Doch auch in einer Bildungslandschaft, die vielerorts mit zu wenig Ressourcen kämpft und in alten Strukturen verharrt, gibt es Menschen und Projekte, die andere Wege gehen. Arbeit&Wirtschaft hat sich auf die Suche nach ihnen begeben: Wo ist sie, die gute Schule? Wo arbeiten Menschen an den Lehr- und Lernmodellen von morgen? Drei Beispiele zeigen auf, dass Bildung trotz widriger Umstände auch in Österreich fortschrittlich und mit Weitblick gestaltet werden kann.
Mehr Ressourcen für Bildungssystem gefordert
Erdost vergleicht den Zustand des österreichischen Bildungssystems mit einem Oldtimer, der nicht einmal mehr einen Liebhaberwert hat und dringend eine Generalüberholung benötigt. Besonders in Sachen Chancengleichheit sieht sie erhebliche Defizite. Denn noch immer hänge der Bildungserfolg von Kindern in Österreich stark von ihrem Elternhaus – und dessen finanziellen Mitteln – ab, und das sollte sich dringend ändern. Laut AK-Nachhilfebarometer genügen für jedes zweite Schulkind der Unterricht und das Lernen zu Hause nicht, um die Lernziele zu erreichen, viele sind auf private Nachhilfe angewiesen. 168 Millionen Euro gaben Familien im vergangenen Schuljahr dafür aus – ein Anstieg um 46 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr.
Auch nach der Schulzeit bleibt (Weiter-)Bildung in Österreich oft eine Frage des Geldes. „Der größte Anbieter und Organisator für Weiterbildungen ist derzeit das Arbeitsmarktservice“, sagt Alexander Prischl, Leiter des ÖGB-Referats für Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik. „Es ist bedenklich, dass man hierzulande erst arbeitslos werden muss, um öffentlich unterstützte Weiter- oder Höherqualifizierung in Anspruch nehmen zu können.“ Der ÖGB fordert daher, dass im gesetzlichen Auftrag des AMS die Höher- und Weiterqualifizierung mit der Vermittlung auf offene Jobs gleichgestellt wird. Doch Prischl betont: Bildung müsse mehr sein als nur „arbeitsmarktrelevant“. Entscheidend sei auch Persönlichkeitsbildung, etwa in Form von politischer Bildung, um die Menschen zu befähigen, ihr Leben selbstbestimmt zu meistern.
Eigenständig im Alter
Ein Beispiel für ein innovatives Bildungsprojekt ist das von Karin Niederhofer. Sie erleichtert seit fast zwanzig Jahren älteren Menschen den Einstieg in die digitale Welt. Ihr „Seniorencolleg“ in der Praterstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk ist ein Ort, an dem selbst komplexe Themen des digitalen Alltags plötzlich verständlich werden: vom Online-Banking bis zum Versenden eines Standorts auf WhatsApp. Wie mache ich ein Backup? Was weiß Google über mich? Wie lade ich meine Wiener-Linien-Jahreskarte in die App? Fragen, die Niederhofer praxisnah und mit einer Prise Humor erklärt. Manche ihrer Teilnehmer:innen seien schon über 90 und immer noch hoch motiviert.
Die acht Teilnehmer:innen, die an einem Dienstagmittag Mitte November zusammengekommen sind, haben ihre Laptops schon vor Kursbeginn aufgeklappt. Warum sie hier sind? „Ich will meiner Tochter nicht mit Fragen zum Handy auf die Nerven gehen“, sagt eine Teilnehmerin. „Ich möchte selbstständig mit Handy und Computer umgehen können“, meint eine andere. Niederhofers Kursangebot, das zunächst als kleines Hobbyprojekt begann, ist längst zu einer gefragten Anlaufstelle für Senior:innen geworden. „Der Bedarf übersteigt leider immer noch das Angebot“, sagt Niederhofer. Die ältere Bevölkerung hinke auch durch fehlende Bildungsangebote in der Digitalisierung hinterher.
Bildungssystem hat auch bei älteren Menschen Reformbedarf
Ein Umstand, den auch Vera Gallistl-Kassing kritisch betrachtet. Sie arbeitet im Kompetenzzentrum für Gerontologie und Gesundheitsforschung an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften Krems. Die Soziologin und Expertin für Geragogik – die Wissenschaft vom Lernen im Alter – bemängelt, dass Österreichs Bildungsinfrastruktur für ältere Menschen noch viele Lücken aufweise. „Unser Bildungssystem setzt seinen Schwerpunkt vor allem auf Kinder und Jugendliche“, bemerkt sie. Dabei verändere sich die Arbeitswelt ständig. Häufige Jobwechsel und neue Anforderungen, insbesondere durch Digitalisierung und KI, prägen heute die Berufslaufbahnen. Und Lernen sei keineswegs nur im Jugendalter bedeutsam. In der nachberuflichen Phase ermögliche Bildung älteren Menschen, gesellschaftlich aktiv und selbstbestimmt zu bleiben. Trotzdem zeigen Studien, dass die Teilnahme an Bildungsangeboten mit dem Alter sinkt, obwohl das Interesse am Lernen konstant hoch bleibt.
Beim Lernen in der nachberuflichen Phase sei die Praxisfähigkeit im Bildungssystem essenziell. „Die Inhalte müssen alltagsnah sein und sollten nicht im Frontalunterricht vermittelt werden“, so Gallistl-Kassing. Es solle vielmehr die bereits bestehende Lebenserfahrung der Menschen miteinbezogen werden, denn durch das Alter der Teilnehmenden gebe es in Kursen oft einen sogenannten doppelten Expert:innenstatus.
Umgekehrtes Mentoring
Erfahrungsaustausch steht auch beim sogenannten Reverse Mentoring im Mittelpunkt. Hier kehren sich die Rollen um. Jüngere Mitarbeiter:innen coachen ihre älteren Kolleg:innen in bestimmten Bereichen. Bei der UniCredit Bank Austria wurde ein solches Programm 2021 implementiert. „Wir möchten Mitarbeiter:innen generationenübergreifend und aus verschiedenen Bereichen der Bank vernetzen und den Austausch fördern“, erklärt Svetlana Pančenko, Vorständin der UniCredit Bank Austria für People & Culture.
Besonders bereichernd sei der frische Blick der jüngeren Kolleg:innen auf die Arbeitswelt. Es gehe oft um Themen wie Work-Life-Balance, Remote-Arbeit, Digitalisierung und Nachhaltigkeit. „Diese Perspektiven sind für erfahrene Führungskräfte eine wertvolle Bereicherung, um die Erwartungen und Bedürfnisse der jüngeren Generation besser zu verstehen und die eigene Führungsweise anzupassen“, betont Pančenko. So wird das Bildungssystem praxisnah erweitert.
Das Mentoring laufe ein halbes Jahr lang, empfohlen wird mindestens ein Treffen pro Monat. Dass viele Teams den Kontakt auch nach dem offiziellen Programmzeitraum fortführen, zeige, wie erfolgreich der Ansatz sei. Vergangenes Jahr nahmen 13 Mentoring-Paare mit 14 Frauen und 12 Männern am Programm teil. Die Initiative bringe Menschen aus unterschiedlichen Abteilungen und Generationen zusammen, die sich in einem großen Unternehmen sonst vielleicht nicht begegnen würden. Dieser Austausch bereichere nicht nur die Teilnehmer:innen persönlich und beruflich, sondern bringe durch den Wissenstransfer einen inspirierenden Arbeitsalltag sowie frische Impulse ins Unternehmen.
Innovation macht Schule
Ein anderes Beispiel für einen modernen Bildungszugang ist die Business Academy Donaustadt, die beim Staatspreis für innovative Schulen vergangenes Jahr den zweiten Platz belegte. An dieser Handelsakademie und Handelsschule ist Peter Rak seit 32 Jahren tätig, seit einem Jahr leitet er die Schule als Direktor. Hier wird erfahrungsbasiertes Lernen etwa im Ausbildungszweig „HAK experience“ gelebt. Fester Bestandteil ist dabei der „experience day“ einmal pro Woche. An diesem Tag gibt es keinen fixen Stundenplan. Es finden stattdessen Firmenbesuche statt, Projekte werden in- und außerhalb der Schule durchgeführt. Ein Vorbild für andere Institutionen im Bildungssystem.
Vieles, was die Schule in der Donaustadt heute ausmache, sei auf Initiative des langjährigen Direktors Christian Posad entstanden. In den Jahren 2010 bis 2012 kam es zu einem Zu- und Umbau des Schulgebäudes. Diese Gelegenheit wurde genutzt, um sich auch Gedanken über neue Unterrichtskonzepte zu machen – und das in einem partizipativen Prozess in Zusammenarbeit mit den Schüler:innen, Lehrer:innen sowie Eltern. „Wir fragten uns: Wie soll die Schule in fünf, zehn oder 15 Jahren aussehen?“, erzählt Rak.
Praktisches Lernen im Bildungssystem
Zu den Ergebnissen zählten unter anderem mehr praktisches Lernen sowie ein späterer Unterrichtsstart um 8:30 Uhr. „Damit werden wir den Forschungsergebnissen gerecht, die besagen, dass sich ein späterer Unterrichtsbeginn positiv auf die Leistungen der Schüler:innen auswirken“, erklärt Rak. Der Unterricht wird – sofern aufgrund der Stundenanzahl möglich – in Doppelstunden abgehalten, sodass es für die Schüler:innen pro Tag weniger verschiedene Unterrichtsfächer und mehr fokussierte Zeit etwa für Projektarbeiten, Diskussionen oder selbstständiges Arbeiten gibt. „Zuvor gab es Unterrichtseinheiten à 50 Minuten. Das hat alle gestresst: Schüler:innen mussten sich schnell an verschiedene Unterrichtsstile anpassen, Lehrer:innen waren gestresst, da sie in der kurzen Zeit in die Tiefe der Inhalte gehen mussten“, sagt der Direktor. Nach den Doppelstunden gebe es eine 20-minütige Pause, die – im Gegensatz zur sonst üblichen Fünf-Minuten-Pause – auch wirklich zum Abschalten genutzt werden könne. Der neue Modus wurde damals nach einem Jahr evaluiert: „Niemand wollte mehr zum alten System zurück“, sagt Rak.
Ignorierte Sorgen, fehlende Perspektiven: Immer mehr junge Menschen wenden sich von der Politik ab. Kein Wunder, meint die Journalistin Anna Jandrisevits in ihrem Kommentar: https://www.arbeit-wirtschaft.at/ist-die-jugend-politikverdrossen/
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@aundwmagazin.bsky.social) 16. Januar 2025 um 17:01
Auch er sieht im Bildungssystem dringenden Handlungsbedarf und wünscht sich mehr finanzielle und personelle Ressourcen an den Schulen. Besonders nach der COVID-Pandemie sei der „Rucksack“ mancher Schüler:innen – etwa Depressionen oder Lernschwierigkeiten – noch größer geworden. Das Unterstützungspersonal an seiner Schule sei nun noch geringer als vor COVID. Und auch laut OECD gibt es in Österreich im internationalen Vergleich mit 48 Ländern, darunter 23 EU-Länder, sehr wenig Unterstützungspersonal wie Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen oder administratives Personal in der Schule. Unter der zunehmenden Mehrfachbelastung, der Lehrkräfte ausgesetzt sind, leidet auch die Qualität des Unterrichts.
Doch Rak bleibt optimistisch. „Im Rahmen der Schulautonomie haben wir bereits die Möglichkeit, einige Dinge zu verändern. Um langfristig einen Wandel zu schaffen, braucht es aber vor allem eine positive Vision und eine gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten – von der Schule bis zur Politik.“ Veränderung sei nur möglich, wenn alle an einem Strang ziehen, schließt der Direktor.
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