Frédéric Tömböl, geb. 1990, ist Assistenzarzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Wiener AKH und Betriebsrat der Medizinischen Universität Wien. Er ist Sprecher der Ärzt:innen in Ausbildung des AKH Wien und gewählter Mandatar der Vollversammlung der Ärztekammer für Wien.
Arbeit&Wirtschaft: Frédéric Tömböl, du hast im April 2020, ziemlich zu Beginn der Pandemie, eine Mail an die Wiener Ärztekammer geschrieben, Betreff: „Gefahr in Verzug“. Worum ging’s da?
Frédéric Tömböl: Das war die erste Corona-Welle, die uns alle überrollt hat. Obwohl regelmäßig davor gewarnt wurde, dass eine Pandemie eines der Drohszenarien für Österreich und Mitteleuropa ist. Aber wir waren komplett unvorbereitet. Eine Facette davon war, dass die lebenswichtige persönliche Schutzausrüstung für Pflegepersonal Mangelware war. Die wichtigste Komponente im Umgang mit COVID ist die Atemschutzmaske in adäquater Qualität – und die waren sehr knapp. Die Strategie, die dann gewählt wurde, war, die Masken bei 121 Grad zu heißdampfsterilisieren. Man wendete ein Instrument aus der Matratzendesinfektion auf Atemschutzmasken an. Das Problem ist, dass sich die Passform der Masken dadurch verzogen hat und das Material beschädigt wurde. Gestoppt wurde diese Praxis dann unter anderem aufgrund dieses Falter-Artikels über die Mail mit „Gefahr in Verzug“. Mein Kollege Gregor Bond und ich haben uns dadurch sehr exponiert und das auch noch einige Wochen zu spüren bekommen. Aber das hat dazu geführt, dass diese Gefährdung der Kolleg:innen beendet wurde.
In einer Umfrage der Ärztekammer Wien vom April 2021 heißt es, dass von den insgesamt 8.200 Wiener Ärzt:innen mehr als 1.000 vorm Burnout stehen, mehr als die Hälfte dachte bereits über psychotherapeutische Behandlung, 1.500 denken über eine Kündigung nach. Überrascht dich das Ergebnis dieser Studie?
Ich glaube, dass die Pandemie derzeit in vielen Menschen unterschiedlichster Branchen zu einer Reflexion über die eigene Berufswahl führt. Aber im Gesundheitsbereich kommen besondere Belastungen dazu. Ich habe vergangene Woche 80 Stunden klinisch gearbeitet, das ist … verrückt. Aber es ist gesetzlich möglich. Da prallen extreme Arbeitszeiten auf ein auch körperlich forderndes Arbeitsfeld. Zum Beispiel sind viele der COVID-Patient:innen stark übergewichtig. Die muss man lagern, auf den Bauch drehen, auf den Rücken drehen. Dazu kommt die zweite Komponente, die „emotional labour“. In Wahrheit bist du immer von Leid, Sterben und Ausnahmesituationen umgeben. Die ganze Zeit. Dass 50 Prozent über eine Psychotherapie nachdenken, überrascht mich nicht wirklich. Ich bin der Meinung, 100 Prozent in der Branche sollten Psychotherapie – oder zumindest Supervision – in Anspruch nehmen. Ich bin sehr dankbar, dass es an meiner Klinik mittlerweile implementiert wurde, dass es zumindest eine regelmäßige Gruppensupervision gibt. Ich merke, dass das einen riesigen Unterschied macht, wenn man nicht alleingelassen wird mit diesen Situationen, sondern darüber sprechen kann. Da braucht es eine Gruppe professioneller Menschen, die uns stabilisiert, die mit uns darüber spricht. Aber wenn 1.000 von 8.200 Ärzt:innen vorm Burnout stehen, ist das ein Alarmsignal. Dann sollten wir etwas dagegen tun. Die Umfrage ist ja nicht erst gestern rausgekommen, sondern vor rund zehn Monaten, und im Moment haben wir noch wenig dagegen getan. In der Ärztekammer haben wir das PHP-Programm eingeführt – Physicians Help Physicians – wo sich Kolleginnen und Kollegen kostenfrei und anonym psychotherapeutische Unterstützung suchen können.
Online-Sondersitzung des Referats für Psychosoziale, Psychosomatische und Psychotherapeutische Medizin der @aekwien – ich will die Einrichtung einer Beratungsstelle für psychische Gesundheit für Ärzt*innen, da diese bis zu 5x häufiger an Suizid versterben. Das müssen wir ändern!
— Frédéric Toemboel (@ftoemboel) January 11, 2021
Wie hat sich dein Arbeitsalltag im Vergleich zu vor der Pandemie verändert?
Gravierend. Die medizinische Arbeit ist sehr ähnlich, wir machen dasselbe wie immer, nur manchmal in Schutzausrüstung. Was sich massiv verändert hat und was ich wirklich als Belastung wahrnehme, ist die fehlende Interaktion mit Kolleg:innen. Zum Beispiel war das gemeinsame Abendessen auf der Intensivstation immer ein unglaublich schönes Ritual. Du hast den ganzen Tag schwere Arbeit gemacht – und dann hast du gemeinsam gekocht. Jetzt bekomme ich fast jeden Tag eine Mail: „Bloß nicht gemeinsam kochen! Bloß nicht gemeinsam in einen Sozialraum sitzen!“. Auch Kongresse oder gemeinsame Ausflüge sind weggefallen. Das heißt, der schöne, menschliche Ausgleich zur Arbeit, der ist fast komplett weg.
Was hat sich für Patientinnen und Patienten geändert?
Was mir am meisten weh tut, ist das Antelefonieren der Angehörigen, wenn ein Patient verstirbt. Manche Intensivstationen haben jetzt ein Tablett bekommen, damit man zumindest per Video kommunizieren kann, aber das ersetzt die menschliche Berührung nicht. Derzeit ist es so: nur wenn du länger als eine Woche stationär aufgenommen bist, akut stirbst oder ein Kind bist, darfst du überhaupt Besuch empfangen. Auf der Intensivstation darf eine Person einmal pro Woche kommen. Das ist schrecklich. Oder ein weiteres Beispiel: Stell dir vor, du wirst in den unfallchirurgischen Schockraum eingeliefert, du bist schwer verletzt – und dann stehen um dich herum fünf Leute in Vollschutzmontur und Gasmasken. Das ist eine ohnehin schon unangenehme Situation und dann kann kaum noch jemand emotional stabilisieren. Es ist am Ende nur noch „körperliche Arbeit“, es fehlt die menschliche Komponente. Die haben wir verloren in den vergangenen zwei Jahren.
Gesamtgesellschaftlich ist der Beruf der Ärzt:in hoch angesehen, ein Beruf mit Prestige, der vor allem gegenüber anderen Gesundheitsberufen eine privilegierte Position einnimmt. Wird euch dieser gesellschaftliche Status derzeit zum Verhängnis?
Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Diese übersteigerte Hoffnung in Form von „Der Arzt oder die Ärztin wird’s schon richten“ ist ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Alle wollen den Shortcut zum Erfolg. Alle wollen die eine Pille, die gesund macht, das eine Medikament, das COVID besiegt. Alle wollen die eine Maßnahme, die die Pandemie beendet. Alle wollen den Arzt, der sagt, mach‘ das und das‘ und alles wird gut. Das war immer und ist auch jetzt ein unrealistisches Versprechen. Diese übersteigerte Selbst- und Fremdwahrnehmung führt dazu, dass Hoffnungen in uns projiziert werden, die unerfüllbar sind. Beantwortet werden sie damit, dass eben noch mehr gearbeitet wird, noch mehr so getan wird, als könnten wir all das erfüllen.
Ich finde, wir sollten alle gemeinsam die Angst
davor verlieren, Systemkritik zu üben –
aber immer lösungsorientiert.
Frédéric Tömböl, Intensivmediziner und Betriebsrat
Kannst du ein Beispiel geben?
Es ist klar, dass sich jeder – wirklich jeder – beim Après-Ski mit COVID infiziert. Aber man sagt, kein Problem, das AKH wird’s schon richten. Wenn du ein Lungenersatzverfahren brauchst, dann machen wir das halt einfach. Und wenn du eine Leber brauchst, bekommst du noch eine Leber, und eine Niere und so weiter… Das ist meiner Meinung nach eine der Facetten, warum dieses Pandemie-Management so schwierig ist für die Regierung. Die Impfpflicht ist ein sehr schönes Beispiel. Die Prämisse davon ist: wir haben euch jetzt drei Mal im Guten darum gebeten, aber jetzt haben wir lang genug geredet, jetzt ist es verpflichtend, mit Strafe. Die Regierung versucht eine sehr einfache Antwort auf sehr schwierige Fragen zu geben. Also: ja, natürlich wird uns das auch zum Verhängnis, wenn man so tut, als könnten wir alles lösen.
Wird euch dieser privilegierte Status auch insofern zum Verhängnis, als dass damit suggeriert wird, in dieser Berufsgruppe werden die Arbeitsbedingungen so schlimm schon nicht sein?
Ich denke, dass man damit sehr viele temporäre Schlechterstellungen entschuldigt. Man sagt dann: Die sollen sich nicht beschweren, die verdienen eh so viel Geld. Das ist im Vergleich zu anderen Gesundheitsberufen, die weniger verdienen, durchaus ein reales Spannungsfeld. Aber, was ich derzeit von Politiker:innen höre, dieser Mythos des Übermenschlichen, das hier geleistet wird – das stimmt nicht! Es ist Menschliches am Rande des Abgrunds. 1.000 Leute haben vor zehn Monaten bereits gesagt, sie sehen sich stark Burnout-gefährdet. Da hilft es wenig, dass man das zum Heldentum stilisiert. Da muss man sagen, das sind Menschen wie alle anderen und wir behandeln sie jetzt auch wie Menschen.
Was sagt das über das österreichische Gesundheitssystem, wenn Menschen wie du, die eine mehr als zehnjährige Ausbildung hinter sich haben und einen absolut essentiellen Job ausüben, trotzdem unter solch prekären Umständen arbeiten?
(überlegt) „Prekär“ ist ein starkes Wort. Viele der Probleme sind global betrachtet Luxusprobleme. Also prekär würde ich meine Situation nicht nennen, weil mein Jahresgehalt ist sehr respektabel. Aber die Bedingungen fühlen sich prekär an. Zum Beispiel sind die Dienstzimmer eine Demütigung: die Klimaanlage bläst dir ins Gesicht und ist ca. 80 Dezibel laut, das Bett ist sicher kaputt, wenn du Glück hast, hast du saubere Bettwäsche. Also das passt nicht zusammen, mit dem sozialen Status, mit dem Gehalt. Ich denke, das Motto ist: Wer zahlt, schafft an. Da heißt es dann, wir zahlen euch eh so gut, jetzt kümmerts euch drum, macht‘s das einfach. Aber was sagt es über das System aus? Es wird sehr viel in die Verantwortung des Individuums hineingesteckt. Es ist oft eine enorme Improvisationsleistung, die im Spital von uns verlangt wird. Das Systemversagen soll individuell kompensiert werden, indem man sagt, wir haben hier eh gute Leute, die wir gut zahlen – die werden das schon irgendwie lösen. Es gibt diesen Spruch: Der Arzt in Ausbildung ist immer abwärtskompatibel. Egal, was fehlt an Personal oder Struktur, wird von sehr leistungsbereiten Akademiker:innen, mit sehr langer Ausbildung dann irgendwie gelöst. In der Klinik Donaustadt sind derzeit einige Pfleger:innen ausgefallen, daher sollen jetzt die Turnusärzt:innen pflegerischen Maßnahmen übernehmen. Sie werden’s schon schaffen, aber das ist dasselbe, wie wenn bei einer Airline das Bordpersonal ausfällt und die Pilot:innen dann die Erdnüsse verteilen. Das suggeriert, es ist eh egal, wer das macht, es muss halt irgendwer machen. Man kann es nicht oft genug betonen: Alle Menschen, die im AKH arbeiten, geben im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihr Bestes. Wir haben hier ein im Wildwuchs entstandenes System, das immer komplexer geworden ist und immer mehr Anforderungen erfüllen soll – mit Menschen, die nicht gut darauf vorbereitet wurden und oft improvisieren müssen.
Laut deinem Twitter-Profil bist du „gesellschaftlich engagierter Arzt“ – was bedeutet das in so einem Fall?
Dass wir genau solche Gespräche hier führen. Nach diesem Falter-Artikel beispielsweise habe ich anschließend sehr wütende Anrufe bekommen. Ich verstehe das, es ist für viele Systemverantwortliche unangenehm zu hören, dass das System einen Scheiß draufgibt, wie’s den Menschen geht, die da drin arbeiten. Ich sehe Vieles von meinem täglichen Tun als politisch an. Ich finde, wir sollten alle gemeinsam die Angst davor verlieren, eine Systemkritik zu üben – aber immer lösungsorientiert. Ein Interview wie dieses zählt daher für mich als gesellschaftliches Engagement.
Statt "Tischlein, deck dich" heißt es "Pflgebebedarf, deck dich". Doch 80.000 neue Pflegekräfte bis 2030 können nicht einfach herbeigezaubert werden. Mehr zum "Pflegefall Zukunft" im neuen Magazin. Jetzt druckfrisch zu erwerben. Hier geht's zum Print-Abo: https://t.co/hkV3oVP3Hj pic.twitter.com/TtFgsKmY8d
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) March 21, 2022
Kann Corona auch Chance sein?
Am Anfang hätte ich das eher bejaht. Mittlerweile sehe ich, es geht einfach weiter wie immer. Geändert hat sich wenig. Es hätte eine Chance sein können. Seit zwei Jahren hören wir, dass die Probleme, die immer schon da waren, durch die Pandemie im Brennglas sichtbar wurden. An den Zuständen, wo das angebliche Brennglas drauf ist, hat sich in meinem Dafürhalten wenig verändert. Ich hoffe, dass es irgendwann eine Art strukturierte Nachbesprechung geben wird, um zu erörtern, was den Systemen geholfen hätte, krisenresistenter zu sein. Denn es wird nicht die letzte Krise sein, die auf uns zukommt. Wir haben jetzt die Möglichkeit, zu lernen, was hat funktioniert, was hat weniger funktioniert – und was machen wir nächstes Mal anders.
Weiterführende Artikel:
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Die „wahren Leistungsträger:innen“ in der Corona-Krise: Was hat sich seither verändert?