Als der Bedarf verloren ging

Foto (C) ÖGB-Verlag/Michael Mazohl

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Eine einheitliche Mindestsicherung in Österreich wäre gerecht. Doch einige Bundesländer wehren sich und kürzen Leistungen für nicht genehme Menschen.
Mit dem Jahreswechsel 2016/17 ist die Vereinbarung über die bundesweite bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) ausgelaufen. Bund und Länder, aber auch die Koalitionspartner SPÖ und ÖVP konnten sich auf keine Neuregelung einigen, die für alle am Verhandlungstisch sitzenden Gruppen akzeptabel gewesen wäre.

Das lag nicht daran, dass die progressiven Kräfte in den Verhandlungen nicht bereit gewesen wären nachzugeben. Das Bemühen darum, lieber eine schlechte – sprich weniger armutsfeste, niedrigere und weniger soziale – BMS zu akzeptieren, als am Ende der Verhandlungen ohne eine solche dazustehen, war sehr groß. Manche mögen sagen: zu groß. Letztlich blieb diese Kompromissbereitschaft aber unbelohnt. Auf konservativer Seite gab es offenkundig starkes Interesse daran, die Verhandlungen durch immer weitergehende und letztlich unannehmbare Forderungen platzen zu lassen. Ganz besonders vonseiten Niederösterreichs.

Existenzgefährdend

Stattdessen wurden landesspezifische Neuregelungen erlassen, was dazu geführt hat, dass die ursprüngliche Idee der bundesweiten Einheitlichkeit zu Grabe getragen werden musste. Die neuen Landesgesetze verfolgen teilweise ganz offen kurzfristige regional- und parteipolitische Ziele – entsprechend wenig Augenmerk richten sie daher auf die Bedürftigkeit. Und das, obwohl die Orientierung an der Bedürftigkeit – oder eben auch Bedarfsorientierung – eines der Kernstücke der 2010 eingeführten BMS war. Sie sollte damit mehr als ihre Vorgängerin, die Sozialhilfe, die jeweiligen Lebensumstände der von Armut betroffenen Menschen berücksichtigen und diese Gruppe entsprechend unterstützen. Trotzdem werden seit Sommer 2016 Gesetze erlassen, die für einen Teil der Anspruchsberechtigten eine menschenwürdige Existenz unmöglich machen.

Mehr Kinder, weniger Geld

Menschen, die ihr Auskommen nicht selbst bestreiten können, sei es aus einem (Erwerbs-)Einkommen oder aus ihrem Besitz, können Geld aus der BMS beantragen.

Je mehr Menschen in einer Familie leben, desto höher ist der mögliche Betrag. Das ergibt Sinn. Eine alleinstehende Frau wird in der Regel weniger Geld für ihr Auskommen benötigen als eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern oder ein Paar mit drei Kindern. Daher sieht die BMS unterschiedlich hohe Beträge für unterschiedlich große Personengruppen vor, wobei unter anderem nach dem Alter der Personen unterschieden wird. Kinder, so die Argumentation, benötigen weniger Geld als Erwachsene. So weit, so klar.

Im Zuge der Neuregelung der BMS ist man von diesem Prinzip in Niederösterreich allerdings abgewichen. Bedarfsgemeinschaften (in der Regel gleichzusetzen mit Familien) können seit 1. Jänner 2017 nicht mehr als 1.500 Euro aus der BMS beziehen – unabhängig von der Zahl der Familienmitglieder. Unausgesprochener Hintergrund dieses Konzepts dürfte es sein, Familien von Asylberechtigten – viele von ihnen mit mehreren Kindern – die Leistung zu kürzen.

Das bedeutet eine klare Schlechterstellung von Mehrkindfamilien (ab Paaren mit zwei Kindern) gegenüber solchen mit maximal einem Kind. Eine fünfköpfige Familie zum Beispiel hatte bisher in Niederösterreich Anspruch auf BMS-Geldleistungen in der Höhe von maximal 1.849 Euro im Monat. Infolge der Neuregelung sind es aber maximal 1.500 Euro. Das bedeutet eine Schlechterstellung um monatlich 349 Euro. Ein hoher Betrag, besonders für eine Familie mit drei Kindern.

Unzulässige Regelung

Bereits im Jahr 1988 hat der Verfassungsgerichtshof ein solches Richtsatzsystem, das die Leistung unabhängig von der Größe des Haushalts („Bedarfsgemeinschaft“) festsetzt, als unsachlich und daher unzulässig verurteilt. Damals ging es um die Kärntner Sozialhilfe, der Vorgängerleistung der BMS, (VfGH 15.03.1988, G158/87; G229/87; V141/87). Auch bei der niederösterreichischen Regelung ist mit gerichtlichen Auseinandersetzungen – zwischen dem Land auf der einen sowie den Betroffenen und Hilfsorganisationen auf der anderen Seite – zu rechnen.

Trotzdem wollen Oberösterreich und das Burgenland ebenfalls eine Maximalhöhe von 1.500 Euro beschließen.

Zusätzlich wurde in Niederösterreich eine fünfjährige Wartefrist für Personen eingeführt, die sich in den sechs Jahren vor BMS-Bezug kürzer als fünf Jahre in Österreich aufgehalten haben. Ihnen steht für diesen Zeitraum nur ein reduzierter BMS-Richtsatz zu: Das sind 422,50 Euro für Alleinstehende und 522,50 Euro für AlleinerzieherInnen. Zusätzlich müssen Volljährige, die von dieser Wartefrist betroffen sind, eine Integrationsvereinbarung unterschreiben. Bei Nichterfüllung der darin enthaltenen Vorgaben droht ihnen die Kürzung der bedarfsorientierten Mindestsicherung.

Auch die gesetzliche Regelung zur Wartefrist zeigt, dass die Neugestaltung der BMS primär darauf abzielt, die Mindestsicherung zu kürzen. Auf die Frage der Bedarfsorientierung wird hier ebenfalls keine Rücksicht genommen.

Leistung nach Herkunft

In Oberösterreich wurde mit 1. Juli 2016 ein eigener, für Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte viel niedrigerer BMS-Richtsatz eingeführt. Diese Gruppen erhalten künftig nur mehr eine Basisleistung in der Höhe von 365 Euro, die sich an der Höhe der Grundversorgung orientiert, einen Steigerungsbetrag von 155 Euro sowie ein Taschengeld von 40 Euro. Der Steigerungsbetrag ist, wie in Niederösterreich, an die Einhaltung einer Integrationsvereinbarung gekoppelt. Die maximale Leistungshöhe beträgt somit 560 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen und ist damit viel niedriger als jene für ÖsterreicherInnen und EU-BürgerInnen (maximal 921 Euro).

Mit dieser Schlechterstellung von Asylberechtigten negiert das Land Oberösterreich die Pflicht zur Gleichbehandlung von Asylberechtigten und eigenen StaatsbürgerInnen nach Artikel 23 der Genfer Flüchtlingskonvention sowie Artikel 29 RL 2011/95/EU der EU-Asylstatusrichtlinie. Das Asylrecht ist seit dem Vertrag von Amsterdam Unionsrecht und in weiterer Folge für Österreich bindend. Die deshalb zu erwartenden Klagen gegen die oberösterreichische Landesregelung sind daher als chancenreich einzuschätzen.

Wettbewerb im Unterbieten

Die Interpretation der Neuregelungen der BMS in Niederösterreich und Oberösterreich (und voraussichtlich im Burgenland) lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass es um kaum mehr als Leistungskürzungen für ungeliebte Personengruppen geht. Darunter lassen sich, je nach Auslegung, Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte im Speziellen oder BMS-BezieherInnen im Allgemeinen zusammenfassen.

Dabei wurde bewusst einkalkuliert, dass das Senken der BMS-Leistung dazu führt, von Armut betroffene Menschen dorthin zu treiben, wo die Leistung nach wie vor der BMS-Vereinbarung entspricht: nach Wien. Es handelt sich hierbei um keine ideologisch gefärbte Unterstellung, denn diese zynische Kalkulation wird von den Verantwortlichen in Niederösterreich mittlerweile offen ausgesprochen. Die Kosten für die Unterstützung bedürftiger Menschen werden exakt von jenen politisch Verantwortlichen auf Wien abgewälzt, die auch die hohen BMS-Bezugszahlen in der Bundeshauptstadt kritisieren.

Nötiger Kampf gegen Armut

Eine Mindestsicherung, die bei Familien mit mehreren Kindern kürzt oder Personen aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt, wird jenen Bundesländern, die sie eingeführt haben, möglicherweise kurzfristig Kosten sparen. Mittel- und langfristig besteht die große Gefahr, dass die zunehmende Benachteiligung armutsgefährdeter Menschen die Gesellschaft teuer zu stehen kommt. Armut macht krank, reduziert Bildungschancen und erschwert die gesellschaftliche Teilhabe. Eine Mindestsicherung, die Armut nicht bekämpft, hat mit Bedarfsorientierung nichts zu tun.

Nachlese:
„Das zugemutete Minimum“, A&W 2/2016

Von
Norman Wagner
Abteilung Sozialpolitik der AK Wien

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 2/17.

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