Kompromiss
Das Gesetz war ein Kompromiss, ausgehandelt im „Industriekomitee“, dem Gremium, in dem Vertreter des „Hauptverbands der Industrie“, der „Reichskommission der Freien Gewerkschaften“ und der Staatsregierung das Krisenmanagement in der Übergangsphase von der Monarchie zur Republik koordinierten.
Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Übergangsparlament konnte vorerst nicht mehr erreicht werden – selbst die kürzere Arbeitswoche für Frauen und Jugendliche war nur nach sehr zähen Verhandlungen durchzusetzen. Die von der provisorischen Nationalversammlung beschlossenen Gesetze waren so provisorisch wie sie selbst. Es sollte der am 16. Februar 1919 gewählten konstituierenden Nationalversammlung, der ersten wirklich demokratisch von Männern und Frauen gewählten Volksvertretung Österreichs, vorbehalten bleiben, unbefristet geltendes Recht zu schaffen.
Die WählerInnen machten die sozialdemokratische Vereinigung mit ihrem starken Gewerkschaftsflügel zur stärksten Einzelfraktion, aber Christlichsoziale und Großdeutsche, bei denen die Interessen der Arbeitgeberseite dominierten, behielten zusammen die Mehrheit.
Bessere Chancen
Als die Republik nach dem Friedensvertrag von St. Germain ab September 1919 nur mehr „Österreich“ hieß und die Sieger des Ersten Weltkriegs einen Anschluss an die deutsche Republik verboten hatten, verließen die Großdeutschen die Koalition. Gleichzeitig erhielt der kleine ArbeitnehmerInnenflügel in der christlichsozialen Fraktion für kurze Zeit mehr Gewicht.
Außerdem wurde Österreich nach dem Friedensvertrag Mitglied der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation. Die ILO-Konferenz von Washington beschloss im November 1919 ein Übereinkommen „über die Begrenzung der Arbeitszeit auf acht Stunden täglich und achtundvierzig Stunden wöchentlich“. Unter diesen Bedingungen stiegen die Chancen, ein neues Gesetz zur Arbeitszeitverkürzung zu beschließen, wenn auch der Verabschiedung durch die Nationalversammlung heftige Auseinandersetzungen vorangingen. Die Kritik kam vor allem von der großdeutschen Opposition und hier besonders von den Industriellen, die mittlerweile jeden sozialpartnerschaftlichen Interessenausgleich ablehnten. Industriellenchef Viktor Wutte hielt statt einer Arbeitszeitverkürzung eine Arbeitszeitverlängerung für angemessen. Die ArbeiterInnen würden ohnehin zu viel feiern, meinte er. Die neuen Staatsfeiertage, der Republiktag am 12. November und der 1. Mai, seien höchst überflüssig.
Wuttes Fraktionskollege Leopold Stocker forderte sogar die Einführung von Zwangsarbeit in Krisenzeiten. Trotz dieser und anderer Widerstände beschloss die konstituierende Nationalversammlung am 17. Dezember 1919 das Gesetz, das den Achtstundentag und den freien Samstagnachmittag für Frauen und Jugendliche in (fast) allen Wirtschaftszweigen und Betriebsformen außerhalb der Landwirtschaft ab Juli 1920 einführte.