Abgehängt und verhöhnt

Inhalt

  1. Seite 1
  2. Seite 2
  3. Auf einer Seite lesen >
Die Arbeitsmarkt-, die Bildungs- und letztlich auch die Politik-Fernen: Personen, die mit solchen Etiketten versehen werden, sind beliebte Sündenböcke

Kontraproduktiv

Aus gewerkschaftlicher Perspektive ist demgegenüber festzuhalten, dass die entsprechenden Maßnahmen nicht nur unsozial gegenüber den Betroffen sind. Sie bewirken in Wahrheit oft das Gegenteil von dem, was ihre ProtagonistInnen behaupten. Studien belegen etwa, dass fast die Hälfte all jener, die aus Hartz IV heraus eine Arbeit aufnehmen, parallel zum neuen Job zusätzlich Hartz-IV-Leistungen beantragt.

Hartz IV ist somit ein System, das Menschen erst in die Abhängigkeit bringt und damit kein Sprungbrett ist, sondern vielmehr ein tiefer Graben, aus dem Betroffene nur schwer wieder herauskommen. In eine ähnliche Richtung gehen auch jene Befürchtungen, die ÖGB und AK zu Recht gegenüber den Geldstrafen bei Verletzung der Ausbildungspflicht formulierten: „Die Sanktionierung der Eltern ist nicht zielführend. Diese würde vor allem jene Eltern treffen, die bereits sozial benachteiligt sind, und die Jugendlichen mit einer Bestrafung zusätzlich als Ausbildungsverweigerer stigmatisieren. Daher erscheinen Sanktionen im gewünschten Sinn weder wirksam noch sinnvoll (…).“

In einem viel beachteten Essay rechnet der Schweizer Pädagoge Roland Reichenbach mit dem Begriff „Bildungsferne“ ab. Er kritisiert nicht nur die Verengung und Überfrachtung eines Diskurses, in dem Bildung quasi als Problemlöser für alles Mögliche verkauft wird.

Besonders problematisch ist für ihn, wenn die Verantwortung für Systemfehler auf die vom System Abgehängten übergewälzt wird. „Aber welches Bildungsverständnis muss im Bildungsforscherkopf vorherrschen, damit er davon ausgehen kann, ganze Bevölkerungsgruppen könnten der Bildung fernliegen?“, meint Reichenbach. Und an anderer Stelle bringt er die Arroganz dieses Zugangs noch klarer auf den Punkt: Man sagt „bildungsfern“ und denkt „ungebildet“.

Perfide, bequem und falsch

Analog könnte man demnach auch interpretieren: Man sagt „arbeitsmarktfern“ und meint „arbeitsscheu“. Doch die Betroffenen zu beschimpfen ist nicht nur perfide und bequem, sondern vor allem auch falsch.

Eltern und Kinder, die sich im Dschungel unseres Bildungssystems nicht zurechtfinden, sind deshalb nämlich nicht bildungsfern. Und wie fern ist der Arbeitsmarkt von Menschen, die mit 50 zum alten Eisen gerechnet werden? Und wie realitätsfern sind Intellektuelle, wenn sie das wachsende Unbehagen gegenüber den Eliten als „Politik-Ferne“ analysieren? Oder Populismus und Rechtsextremismus auf ein soziokulturelles „Unterschichtsphänomen“ verkürzen?

Was sollte getan werden?

Es gibt viel zu wenige Vorschläge und Ansätze, die Ausgegrenzten wieder ins Boot zu holen. Besonders wichtig ist dabei, dass sich das Bildungsangebot an die Bedürfnisse der Menschen anpasst. Die Bildungschancen sind ungerecht verteilt. Nur 21 Prozent der Kinder (OECD 2015) erwerben einen höheren Abschluss als die Eltern – der Bildungsgrad wird also vererbt. Nicht die Talente zählen, sondern Bildung und Einkommen der Eltern. Auch sollte es mehr Möglichkeiten geben, Bildung und Ausbildung im Erwachsenenalter nachzuholen.

Daneben wird es für AK oder ÖGB wichtig sein, die Interessenpolitik auch für besonders benachteiligte Zielgruppen verständlich zu machen. Das bedeutet nicht nur, bewusst manchmal eine Sprache zu suchen und zu lernen, die die Zielgruppe versteht. Sondern auch ein besonderes Augenmerk auf die Organisation und Interessenvertretung jener Gruppen zu haben, die besonders wenig Rückhalt in der Gesellschaft und ihren sonstigen Institutionen haben.

Linktipp:
Roland Reichenbach, „Über Bildungsferne“, 2015. Downzuloaden unter:
tinyurl.com/zh3r3h2

Von
John Evers
Erwachsenenbildner und Historiker

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 2/17.

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor
john.evers@vhs.at
die Redaktion
aw@oegb.at

Inhalt

  1. Seite 1
  2. Seite 2
  3. Auf einer Seite lesen >

Du brauchst einen Perspektivenwechsel?

Dann melde dich hier an und erhalte einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.



Mit * markierte Felder sind Pflichtfelder. Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.