Minderjährige „in der Nähe strahlender Oefen und umgeben von tausenderlei Gefahren 12 Stunden im Tag schuften zu lassen“, sei „eine der schlimmsten Ausgeburten des Kapitalismus“. Trotz der Empörung Winters und zahlreicher Versuche, Kinderarbeit gesetzlich zu beschränken, schufteten Kinder in Österreich bis Mitte des 20. Jahrhunderts unter teils grausamen Bedingungen. In den Ländern des Globalen Südens ist die Situation bis heute verheerend: Weltweit sind laut Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und UNICEF 160 Millionen Kinder betroffen. Damals wie heute sind die Hürden zur Beseitigung der Kinderarbeit dieselben: Armut und Profitstreben.
Der Staat förderte Kinderarbeit in Österreich lange Zeit sogar aktiv. So schrieb der Wirtschaftswissenschafter Ludwig von Mises, zur Schaffung einer „mächtigen Großindustrie“ gelte es dem österreichischen Staat „als anerkannte Wahrheit, daß diese sich nur durch Heranziehung der billigen Arbeitskraft der Frauen, Kinder und Greise entfalten könne“. Joseph II. goss dieses wirtschaftspolitische Dogma in Gesetzesform, indem er 1786 die Kinderarbeit in Fabriken legalisierte.
Gesunde Kinder für die Armee
Erst mit dem „Hofkanzleidekret vom 11. Juni 1842“ wurden erste Versuche unternommen, Kinderarbeit einzuschränken. Mit dem Erlass sollten Kinder unter zwölf Jahren von der Arbeit verschont bleiben. Die staatlichen Bestrebungen folgten jedoch weniger sozialen Motiven als vielmehr dem Interesse an einer schlagkräftigen Armee, relativiert Florian Wenninger, Leiter des Instituts für Historische Sozialforschung. Gesunde Kinder waren die Voraussetzung dafür, später einsatzfähige Soldaten zu haben.
Damals wie heute sind die Hürden
zur Beseitigung der Kinderarbeit dieselben:
Armut und Profitstreben.
Einer besonders krassen Form der Ausbeutung waren die sogenannten Schwabenkinder ausgesetzt: Seit Beginn des 17. Jahrhunderts zogen Kinder verarmter Bäuer:innen aus Vorarlberg und Tirol jährlich im März als Saisonarbeiter:innen ins Schwabenland, überwiegend ins heutige Allgäu. Auf Kindersklavenmärkten, etwa in Ravensburg oder Kempten, wurden 6- bis 14-Jährige an wohlhabende Bauern verkauft, um dort den Sommer über Vieh zu hüten, Kühe zu melken oder Kartoffeln zu schälen. Im Herbst kehrten die Kinder zurück in ihre Heimat, als Lohn erhielten sie zwei Garnituren Kleidung und ein paar Gulden (um 1900 entsprach ein Gulden nach heutiger Kaufkraft ca. 17 Euro).
Zu Hochzeiten wurden auf den Kindersklavenmärkten bis zu 4.000 Kinder gehandelt, ab den 1920ern ebbte das zweifelhafte Geschäft ab, vereinzelt zogen Kinder aber noch bis Mitte der 1950er-Jahre über die Alpen, um sich den Sommer über zu verdingen.
Ein widersprüchlicher Prozess
Im Windschatten der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Arbeiter:innenbewegung wurden auch die Rechte von Kindern gestärkt. „Die Regulation der Kinderarbeit“, so Sozialhistoriker Wenninger, „war jedoch stets ein widersprüchlicher Prozess.“ Dem Bildungsideal der Gewerkschaften entsprechend pochten diese auf eine möglichst umfassende Schulbildung, gleichzeitig waren die Not leidenden Arbeiter:innenfamilien häufig auf zusätzliches Einkommen angewiesen.
Untersuchungen zufolge wurden noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 35 Prozent aller Schulkinder in Österreich als billige Arbeitskräfte eingesetzt, lange Zeit sträubten sich Industrie und Landwirtschaft gegen schärfere Gesetze. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zerstörte dann bereits erreichte Fortschritte zur Gänze. Erst auf Druck der Alliierten und mit einem Gesetz vom 1. Juli 1948 wurde geregelt, dass Kinder vor dem 14. Lebensjahr „zu Arbeiten irgendwelcher Art nicht herangezogen werden dürfen“. Offizielle Ausnahmen bilden bis heute die Film- und Theaterbranche, inoffizielle die Arbeit im familieneigenen Gasthaus oder sogenannte Young Carers, Minderjährige, die Familienangehörige pflegen.
Besonders in Ländern des Globalen Südens sind Mädchen und Jungen nach wie vor von Kinderarbeit betroffen. Während deren Zahl von 2000 bis 2016 sukzessive abnahm, steigt sie seit 2016 wieder an, die Corona-Pandemie hat diesen Trend verschärft.
Aufstieg durch Bildung
Armut und Perspektivlosigkeit seien laut Reinhard Heiserer, Mitgründer der österreichischen Entwicklungsorganisation „Jugend Eine Welt“, der Hauptgrund für Kinderarbeit. Viele Not und Hunger leidende Familien sind auf die Arbeitskraft ihrer Kinder angewiesen. „Nur Bildung und damit bessere Zukunftsperspektiven können langfristig aus der Armut und damit zu einem Ende von Kinderarbeit führen“, so Heiserer. Ein regelmäßiger Schulbesuch ihrer Kinder sei für verarmte Familien jedoch nur dann attraktiv, wenn der Ausfall der Arbeitskraft kompensiert werden könne und den Kindern beispielsweise in der Schule eine warme Mahlzeit und Lernhilfe geboten würden.
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Auf lange Sicht plädiert Heiserer dafür, die strukturellen Ursachen der Kinderarbeit zu bekämpfen. Der Wohlstand des Globalen Nordens beruhe auf Ausbeutung von Umwelt und Menschen des Globalen Südens. Mehr als 200 Güter des täglichen Gebrauchs werden laut einer aktuellen Studie durch Kinderarbeit oder ausbeuterische Arbeit hergestellt, darunter Haselnüsse, Kleidung, Glimmer, Weintrauben, Tabak oder Kaffee. In Anlehnung an den Schweizer Soziologen Jean Ziegler fordert Heiserer: „Wir müssen den Menschen im Globalen Süden nicht mehr geben. Es reicht, wenn wir ihnen weniger stehlen!“
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