Unfreiwillig freiwillig

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„Ein Problem bei uns Menschen ist: Oft merken wir erst, dass uns etwas nicht guttut und krank macht, wenn es zu spät ist und wir bereits krank sind.“

Inhalt

  1. Seite 1 - Ungleichgewicht zwischen Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen
  2. Seite 2 - Steigende Risiken
  3. Seite 3 - Pausen dringend nötig
  4. Auf einer Seite lesen >
Ohne vorherige Einbindung der Sozialpartner hat die Regierung mit der seit 1. September 2018 geltenden Arbeitszeitregelung Fakten geschaffen. 12-StundenTage und 60-Stunden-Wochen werden damit von ArbeitnehmerInnen häufiger zu leisten sein als bisher. Der Schutz der Beschäftigten tritt in den Hintergrund gegenüber den Interessen der Unternehmen. Welche Konsequenzen sind zu erwarten?
Im 19. Jahrhundert klang er für viele ArbeiterInnen geradezu utopisch, erst im Jahr 1920 wurde er endlich für alle ArbeitnehmerInnen in Österreich zur Realität: der 8-Stunden-Tag. Diese hundert Jahre alte Errungenschaft hat die amtierende ÖVP-FPÖ-Regierung mit beispielloser Härte beiseitegeschoben. Die Sozialpartner, welche die Interessen der ArbeitnehmerInnen vertreten, wurden erst gar nicht an den Verhandlungstisch gebeten. Dafür durften Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung ihr Wunschkonzert vortragen – und wurden am Ende reich beschenkt.

Schon bisher war es möglich, MitarbeiterInnen zu bitten, zwölf Stunden am Stück zu arbeiten – Beispiel ÖBB. Voraussetzung war allerdings die Zustimmung des Betriebsrats oder eines
Arbeitsmediziners/einer Arbeitsmedizinerin. Nun ist alles anders. Mit dem neuen Arbeitszeitgesetz haben Unternehmen vielfältige Möglichkeiten, über den weiterhin als Normarbeitszeit definierten 8-Stunden-Tag hinaus über die Zeit ihrer Beschäftigten zu bestimmen. Wenn es im Sinn des Betriebs ist, können MitarbeiterInnen gebeten werden, zwölf Stunden am Stück oder 60 Stunden in der Woche zu arbeiten – und zwar in bis zu 24 Wochen pro Jahr. Eine kleine Besserung gegenüber dem ursprünglich vorgelegten Entwurf stellt die Möglichkeit dar, Überstunden über die zehnte Tagesstunde hinaus ohne Begründung abzulehnen.

Schönrede-Versuch

Mit dem Schlagwort der „Freiwilligkeit“ versuchten denn auch VertreterInnen der Regierungsparteien im Zuge der parlamentarischen Debatte bei der Beschlussfassung der Arbeitszeitflexibilisierung den Schlag ins Gesicht der ArbeitnehmerInnen schönzureden. Von einer „Beziehung auf Augenhöhe“ sprach etwa Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck (ÖVP). Diese Freiwilligkeit sei allerdings „eine Schimäre “, betont Hans Trenner, Bereichsleiter für Beratung der Arbeiterkammer Wien. „Freiwilligkeit besteht nur dort, wo ich wirklich frei in meiner Willensentscheidung bin.“ Doch die von der Wirtschaftsministerin beschworene Augenhöhe zwischen Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen sei nicht gegeben, hier gebe es ein Ungleichgewicht. „Der Grundgedanke des Arbeitsrechts ist: Der Arbeitnehmer muss als Schwächerer geschützt werden. Dem Schwächeren zu sagen, es gibt ein Recht abzulehnen, aber gleichzeitig hat der Arbeitgeber das Recht, Mehrarbeit anzuordnen, das passt nicht zusammen.“

Die von der Wirtschaftsministerin beschworene Augenhöhe zwischen Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen ist nicht gegeben!

Und Trenner spricht Klartext über die Folgen, wenn Beschäftigte mehrmals auf ihr Recht pochen, nicht länger als zehn Stunden zu arbeiten: „In Zukunft wird es so sein, dass ein Arbeitnehmer, der sich auf das Ablehnungsrecht der 11. und 12. Stunde beruft und seinen Job verliert, dem Gericht glaubhaft machen muss, dass die Ablehnung der Mehrarbeit der Grund für den Hinauswurf war.“ Nur: Anders als in Deutschland muss in Österreich nicht zuerst der Arbeitgeber nachweisen, warum er jemanden gekündigt hat. „In unserem Verfahrensrecht ist es so, dass der Arbeitgeber bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung – und das kann sehr lange dauern – jeden Grund nachliefern kann, etwa wenn er sagt: ‚Ich bin draufgekommen, dass der Arbeitnehmer regelmäßig zwei übrig gebliebene Semmeln mit nach Hause genommen hat.‘“

Die ersten Fälle, mit denen die Arbeiterkammern seit Inkrafttreten des neuen Arbeitszeitgesetzes konfrontiert waren, weisen genau in diese Richtung. Da war etwa die 56-jährige Hilfsköchin, die seit 1999 in einem Lokal in Wien Leopoldstadt beschäftigt war. Ihr Chef forderte von ihr, zwölf Stunden zu arbeiten. Sie versuchte zu retten, was zu retten schien, und bot an, 40 Stunden in
der Woche zur Verfügung zu stehen, betonte aber gleichzeitig, dass ihr mehr aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sei. Am Ende sollte sie nicht die einzige Mitarbeiterin bleiben, der es so erging. Wie sich herausstellte, benutzte der Arbeitgeber den 12-Stunden-Tag, um ältere ArbeitnehmerInnen loszuwerden. So ersparte er sich die Abfertigung – die Hilfsköchin fiel am Ende um drei Monatsgehälter um, denn das Arbeitsverhältnis wurde vier Monate vor dem 20-jährigen Dienstjubiläum gelöst.

An Zynismus nicht zu überbieten

In Kärnten wurde einer Arbeitnehmerin ein Dienstvertrag mit folgendem Passus vorgelegt: „Der Arbeitnehmer erklärt seine ausdrückliche und freiwillige Bereitschaft, bei Vorliegen eines erhöhten Arbeitsbedarfes im Sinn des § 7 Abs. 1 AZG (idF ab 01.09.2018) eine Tagesarbeitszeit von bis zu 12 Stunden sowie eine Wochenarbeitszeit von bis zu 60 Stunden leisten zu wollen.“ Diese Formulierung sei an Zynismus kaum zu überbieten, urteilte der Kärntner AK-Präsident Günther Goach. „Die Arbeitnehmerin soll freiwillig erklären, dass sie auf ihr Recht auf Freiwilligkeit verzichtet.“

Einen ähnlichen Satz wies auch ein Dienstvertrag in Tirol auf. Dort war zu lesen: „Der Arbeitnehmer erklärt seine ausdrückliche und freiwillige Bereitschaft, bei Vorliegen eines erhöhten Arbeitsbedarfes eine Tagesarbeitszeit von bis zu 12 Stunden sowie eine Wochenarbeitszeit von bis zu 60 Stunden leisten zu wollen.“ Für den Tiroler AK-Präsidenten Erwin Zangerl ist das eine sitten- und rechtswidrige Vorgangsweise, die allerdings nun verstärkt um sich greifen werde. Und welcher Arbeitnehmer bzw. welche Arbeitnehmerin hat dann auch wirklich den Mut, seinem Arbeitgeber die Stirn zu bieten?

Welcher Arbeitnehmer bzw. welche Arbeitnehmerin hat auch wirklich den Mut, seinem Arbeitgeber bei sitten- und rechtswidrigen Vorgangsweisen die Stirn zu bieten?

Barbara Teiber, Bundesvorsitzende der GPA-djp, erzählte etwa, im Handel seien einige Fälle gemeldet worden, wo Beschäftigte berichteten, dass massive Mehrarbeit von ihnen verlangt werde. Allerdings wollten die Betroffenen weder ihren Namen noch den des Betriebes, in dem sie arbeiten, nennen. Zu groß sei die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Wer anonym bleiben möchte, dem können allerdings weder Gewerkschaft noch Arbeiterkammer wirklich helfen. Was solche Wortmeldungen aber aufzeigen: Das Ungleichgewicht zwischen Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen wurde größer. Das Arbeitszeitgesetz hat seine wichtige Schutzfunktion zu einem Gutteil eingebüßt. Betroen sind in Österreich rund 3,6 Millionen unselbstständig Beschäftigte.

Wenn dann etwa Sozialministerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ) meint, das novellierte Arbeitszeitgesetz diene nicht nur der praxisgerechten Gestaltung der Arbeitszeit zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts, sondern auch der „Selbstbestimmung der ArbeitnehmerInnen“, konterkariert das die Erfahrungen von Beschäftigten – und wiederholt das Mantra der Wirtschaftskammer, das neue Gesetz bringe flexiblere Arbeitszeiten für MitarbeiterInnen und Unternehmer.

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Über den/die Autor:in

Alexia Weiss

Alexia Weiss, geboren 1971 in Wien, Journalistin und Autorin. Germanistikstudium und Journalismusausbildung an der Universität Wien. Seit 1993 journalistisch tätig, u.a. als Redakteurin der Austria Presse Agentur. Ab 2007 freie Journalistin. Aktuell schreibt sie für das jüdische Magazin WINA sowie für gewerkschaftliche Medien wie die KOMPETENZ der GPA-djp oder die Gesunde Arbeit. 2022 erschien ihr bisher letztes Buch "Zerschlagt das Schulsystem ... und baut es neu!" (Verlag Kremayr & Scheriau).

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