Alles eine Frage der Zeit?

Quelle: BMASK
Mit dem 12-Stunden-Tag werden Selbstausbeutung und gesundheitlicher Raubbau nicht nur legalisiert, sondern salonfähig gemacht und gefördert.
Ständiger Zeitdruck, eine hohe Arbeitsmenge, Ressourcenmangel bei der Bewältigung von Aufgaben, eine dünne Personaldecke. Dies sind nur einige Belastungen, die viele Beschäftigte heute nur allzu gut kennen. Fast 40 Prozent der ArbeitnehmerInnen arbeiten immer oder häufig unter Zeitdruck. Bei mehr als der Hälfte haben sich Arbeitsdruck und Arbeitsmenge im letzten Jahr weiter erhöht. Die Konsequenz: Etwa ein Drittel der Beschäftigten arbeitet nach Dienstschluss weiter, um das Arbeitspensum zu bewältigen – ohne finanziellen oder zeitlichen Ausgleich.

Erholung? Fehlanzeige!

Rasch wird auf der Fahrt zur Arbeit noch die Präsentation fürs morgendliche Meeting erstellt oder abends, auf der Couch, ein berufliches Telefonat oder Mail beantwortet. Smartphone, Laptop & Co ermöglichen Freiheiten, hindern jedoch oft daran, nach getaner Arbeit den eigenen menschlichen „Akku“ wieder aufzuladen. Sogar der Urlaub wird genutzt, um mit den betrieblichen Zielen Schritt zu halten. Ein Viertel der Beschäftigten ist im Urlaub für die Firma erreichbar, 14Prozent checken regelmäßig die Mails. Erholung? Fehlanzeige!

Ein Viertel der Beschäftigten ist im Urlaub für die Firma erreichbar, 14Prozent checken regelmäßig die Mails.

Die von der Regierung durchgepeitschte Verlängerung der Arbeitszeit (Stichworte dazu sind 12-Stunden-Tag und 60-Stunden-Woche) schränkt nun die Möglichkeit zum Durchatmen weiter ein – Selbstausbeutung und gesundheitlicher Raubbau werden legalisiert, salonfähig gemacht und gefördert.

Wird ein Gummiband übermäßig gedehnt, reißt es irgendwann: Diese physikalische Gesetzmäßigkeit gilt auch für uns Menschen – wir alle haben natürliche Leistungsgrenzen. Arbeitsmedizinisch ist gesichert: Ein Gleichgewicht zwischen Arbeits- und Erholungszeit ist wichtig, um langfristig leistungsfähig zu bleiben. Fehlt ausreichend Zeit zur Regeneration, können verbrauchte Ressourcen nicht wieder aufgebaut werden – Stress, Erschöpfung oder Krankheit können die Folge sein. Spannung braucht Entspannung!

Ein Gleichgewicht zwischen Arbeits- und Erholungszeit ist wichtig, um langfristig leistungsfähig zu bleiben.

Jede geistige oder körperliche Arbeit führt zu einer Abnahme von Leistungsfähigkeit und einer Zunahme von Ermüdung. Hierbei gilt: Je länger gearbeitet wird, desto länger muss auch die nachfolgende Erholungsphase sein. Eine Studie der Universität Wien zeigt: Wird an einem einzelnen Tag zwölf Stunden gearbeitet, ist der Ermüdungszuwachs dreieinhalb Mal höher als an einem arbeitsfreien Tag. Somit reicht schon hier der Tagesrand nicht mehr zur vollständigen Regeneration aus. Die Ermüdung wird in den nächsten Tag „mitgeschleppt“ und summiert sich: Nach zwei aufeinanderfolgenden 12-Stunden-Arbeitstagen wären bereits drei arbeitsfreie Tage erforderlich, um die Ermüdung wieder auszugleichen. Auch aufgrund des steigenden Arbeitsunfallrisikos soll die Tagesarbeitszeit von acht Stunden, in der Regel, nicht überschritten werden, lautet die Schlussfolgerung der Studie.

Lange Arbeitszeiten schlagen sich auch auf die Psyche nieder. So scheint Burnout mittlerweile zum beruflichen Alltag geworden zu sein: Fast jede/r dritte Beschäftigte kennt Fälle im eigenen
Betrieb. Die Ergebnisse eines Forschungsprojekts im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz sind alarmierend: Bereits heute sind 44 Prozent Burnoutgefährdet oder schon „krank“ – Wochenarbeitszeiten von über 40 Stunden erhöhen das Burnout-Risiko signifikant und sollten daher nur zeitlich begrenzt möglich sein, lautet eine zentrale Aussage.

Aber nicht nur das Burnout-Risiko steigt durch lange Arbeitszeiten. Auch die Gefahr, an einer Depression zu erkranken, nimmt zu. So ist das Risiko einer schweren depressiven Episode bei
Arbeitstagen von elf und zwölf Stunden mehr als doppelt so hoch als bei Arbeitstagen mit sieben oder acht Stunden.

Nicht nur das Burnout-Risiko steigt durch lange Arbeitszeiten. Auch die Gefahr, an einer Depression zu erkranken, nimmt zu.

Schlafstörungen werden durch lange Arbeitszeiten ebenso begünstigt. Vergleicht man Personen, die 35 bis 40 Stunden arbeiten, mit jenen, die eine Arbeitszeit von mehr als 55 Stunden pro Woche haben, so steigt das Risiko enorm. Beispielsweise haben Letztere ein um 98 Prozent höheres Risiko, weniger als sieben Stunden schlafen zu können. Das Risiko für Einschlafstörungen steigt gar um 268 Prozent.

Krankheitsrisiko

Ein Mangel an Erholung kann zu vielen weiteren Erkrankungen führen. Besonders toxisch wirkt die Kombination aus Stress und mangelnder Regeneration:

Stresshormone können nicht mehr vollständig abgebaut werden. Mögliche gesundheitliche Folgen reichen von Kopfschmerzen, Nervosität, psychischen Störungen, Fettleibigkeit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zu einem erhöhten Krebs- und Sterberisiko.

Warum gibt es die Bereitschaft, die eigene Gesundheit dem Job zu opfern und sich buchstäblich zu Tode zu arbeiten?

Warum aber gibt es die Bereitschaft, die eigene Gesundheit dem Job zu opfern und sich buchstäblich zu Tode zu arbeiten? Psychologische Mechanismen, ausgelöst durch neue Managementsysteme, wie die „indirekte Steuerung“, geben eine mögliche Antwort. Bei diesem Instrument wird der Unternehmenszweck nicht durch konkrete Anweisungen an die ArbeitnehmerInnen erreicht.

Stattdessen wird deren Verantwortungs-, Handlungs- und Entscheidungsspielraum erhöht – die Beschäftigten sollen „das tun, was sie selber wollen“, um den Unternehmenszweck zu erfüllen.
Der Betrieb gibt lediglich „motivierende“ Rahmenbedingungen vor: Leistungsvergleiche zwischen Abteilungen/Standorten/Teams, Zielvorgaben (die sich kontinuierlich erhöhen) oder Konkurrenzdruck sind Beispiele hierfür.

Die Verantwortung für die Zielerreichung sowie für die Beseitigung von Hindernissen (und damit für den Erfolg/ Misserfolg des Betriebs) wird „nach unten“ delegiert. „Tu, was du willst, aber sei
profitabel!“, beschreibt Jakob Schrenk in seinem Buch „Die Kunst der Selbstausbeutung“ diese Stoßrichtung. Die unternehmerische Verantwortung wird dabei auf die ArbeitnehmerInnen übertragen.

Erzwungene Selbstausbeutung

Die Beschäftigten identifizieren sich hierbei in einer Weise mit der Arbeit, dass die Unternehmensziele zu den „eigenen“ Zielen werden. Im Konflikt zwischen persönlichen Bedürfnissen wie
Erholung und Zielerreichung gewinnt Zweiteres oft die Oberhand. Die Konsequenz: Notwendige Erholungszeiten und Pausen werden vernachlässigt, eigene Wünsche den Anforderungen der Arbeit untergeordnet.

Die Konsequenz: Notwendige Erholungszeiten und Pausen werden vernachlässigt, eigene Wünsche den Anforderungen der Arbeit untergeordnet.

Die „erzwungene Selbstausbeutung“ wird dabei als „selbstbestimmte Überforderung“ erlebt, beschreibt der deutsche Soziologe Nick Kratzer. Zur Erreichung der „eigenen“ Ziele werden dann – von den Beschäftigten selbst – Schutzbestimmungen unterlaufen oder gar nur mehr als lästiges Hindernis auf dem Weg zum Ziel empfunden.

(Arbeitszeit-)Schutzverpflichtung

Fakt ist: Arbeitgeber sind laut ArbeitnehmerInnenschutzgesetz verpflichtet, die Beschäftigten vor psychischen und physischen Gefahren zu schützen. Sie müssen Gefährdungen am Arbeitsplatz ermitteln und wirksame Gegenstrategien entwickeln. So sind Belastungen, die zu Fehlbeanspruchung führen können, auszuschalten oder zu reduzieren.

Auch die Belastung durch Arbeitszeit zählt hierzu: Der Leitfaden der Arbeitsinspektion zur Evaluierung arbeitsbedingter psychischer Belastungen führt explizit den inadäquaten Wechsel zwischen Aktivitäts- und Erholungsphasen, mangelhafte Pausengestaltung, belastende Schichtpläne sowie ständig überdurchschnittlich hohe Arbeitszeiten als Gefahren an. Diese Punkte sollten künftig in einer Durchführungsverordnung zum Gesetz konkret abgebildet werden.

Wichtig ist auch: Den Mechanismen, die Beschäftigte in überlange Arbeitszeiten bzw. die „freiwillige Selbstausbeutung“ treiben, wird noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Abnehmende Solidarität und als „Hindernis“ betrachtete Schutzgesetze – als Resultate von indirekter Steuerung & Co – stellen neue Herausforderungen für ArbeitnehmerInneninteressenvertretungen dar und erfordern eine Auseinandersetzung mit dem Thema. Kranke Arbeitszeiten machen letztlich kranke Menschen. Arbeit darf uns nicht die Ressourcen für jene Bereiche rauben, die uns Menschen
Sinn und Stabilität im Leben geben: Familie, Freunde, Hobbys, Gesundheit und Zeit für uns selbst.

Statistik Austria (2016): „Arbeitsorganisation
und Arbeitszeitgestaltung“:
tinyurl.com/yyt9pvoa
AK-Strukturwandelbarometer 2018:
tinyurl.com/y2tmfvs2
Arbeitsklima Index:
www.arbeitsklimaindex.at

Von
Johanna Kloesch

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 2/19.

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johanna.kloesch@akwien.at
oder die Redaktion
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