Gewinnertext des AK-Essaypreises: In fünf Minuten

Mobile Pflege: Eine gestresste Frau blickt in den Rückspiegel ihres Autos.
"In fünf Minuten", eine Geschichte über die mobile Pflege, gewann den AK-Essaypreis. | silkemuellerillustration
Nur wenige Momente Zeit, um einem einsamen Menschen zuzuhören: Für diesen Essay über die Unerbittlichkeit der heutigen mobilen Pflege hat Andrea Stift-Laube den Essaypreis der Arbeiterkammer Wien gewonnen. Eingereicht werden konnten Beiträge zum Thema Zeitarmut.
Drei Monate hat meine Schwester durchgehalten, bevor sie einknickte. Fünf Minuten haben den Ausschlag gegeben. So euphorisiert war sie am Anfang. „So nett sind alle zu mir, sie freuen sich, dass jemand aus der Stadt kommt, jemand mit Erfahrung. Endlich muss ich nicht mehr pendeln“, sagt sie, und ich freue mich mit meiner Schwester. Zu viele Morgen mit der Angst, dass sie übermüdet aus dem Nachtdienst kommend auf der Autobahn einen Unfall baut oder sich spätabends ein Reh vors Auto stellt – es wäre nicht das erste. Was kann das arme Reh dafür, dass meine Schwester gegen den Fachkräftemangel anarbeitet? Selbst schuld, dass sie unbedingt aufs Land ziehen wollte, wieso wohnt sie nicht gleich neben dem Krankenhaus, wieso wohnt sie nicht gleich am besten im Krankenhaus? Da gibt es keine Frage, aber eine Antwort: Früher gab es kleine Wohneinheiten im Krankenhaus, da konnten sich diejenigen, die zwei oder drei Nachtdienste hintereinander hatten, ein wenig zurückziehen. Sie wurden eingespart von der großen Krankenanstalt, in der meine Schwester gearbeitet hat. Jahrelang hat sie das durchgehalten.

„Das ist doch so eine gute Stelle“

Wir hanteln uns von den Jahren zu den Monaten zu den Minuten. Was eintritt: kaputte Hüfte, kaputter Rücken, kaputter Biorhythmus. Die Nachtdienste bringen dich um. Sie machen das ganz langsam – bis du nicht mehr schlafen kannst, wenn du sollst, bis du ein Bier brauchst, wenn du in der Früh heimkommst, bis du anfängst, Einschlaftabletten zu nehmen, Durchschlaftabletten, Aufwach- und Munterbleibtabletten. Nach viel zu langen Jahren („Das ist doch so eine gute Stelle, eine bessere findest du nicht, jetzt sei doch nicht so dumm!“) ist meine Schwester zu dem Entschluss gekommen, etwas ändern zu müssen. Ich kann sonst nichts, ich bin schon über 55, ich muss in dem Beruf bleiben, was soll ich tun? Wo kann ich etwas ändern, wo ist die eine Stellschraube, an der ich drehen kann? Den Ort wechseln? Weg von der großen Krankenanstalt, in der sie diesen, ihren Pflegeberuf ausübt. Statt der Pendlerei in die Stadt vor Ort lieber in der eigenen Nachbarschaft pflegen. Die Ersparnis von eineinhalb Stunden Autofahrt täglich umtauschen in Lebensfreude.

Das beste Angebot (und gute Angebote gibt es immer in der Pflege, sie locken dich mit Prämien und schönen Versprechungen) kam von einer Einrichtung, die sich auf mobile Pflege spezialisiert hat. Sie wissen schon: möglichst lange zu Hause bleiben, alt werden dort, wo man sein Lebtag lang gelebt hat, im Kreise der Familie. Auf dem Land tun sich die Familien noch immer schwer, die alten Menschen in ein Heim zu geben. Sie beziehen vielleicht Pflegegeld und wollen ganz sicher nicht, dass andere sie schief anschauen. „Zuerst haben sie dir das Leben geschenkt und sich um dich gekümmert, und jetzt, wo die Mama alt ist, gibst du sie einfach in ein Heim?“ Das sagt dir zwar niemand so auf dem Land, aber die Nachbar:innen denken es sich und sprechen es laut aus zu anderen Nachbar:innen, und schon ist die schlechte Nachred’ da und geht nicht mehr weg. Die Oma und der Opa, die Mama und der Papa, sie bleiben also schön zu Hause und werden da gepflegt – da hat man auch das Testament ganz gut im Blick.

„Wir sind eine große Familie“

Damit das alles seine schöne Richtigkeit hat, kommt täglich ein-, zweimal der Pflegedienst vorbei und hilft zum Beispiel beim Heben, Waschen, Wenden eines manchmal dünnen, öfters sehr beleibten Körpers. So also hat meine Schwester in der Stadt gekündigt und sich sehr gefreut über die gute Atmosphäre, die guten Vibes. „Mit uns kann man über alles reden. Wir sind eine große Familie. Und wenn du Weihnachten einmal mit deiner eigenen verbringen willst, dann können wir sogar darüber sprechen, obwohl du selber keine Kinder hast.“ So gute Vibes. „Und hier das Smartphone, dein neues Diensthandy – gleichzeitig der Computer, der alles trackt. Der gibt dir deine Route, deinen Rhythmus vor und sagt dir, wo du wie viel Zeit verbringen darfst. Der leuchtet rot und schreit gleich ‚Fehler!‘, wenn du einmal wo länger sitzen bleibst, weil der betagte Mensch vor dir so einsam ist.“ Und meine Schwester dachte: Kann ich, mach ich, schaff ich.

Wenn aber nun zum Beispiel eine Schwiegertochter ihr erzählt, dass sie ihre Schwiegermutter hasst, weil die ein ganzes Leben böse zu ihr war (und das in ihrem dementen Kopf und Körper nicht mehr weiß), dann muss meine Schwester das für sich behalten und kann nur hoffen, dass der Körper da am Bett auch gut behandelt wird, wenn sie nicht mehr da ist. Wenn aber nun ein anderer alter Mensch sehr schwer ist und nur mittels einer bestimmten Vorrichtung aus dem Bett gehoben werden kann, dann weiß meine Schwester zwar, dass das Zeit braucht, doch das blöde Smartphone nicht. Das leuchtet rot – so, dass meine Schwester ungeachtet der nicht mehr vorhandenen Knorpel zwischen ihren Rückenwirbeln die alte Frau dann ohne Hilfe aus dem Bett manövrieren muss, weil sich das Smartphone sonst einfach nicht auskennt.

„Das musst du besser hinkriegen“

Bald geht sie so schief wie die alten Menschen, die von ihr betreut werden. Das Smartphone schweigt dazu. Es sagt ihr nicht: Gib acht auf dich. Und meine Schwester fährt. Muss schneller fahren als gestern und morgen erst recht Gas geben. Kein Nachtdienst mehr, denkt sie, kein Pendeln in die Stadt. Weil aber hier die Hügel weit und die Hofzufahrten oft verwirrend sind und sie sich viel verfährt, weil auch das Navi ratlos ist zwischen Schweins- und Ziegenberg und Galgenwald. In Ausziehhäusern leben viele fast vergessene alte Menschen. Weil aber der betagte Mann schon traurig ist, wenn sie kommt, um ihm ein Essen hinzustellen. Weil er schon weiß, dass sie nicht bleiben kann, während er isst.

Deshalb sind die guten Vibes vom Anfang und die Freundlichkeit im Hauptquartier bald dahin. „Das musst du besser hinkriegen, das muss schneller gehen, effektiver, effizienter, die anderen können es ja auch. Man glaubt ja gar nicht, dass du von der großen Krankenanstalt kommst, sag, haben sie dir da nicht Taktung beigebracht?“ Das Smartphone schweigt dazu, aber nach jedem Arbeitsschritt muss gewischt, geklickt und abgehakt werden. Stundenpläne, Tagesabläufe, Arbeit und Struktur. Pufferzone fünf Minuten. Fünf Minuten entscheiden über die Einsamkeit eines Menschen. Nach fünf Minuten meldet das System der Zentrale einen Fehler. Dann passiert etwas, die Dienstleitung bekommt Bescheid, der Plan spielt verrückt, die Abrechnung stimmt nicht mehr.

„Da kann man nichts mehr machen“

Es gibt kein Rückgängigmachen von Zeitfehlern, die Zeit verzeiht das nicht. Die alten Menschen wollen getaktet und strukturiert sein, sagt das Smartphone. Qualitätsstandards. Dokumentation, betont das Smartphone, aber es geht sich schon wieder hinten und vorne nicht aus, der Rücken meiner Schwester quietscht und kracht. „Da kann man nichts mehr machen“, sagt der Orthopäde. „Da kann man halt nichts machen“, sagt die Pflegedienstleitung. Psychosoziale Zustände in fünf Minuten. Fünf Minuten, und das Smartphone passt gut auf. Wenn du dich nicht abgrenzen kannst, dann bist du falsch in diesem Job. Und meine Schwester schweigt und schreit nicht und denkt: Ich bin schon über 55, und ich kann sonst nichts. Drei Monate hat sie das durchgehalten, die Prämie zurückgezahlt. Jetzt ist sie wieder müde, pendelt in die Stadt, ich mach mir wieder Sorgen. Die Rehe fallen links und rechts. In fünf Minuten.

& Info

Die restlichen Texte der Preisträger:innen des AK Essaypreis finden Sie HIER.

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