Dafür gibt es Gründe. Das Amazon-Verteilzentrum in Großebersdorf bei Wien unterhält nur 13 direkte Vertragspartner. Aber: „Wie viele Beschäftigte es dort tatsächlich gibt, können wir nicht genau sagen, weil viele der dort arbeitenden Personen nicht direkt bei Amazon beschäftigt sind“, erläutert Michael Gogola von der Grundlagenabteilung der Gewerkschaft GPA. Und weiter: „Amazon stützt sich stark auf Leiharbeitsfirmen. In dieses Geflecht können wir nur sehr schwer hineinschauen. Wir gehen davon aus, dass nur vergleichsweise wenige Beschäftigte, darunter wohl die leitenden Angestellten, von Amazon direkt bezahlt werden.“
Amazon stützt sich stark auf Leiharbeitsfirmen. In dieses Geflecht können wir nur sehr schwer hineinschauen.
Michael Gogola, Grundlagenabteilung der Gewerkschaft GPA
Und tatsächlich: Vor Ort mussten die Beamten 2.416 Dienstnehmer*innen von 96 Sub-Unternehmen sowie 24 Sub-Sub-Unternehmen kontrollieren. Dabei kam es zu 987 Beanstandungen. „Wohl infolge unserer Öffentlichkeitsarbeit fanden Kontrollen im Lager Großebersdorf aber auch bei den beauftragten Paketzustellungsunternehmen statt. Die Finanzpolizei hat Bilanz gezogen und hat von 133 Unternehmen, die für Amazon tätig sind, bloß bei drei Unternehmen keine Gesetzesverstöße festgestellt“, rechnet Gogola weiter vor.
Hohe Strafen
Für den Staat hat sich zumindest diese eine Kontrolle gelohnt. Die Finanzpolizei musste Strafen in Höhe von 767.440 Euro ausstellen. 325.192 Euro an Forderungen wurden gepfändet und weitere 88.422 Euro wurden sichergestellt.
Folgende Übersicht über die Beanstandungen hat das Bundesfinanzministerium veröffentlicht:
- 468 Übertretungen nach dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (finanzpolizeilich beantragte Gesamtstrafhöhe: 752.440 Euro)
- 144 Übertretungen nach dem Arbeitslosenversicherungsgesetz
- 12 Übertretungen nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz (finanzpolizeilich beantragte Gesamtstrafhöhe: 12.000 Euro)
- 3 Übertretungen nach dem Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz (finanzpolizeilich beantragte Gesamtstrafhöhe: 3.000 Euro)
- 1 Übertretung der Gewerbeordnung
- 195 Kontrollmeldungen an das Arbeitsmarktservice (AMS)
- 68 Kontrollmeldungen an die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) sowie
- 18 Anregungen auf Durchführung von Betriebsprüfungen
Für die Hüter der Staatskassen in ganz Europa sind die Amazon-Niederlassungen trotzdem längst zum Millionengrab geworden. Im Jahr der Corona-Pandemie 2020 konnte der Versandhändler seinen Umsatz in Europa um ganze 36 Prozent steigern: auf rund 44 Milliarden Euro. Kein Wunder: Der Einzelhandel war geschlossen, die Zahl der Online-Käufe ging durch die Decke.
Steuergutschrift statt Nachzahlung
Ärgerlich für die europäischen Länder ist nur, dass dieses Rekordergebnis keine dringend benötigten Steuerzahlungen mit sich brachte. Die Sozialstaaten kommen an ihre Grenzen, Krankenhäuser sind überlastet, Heerscharen an Menschen in Kurzarbeit, und Amazon bekommt auch noch eine Steuerrückzahlung über 56 Millionen Euro.
Wie es zu dieser (erneuten) Steuergutschrift gekommen ist, lässt sich in den „Luxemburg-Leaks“ nachlesen, mit denen Amazons „Operation Luxemburg“ an die Öffentlichkeit gekommen ist. kontrast.at hat den Fall aufgearbeitet. Die Kurzform geht so: Die Amazon EU S.à r.l. (Firma #1) hat einen Verlust von 1,2 Milliarden Euro erwirtschaftet. Trotz Rekordumsatz. Das liegt daran, dass das Unternehmen einen hoch verzinsten Kredit abgeschlossen hat. Bei der Amazon Europe Holding Technologies SCS (Firma #2). An diese Firma muss Amazon EU S.à r.l. (Firma #1) auch hohe Lizenzgebühren zahlen. Als geschlossene Kommanditgesellschaft muss die Amazon Europe Holding Technologies SCS (Firma #2) in Luxemburg allerdings keine Gewinne versteuern.
Ein Vorgehen, das auch Gogola ein Dorn im Auge ist: „Die gesellschaftspolitische Rolle Amazons ganz allgemein muss betrachtet werden. Amazon ist einer der großen Krisengewinner in der noch nicht bewältigten Pandemie, wo der Handel über Monate geschlossen war. Trotzdem hat Amazon keine Steuern auf seine Gewinne bezahlt. Eine faire Besteuerung sieht anders aus.“
Amazon ist einer der großen Krisengewinner in der noch nicht bewältigten Pandemie, wo der Handel über Monate geschlossen war. Trotzdem hat Amazon keine Steuern auf seine Gewinne bezahlt.
Michael Gogola, Grundlagenabteilung der Gewerkschaft GPA
Mitarbeiter*innen und Steuerzahler*innen wäre schon geholfen, würde Amazon in Österreich seine exzessive Leiharbeiter*innen-Politik auf ein Normalmaß zurückfahren. So, wie es vom Gesetzgeber ursprünglich einmal vorgesehen war. „Grundsätzlich ist die Idee der Leiharbeit, Produktionsspitzen abzudecken. Amazon arbeitet allerdings zu einem sehr großen Anteil mit Leiharbeitskräften. Wir glauben daher, dass es notwendig ist, hier Grenzen einzuziehen. Auch rechtlich. Wir fordern, dass der Anteil an Leiharbeiter*innen auf 50 Prozent der Beschäftigten beschränkt sein sollte“, fordert Gogola.
Schummelei bei Leiharbeitskräften
Dabei wäre ein neues Gesetz gar nicht zwingend nötig. Schon jetzt sei im Arbeitskräfteüberlassungsgesetz die Möglichkeit verankert, die Zahl der Leiharbeitskräfte für bestimmte Unternehmen und Branchen zu beschränken. Dafür benötigt es aber ein Machtwort der Politik. Zwar hat der Österreichische Gewerkschaftsbund bezüglich Amazon längst eine entsprechende Forderung an das Sozialministerium gestellt. Passiert ist, abgesehen von den Kontrollen, die unabhängig davon stattfanden und die das Ausmaß offengelegt haben, seitdem aber nichts.
Und der Verdacht, dass in diesem Bereich geschummelt wird, liegt laut Gogola auf der Hand: „Besonders wichtig ist zu prüfen, ob es sich bei den Personen, die dort selbstständig als Paketzusteller*innen beschäftigt sind, auch tatsächlich um Selbstständige handelt. Wir haben die starke Vermutung, dass das nicht immer der Fall ist. Wir glauben, dass es sich in vielen Fällen um Scheinselbstständigkeit handelt und Amazon diese Konstruktion bewusst wählt, um die Anwendung des Arbeitsrechtes zu umgehen.“
In Deutschland ist die Gewerkschaft ver.di schon weiter. Dort tobt seit mittlerweile acht Jahren ein Arbeitskampf. Mit klaren Siegen für die Mitarbeiter*innen. „Wir konnten rechtlich gegen Amazon den arbeitsfreien Sonntag durchsetzen. Da hatte das Unternehmen mehrfach versucht, ihn für die eigenen Gewinnmaximierungsinteressen zu opfern. Das ist ihnen höchstrichterlich in Deutschland untersagt worden“, berichtet Orhan Akman von ver.di im Gespräch mit Arbeit&Wirtschaft. Außerdem sei ver.di mittlerweile in fast allen großen Amazon Fulfillment Centern vertreten.
Auch das Problem der überbordenden Leiharbeit könnte so eingedämmt werden. „Dort, wo es Betriebsräte gibt, ist die Zahl der Leiharbeiter*innen immer deutlich geringer, weil es dort eben Mitbestimmungsrechte gibt“, erzählt Akman von seinen Erfahrungen im Nachbarland.
Dort, wo es Betriebsräte gibt, ist die Zahl der Leiharbeiter*innen immer deutlich geringer, weil es dort eben Mitbestimmungsrechte gibt.
Orhan Akman, ver.di
Doch das ist nur ein erster Schritt. Denn natürlich geht es um Arbeitszeiten und Gehalt. Aber auch um die Arbeitsbedingungen. Die Geschichten von Fahrer*innen in den USA, die angehalten werden, in Flaschen zu urinieren, und von Fahrerinnen, für die ein Arbeitstag während ihrer Periode mangels Hygienepausen zu einem Albtraum wird, könnten aus jedem Land mit Amazon-Niederlassung stammen. Akman weist auf diesen Widerspruch hin und fordert: „Der Konzern muss sich erklären, wieso man Milliardengewinne einfährt, gleichzeitig aber die Angestellten angehalten werden, nicht mal aufs Klo zu gehen oder in Flaschen zu urinieren. Das ist menschenverachtend.“
Ziel müsse es schlicht sein, den Arbeitsplatz bei Amazon menschenfreundlicher zu gestalten. Akman: „Die Beschäftigten werden acht Stunden durch technische Prozesse und Algorithmen rumkommandiert. Da wird jeder Schritt vorgegeben. Nach links, nach rechts, Paket rauf, Paket runter und wer ein paar Sekunden stillsteht, der wird gewarnt. Aber wir sind keine Roboter, und wir wollen auch keine werden.“ Als Vertretung der Arbeiter*innen bei Amazon wolle ver.di die digitalen Prozesse mitgestalten und die Menschen mehr in den Fokus rücken.
Der Konzern muss sich erklären, wieso man Milliardengewinne einfährt, gleichzeitig aber die Angestellten angehalten werden, nicht mal aufs Klo zu gehen oder in Flaschen zu urinieren. Das ist menschenverachtend.
Orhan Akman, ver.di
Eigentlich sollte Menschenwürde eine Selbstverständlichkeit sein, für die nicht extra gekämpft werden muss. Doch das Milliardenunternehmen wehrt sich. So wirft Akman den Amerikanern vor: „Amazon legt eine Ideologie an den Tag, mit der sie gegen Gewerkschaften und Betriebsräte agieren. Sie akzeptieren weder Tarifverträge noch den sozialen Dialog, noch Gewerkschaften. Damit macht Amazon Politik gegen die ‚eigenen‘ Beschäftigten.“
Gegen Steuertricks und das schamlose Ausnutzen von Leiharbeiter*innen kann rechtlich vorgegangen werden. Auf der Ebene der Nationalstaaten und auf europäischer. Genau das fordert Akman. Wie all das enden wird, weiß er schon: „Wir werden diesen Kampf gewinnen. Punkt.“