Gleichzeitig hat Puskaric Therapien, der Rollstuhl muss regelmäßig zum Service oder Anträge für die Finanzierung ihrer Hilfsmittel stehen an. Hätte sie nicht die WAG Assistenzgenossenschaft im Hintergrund, die sie bei der Alltagsorganisation und zeitaufwändigen Tätigkeiten unterstützt, müsste sie neben ihrer Arbeit als geschäftsführende Vorständin noch einen zweiten Vollzeitjob stemmen. Und damit ist sie nicht allein.
Kein Zeitwohlstand
Die Sozialwissenschaftlerin und Antidiskriminierungstrainerin Eva Fleischer spricht von Zeitwohlstand, wenn wir über unsere Zeit souverän verfügen, sie nach unseren Bedürfnissen einteilen und mit anderen Verpflichtungen vereinbaren können. Dazu gehört auch, dass wir Dinge in unserem eigenen Tempo machen können und genügend Freizeit haben. Wenn Puskaric ihre Tage und Wochen plant, muss sie sie mit der Arbeitszeit ihrer PA abstimmen. Da sie nicht genügend Assistenzstunden finanziert bekommt, ist sie zudem auf die Ressourcen ihres Partners und ihrer Familie angewiesen. „Ich muss genau überlegen, wie ich die Stunden einsetze. Wäre mein gesamter Bedarf bewilligt, müsste ich keine zeitintensive Kompensationsarbeit leisten.“ Momente für sich selbst, Freund:innen und ihrem Partner kommen dann oft zu kurz.
Mental Load durch Barrieren
Auch die Wienerin Maria* kennt das. Wegen ihrer Sehbehinderung muss sie regelmäßig zum Augenarzt, der aber in Niederösterreich ist. Mit Kind und Öffis ist der Weg dorthin eine logistische Herausforderung, fehlende Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr kommt erschwerend hinzu. Ein Arztwechsel ist für sie keine Option. Wer selbst behindert oder chronisch krank ist, weiß: Die Suche nach guter ärztlicher Betreuung ist alles andere als einfach. Zudem erfordert das Aufsuchen neuer Orte mit einer Sehbehinderung ein erhöhtes Maß an Konzentration. „Wenn ich dann irgendwo zu spät komme, weil ich den Ort nicht finde, ist das besonders als Mutter ein Minuspunkt“, sagt Maria.
Wie schnell das zu Problemen führt, merkte Maria bereits 32 Stunden nach der Geburt ihres ersten Kindes: Als sie weinte, weil sie Schmerzen hatte und länger brauchte, um aufzustehen und zur Toilette zu gehen, benachrichtigten Pfleger:innen das Jugendamt. „Sie dachten, ich bin überfordert und haben mich in eine Schublade gesteckt. Dass ich neben meiner Behinderung auch noch alleinerziehend bin, hat die Situation nicht verbessert“, erinnert sich Maria. Eine Woche später wurde sie zum Jugendamt bestellt. Mitten im Wochenbett, mit einem Neugeborenen ohne Tag-Nacht-Rhythmus, geduscht und pünktlich um 10:00 Uhr zu einem Behördentermin aufzutauchen, fühlte sich für Maria wie eine gewaltige Herausforderung an.
Das Tempo angeben dürfen
Oft wird Menschen mit Behinderungen nicht genug Zeit für bestimmte Abläufe zugestanden, insbesondere am Arbeitsplatz. „Darf ich für Tasks länger brauchen? Geht sich die Toilettennutzung aus? Kann ich meine Arbeitszeit flexibel gestalten? Darf ich Stunden reduzieren? Das sind Fragen, die Menschen mit Behinderungen besonders beschäftigen“, sagt Expertin Fleischer. Viele Frauen mit Behinderungen arbeiten darum in Teilzeit, denn genau wie Frauen ohne Behinderungen kommen sie meist für den Hauptteil der Care-Arbeit auf. Für Maria war das ein Nachteil bei der Suche nach einem Kindergartenplatz, Eltern in Vollzeit werden bevorzugt. Aspekte wie die Behinderung eines Elternteils spielen keine Rolle. „Ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung und die 30-Stunden-Woche wäre für mich erleichternd“, sagt sie.
Wenn ich dann irgendwo zu spät komme,
weil ich den Ort nicht finde,
ist das besonders als Mutter ein Minuspunkt.
Maria*
Viel Zeit, wenig nutzbar
Auch Irina* wäre auf kürzere und flexiblere Arbeitszeiten angewiesen. Aufgrund mehrerer Autoimmunerkrankungen braucht sie viele Pausen und muss ihre Kapazitäten von Tag zu Tag neu abschätzen. „Von einer Woche Urlaub fallen vier Tage für Regeneration aus“, rechnet Irina vor. Auch bei ihr geht viel Zeit für Behördengänge, Medikamente holen, Anträge stellen und Mobilitätsplanung mit ihrem Rollstuhl drauf. Für Irina kommt eigentlich alles zu kurz, seitdem sie chronisch krank ist: „Hätte ich eine Stunde mehr am Tag, würde ich mehr Leben leben.“
Schlechte Bezahlung, unfaire Arbeitsbedingungen, drohende Altersarmut: Wie die Politik für mehr Gleichberechtigung sorgen muss, besprechen wir u.a. mit @schumannkorinna.bsky.social.
#Frauentag #Weltfrauentag #NachgehörtVorgedacht
Irina erzählt auch, dass ihr aktuell Menschen in ihrem Umfeld Zeit schenken, etwa wenn ihr Partner mehr im Haushalt übernimmt oder ihre Eltern sie wohin fahren. Auf diese Hilfe ist sie angewiesen, weil ihre Erkrankung von vielen Mediziner:innen nicht ernstgenommen wird und sie für staatliche Unterstützungsleistungen und Therapien kämpfen muss. Menschen wie Irina würde helfen, wenn es mehr Forschung und damit Wissen um ihre Erkrankung geben würde.
Zeitarmut ist kein individuelles Problem
Um Zeitarmut nachhaltig zu bekämpfen, braucht es laut Expertin Fleischer von der öffentlichen Hand finanzierte Maßnahmen und mehr Bewusstsein für die Diversität der Betroffenen, die auch in Erhebungen wie der Zeitverwendungsstudie (erhebt wie Menschen ihre Zeit im Alltag verteilen) oder der Armutsstudie (EU-SILC, erhebt Daten zu Einkommen und Lebensbedingungen) berücksichtigt werden sollte. Es gelte zudem, Frauen mit Behinderungen zu stärken: „Strukturelle Benachteiligung hat auch Folgen auf der emotionalen Ebene. Es gibt so etwas wie internalisierte Unterdrückung, das heißt, wenn die Betroffenen den Status quo akzeptieren und ihre Bedürfnisse zurückstecken.“
Wenn Frauen mit Behinderungen für Unterstützungsleistungen nicht mehr kämpfen müssen, bleibt mehr Zeit für anderes. Und wenn es Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen gäbe, bräuchten sie auch keine organisatorischen Masterpläne zu schmieden, um ihren Alltag bezwingen zu können. Alle diese Aspekte müssen angegangen werden, um Zeitarmut nachhaltig zu verringern. Damit Frauen mit Behinderungen mehr Zeit für andere Dinge haben.
*möchte nur mit Vornamen genannt werden
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