Mission Ukraine
Die beiden Gewerkschafterinnen Kateryna Voloshko und Ivanna Khrapko haben sich entschieden, trotz des Kriegs weiterhin in der Ukraine zu leben. Sie gehen ihrer Arbeit im großen Gewerkschaftshaus am Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz im Herzen Kiews, nach. „Wenn es einen Alarm in der Stadt gibt, hören wir das über die Lautsprecher im Gebäude“, erklärt Khrapko. Sie trägt eine Brille, die braunen Haare reichen ihr bis zum Kinn. Es würde dann dazu aufgerufen, sich möglichst schnell in den Bunker unter dem weitläufigen Platz zu begeben. „Wir checken aber erst am Handy, wo der Angriff stattfindet. Nur wenn es in der Nähe ist, gehen wir in den Bunker“, sagt sie.
Khrapko ist Vorsitzende des Jugendrats des ukrainischen Gewerkschaftsbundes FPU, Voloshko ist Internationale Projektleiterin in der Gewerkschaft der Arbeiter der Bau- und Baustoffindustrie der Ukraine. An diesem eisigen Wintertag Ende 2024 nehmen die beiden in Wien als Gäste beim Kongress der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ) teil. In einer Rede werden sie über die derzeitige Lage der Arbeitnehmer:innen in der Ukraine erzählen. Mit dem internationalen Referat des ÖGB entwickeln sie außerdem gemeinsame Projekte, bei denen es um den Aufbau von Jugendstrukturen in der ukrainischen Gewerkschaftsbewegung geht. Und die zwei haben bei solchen Reisen eine Mission: Sie lobbyieren für mehr Unterstützung für die Ukraine, auch für die Zeit nach dem Krieg.
Freundschaft im Ausnahmezustand
Drei Jahre ist es mittlerweile her, dass Russland die Ukraine überfallen hat – drei Jahre, in denen sich dieses Land unwiederbringlich verändert hat. Zigtausende Menschenleben haben die Kämpfe bereits auf beiden Seiten gefordert, noch mehr Menschen sind geflohen. Und für die beiden Gewerkschafterinnen ist das Unvorstellbare Alltag geworden. „So klingt es, wenn man bei einem Stromausfall durch die Stadt geht“, sagt Voloshko und zeigt ein Video von einer Kiewer Einkaufsstraße: Lautes Dröhnen und Wummern ist aus den Geschäften zu hören, in jedem läuft ein Generator. Zeitweise habe es nur wenige Stunden am Tag Strom gegeben, in denen man so viele Akkus und Geräte wie möglich aufgeladen hat.
Kennengelernt haben sich die beiden Frauen vor rund vier Jahren bei einem beruflichen Seminar. Die 34-jährige Voloshko wurde in Kiew geboren und wuchs dort auf. Sie absolvierte die Arbeitsakademie des FPU und studierte dort Wirtschaftswissenschaften. Heute organisiert sie Konferenzen, Seminare und andere Events für die Gewerkschaftsmitglieder und arbeitet mit der Gewerkschaftsjugend zusammen.
Ivanna Khrapko ist 35 und stammt aus einem kleinen Dorf im Westen der Ukraine mit weniger als tausend Einwohner:innen. Ihre Mutter arbeitet in einem Waisenhaus, der Vater ist Bauarbeiter. Studiert hat sie nahe der rumänischen Grenze an einer Finanzakademie in Czernowitz, danach war sie als Lehrerin tätig, bevor sie bei einer lokalen Gewerkschaft anheuerte und schließlich in die Zentrale des FPU wechselte. Nur wenige Wochen später brach der Krieg aus.

Wachsam bleiben
Was dieser für Arbeitsmarkt und Wirtschaft des Landes bedeutet, kann man nur als völlige Umwälzung bezeichnen. Arbeitnehmer:innen werden mobilisiert, Hunderttausende müssen andernorts Beschäftigung finden oder sind außer Landes geflohen. Die ukrainische Regierung versucht, auf die geänderten Bedingungen zu reagieren und dabei gegensätzliche Interessen von Unternehmerschaft und Abeitnehmer:innen unter einen Hut zu bringen.
„Die Ukraine hat derzeit einen großen Bedarf an Arbeitskräften, und die Regierung versucht, Anreize für den Eintritt in den Arbeitsmarkt zu schaffen“, erklärt die ukrainische Rechtsanwältin und Arbeitsrechtsexpertin Anastasiia Zernova auf Anfrage per E-Mail. „Fragen der Migration und der Mobilisierung haben bereits einen erheblichen Einfluss auf den Rückgang der Zahl der Arbeitnehmer:innen in der Ukraine.“ Geschätzt drei Millionen Arbeitsplätze gingen durch die russischen Angriffe bereits verloren.
In diesen Kriegszeiten gilt es aus gewerkschaftlicher Sicht, trotz Ausnahmezustand wachsam zu sein und Maßnahmen zur wirtschaftlichen Belebung auf ihre Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Eine Gesetzesänderung, die beispielsweise auf Kritik der Gewerkschaften stieß, war die Verabschiedung des sogenannten Gesetzes 5371 im Frühjahr 2022, das Arbeitnehmer:innen von privaten kleinen und mittleren Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten vom kollektiven Arbeitnehmer:innenschutz ausnimmt. „Einerseits kann man von der Schaffung eines neuen Modells der Beziehungen zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen sprechen, in dem flexible Bedingungen für die Interaktion herrschen“, so Zernova. „In der Realität kann die Situation jedoch anders aussehen, wenn sich die Arbeitgeber:innen unfair verhalten und es keine Mechanismen zum Schutz der Arbeitnehmer:innenrechte gibt.“ Auch eine Reform des aus der Sowjetzeit stammenden Arbeitsrechtskodex ist derzeit in Ausarbeitung. Er solle Interessen ausgleichen, neue hochwertige Arbeitsplätze schaffen, höhere Gehälter ermöglichen und die Einstellung von Arbeitnehmer:innen vereinfachen, so Zernova. Die Gewerkschaften versuchen, ihre Anliegen in die Reform miteinzubringen.

Sozialer Dialog in Gefahr
„Es darf in dieser Ausnahmesituation nicht auf die Rechte der Arbeitnehmer:innen vergessen werden“, sagt Khrapko, während sich die Cafeteria der Ankerbrotfabrik zur Mittagszeit langsam mit Menschen füllt. Die beiden Ukrainerinnen kritisieren, dass der soziale Dialog, der Arbeitgeber:innen- und Arbeitnehmer:innenseite gleichermaßen Gehör bei der Regierung verschaffen soll, derzeit vernachlässigt würde. „Meine wichtigste Botschaft, wenn ich mit politischen Entscheidungsträger:innen spreche, ist, dass die Gewerkschaften im Rahmen des sozialen Dialogs miteinbezogen werden müssen.“ Khrapko und Voloshko lobbyieren bei solchen Besuchen außerdem für mehr finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine.
Das Land setzt derzeit den Aktionsplan des Europarats „Resilienz, Erholung, Wiederaufbau“ für 2023–2026 um. Nur bei einer der drei bisherigen „Recovery Conferences“ seien die Gewerkschaften aber bisher eingeladen gewesen. „Wir sollten dabei sein, wenn der mögliche Beitritt zur EU oder der Wiederaufbau der Ukraine verhandelt wird“, betont Voloshko. Die Positionierung sei wichtig, um auch nach Kriegsende eine Verhandlungsbasis zu haben. „Nach dem Krieg werden viele Investor:innen und Unternehmen auf den ukrainischen Markt kommen und in den Wiederaufbau investieren“, sagt sie. „Unsere Hauptaufgabe ist, mit unseren Forderungen an die Arbeitgeber:innen in diesen Prozess eingebunden zu werden.“
Es gibt nur jetzt
Gefragt, wie sich die beiden Frauen ihre Zukunft vorstellen, meinen sie, solche Ideen seien ihnen derzeit nicht möglich. „Wir träumen davon, dass wir siegen und der Krieg bald vorbei ist“, sagt Voloshko, „und dass die Menschen, die geflohen sind, zurückkommen können.“ Viele ihrer Kolleg:innen aus regionalen Büros seien an der Front. „Von manchen wissen wir nicht, was mit ihnen passiert ist, weil sie in russisch besetzten Gebieten stationiert waren und wir den Kontakt verloren haben“, sagt Khrapko. Für die Rückkehrer:innen, die teils invalide seien, bemühe sich die Gewerkschaft, Arbeitsplätze anzupassen und inklusive Beschäftigungen zu ermöglichen. Seit Kriegsbeginn liefert sie zudem Hilfsgüter an die Front. Auch der ÖGB unterstützt die ukrainischen Kolleg:innen mit Hilfstransporten und bei Projekten, wie zum Beispiel einer Multiplikator:innenschulung für Landarbeiter:innen zu den Gefahren von Landminen.
#Demokratie steht unter Druck: Nur 24 Länder sind weltweit vollständig demokratisch. 🌍⚖️ In Österreich vertrauen 85 % auf die ordnungsgemäße Durchführung von Wahlen. Echte #Partizipation in Gewerkschaften und Betriebsräten ist entscheidend. ✊👇
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@aundwmagazin.bsky.social) 19. Februar 2025 um 17:00
Khrapko und Voloshko waren selbst mehrmals an der Front, um humanitäre Hilfe zu leisten. Khrapko könne sich noch gut erinnern, wie sie kurz nach Kriegsbeginn in der Region Charkiw dabei half, einen Zugwaggon zu entladen. „Ich hörte die Schüsse von den Maschinengewehren, die Kämpfe waren nur wenige Kilometer entfernt“, sagt sie. „In diesem Moment habe ich begriffen, dass ich mich gerade inmitten eines Krieges befinde.“ Seit drei Jahren erleben die beiden Gewerkschafterinnen nun die Skurrilität eines Alltags, der mit dem Krieg verschmilzt. „Wir haben uns daran gewöhnt“, sagt Khrapko und bessert sich gleich darauf aus: Eigentlich könne man sich daran nicht gewöhnen. Man lebe sein Leben weiter, so gut es eben geht.
Weiterführende Artikel
Europa muss zusammenhalten – jetzt erst recht!