Und Geschichten hat Reiterer viele zu erzählen. Ihre Kindheit in Benin-City beginnt zwar glücklich, doch als die Geschäfte ihres Vaters schlecht laufen, verändert sich alles. Als sie ungefähr 15 Jahre alt ist, bezichtigt er sie und ihre Schwester der Hexerei und schickt sie zu Magier:innen, die Juju, eine religiöse Praxis in Westafrika, ausüben. Diese sogenannten Hexenverfolgungen gibt es in Teilen Nigerias bis heute. Kinder und ältere Frauen werden dabei für Krankheiten oder wirtschaftliche Probleme verantwortlich gemacht und Opfer von ritueller Gewalt.
Joana Adesuwa Reiterer: Mein Leben gehört mir
Doch Reiterer wehrt sich. Als sie ihren Vater anschreit, nachdem er sie eine Woche lang eingesperrt hat, weiß sie: Es gibt kein Zurück mehr. Während er eine Waffe auf sie richtet, klettert sie über das Tor ihres bisherigen Zuhauses. „Ich verließ meine Kindheit. Gewaltsam“, wird sie später in ihrer Autobiografie „Die Wassergöttin“ über diesen Moment schreiben.
Wer Veränderung will, muss sich selbst dafür einsetzen.
Joana Adesuwa Reiterer
Ihre nächsten Jahre verbringt sie bei ihrer Oma, und wenn sie von ihr erzählt, lächelt sie: „Von ihr habe ich gelernt, dass mein Leben mir gehört und ich mich nach keiner Norm richten soll“. Diesen Grundsatz lebt sie auch, als sie sich in ihren ersten Mann verliebt. Reiterer hat inzwischen Polymertechnologie studiert und eine Modeboutique eröffnet. Über Freunde lernt sie Tony kennen, ein Nigerianer, der ein Reisebüro in Wien führt. Weil seine Geschäfte dort gut laufen, beschließt sie, mit ihm nach Wien zu ziehen. Doch dann der Bruch. Er ist gewalttätig, und in Österreich stellt sich heraus, dass er in den internationalen Frauenhandel involviert ist und nigerianische Frauen in die Zwangsprostitution drängt. Erneut widersetzt sie sich. Reiterer sucht Zuflucht im Frauenhaus, beginnt eine Therapie und zeigt ihren Mann an.
Aktiv gegen Frauenhandel
Eigentlich könnte Reiterer jetzt aufatmen und das Erlebte hinter sich lassen – doch das ist nicht ihr Stil. „Wer Veränderung will, muss sich selbst dafür einsetzen“, lautet der Grundsatz, der sich wie ein roter Faden durch ihre Biografie zieht. „‘Wenn du zu bequem wirst, stirbst du‘, hat meine Oma immer gesagt“, erinnert sie sich.
2006 gründet sie deshalb den Verein EXIT. Hier berät sie nigerianische Opfer von Frauenhandel in Österreich und Nigeria. Sie produziert Filme, die über Frauenhandel aufklären, und unterstützt die Recherchen über Frauenhandel der Journalistinnen Corinna Milborn und Mary Kreutzer für das Buch „Ware Frau“. Außerdem unterstützt sie engagiert eine Betroffene in einem Asylprozess. Die Frau bekommt vor Gericht Recht, das Urteil schafft einen Präzedenzfall. Über Jahre nutzt sie nahezu jede Gelegenheit, um über Menschenhandel zu reden. Die Obama-Administration ernennt Reiterer 2009 zur „Alumna of Young Political Leaders“.
Jobs statt trösten
Doch irgendwann hat sie keine Lust mehr, sich auf meist weiß besetzten Panels an Diskussionsabenden den Mund fusselig zu reden. „Ich wollte nicht mehr die Schwarze Person sein, die allen sagen muss, was schlecht läuft“, sagt Reiterer. Nicht mehr reden, sondern die Zeit lieber nutzen, um zu machen. „Man kann die Frauen nicht immer nur trösten“, erklärt sie.
Ökonomische Abhängigkeit kann zu Gewalt führen – wer etwa in Nigeria keinen Job findet, kann in Zwangsprostitution gedrängt werden. 2014 gründet sie deshalb ein soziales Unternehmen: Joadre. Sie bildet anfangs über 300 Näherinnen – und später auch Näher aus – und vertreibt ihre Mode am europäischen Markt. Zudem unterstützt sie Frauen auf dem Weg zur Selbstständigkeit und hilft ihnen, als Kleinunternehmerinnen Fuß zu fassen. Über eine Webplattform organisieren sie sich als Kooperative. Damit setzt sie auf einen lokalen Ansatz zur Arbeitsbeschaffung, den schon ihre Oma verfolgt hat: Kleinstunternehmen organisieren sich gemeinschaftlich, fernab von industrieller Fließbandarbeit und neoliberalem Wettbewerb. Doch ihre Vision geht über die Modewelt hinaus.
Komplexitäten aushalten
Reiterer nutzt den Film als Mittel, um komplexe Realitäten sichtbar zu machen. Im vergangenen Jahr drehte sie beispielsweise die Dokumentation Voices Uprising, in der sie die nigerianische Protestbewegung gegen Polizeigewalt festhält. In einer Szene spricht sie direkt in die Kamera: „Ich gehöre zur Diaspora, zu denen, die nach Hause wollen, um meinen Anteil beizutragen.“ Reiterers Ansage klingt wie ein Neuanfang. Der Tod ihrer Mutter im Juni habe sie noch entschlossener gemacht, jede Minute für Veränderungen zu nutzen: „Ich habe nicht all die Privilegien, um es mir gemütlich zu machen.“ Als Schwarze Frau, sozialisiert zwischen Afrika und Europa, bringt sie die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge greifbarer zu machen – eine Fähigkeit, die sie nun ganz ins Filmemachen investieren will. Ihr neues Projekt führt sie wieder nach Nigeria, wo sie ein Filmstudio und Studierende ausbilden will. Das Drehbuch, an dem sie derzeit arbeitet, wird die erste Produktion des neuen Filmstudios.
Die Einkommensschere zwischen Frauen und Männern lässt sich nur zu einem Drittel statistisch erklären, der Rest ist wohl auf #Lohndiskriminierung zurückzuführen, berichtet der @KURIERat über die Forderung der #AK nach #LohntransparenzNEU https://t.co/PuRl3udP9X
— AK Österreich (@Arbeiterkammer) October 24, 2024
„Viele Jahre lang war ich sauer und habe gekämpft, bis ich mein eigentliches Ziel vergessen habe“, reflektiert sie. Ihr neues Ziel scheint klarer denn je: „Soziale Probleme müssen adressiert werden, aber ich mache das jetzt auf meine Weise“.
& Info
Die Initiative „Wir sind auch Wien“ setzt sich seit 2018 dafür ein, dass BIPoC* bzw. Personen, die von rassistischer Diskriminierung betroffen sind, in Wien Zugang zu rassismuskritischer psychosozialer Unterstützung und Empowerment erhalten. Aktuell arbeiten sie daran, ein rassismuskritisches Zentrum in Wien zu eröffnen, in dem die psychosoziale Gesundheit von BIPoC im Zentrum steht. Das Projekt kann HIER unterstützt werden.
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