Die neue EU-Kommission: Adieu Soziales Europa

Portrait Ursula von der Leyen, Chefin der neuen EU-Kommission.
In der neuen EU-Kommission von Ursula von der Leyen ist ein Rechtsruck wahrzunehmen. | © Frederick Florin/AFP/picturedesk.com
In der neuen EU-Kommission festigt Präsidentin Ursula von der Leyen ihre Macht und setzt auf Wettbewerbsfähigkeit, Industrie und Verteidigung. Klimapolitik verliert an Bedeutung. Ein Kommentar.

Die neue EU-Kommission steht – vorerst. Das Team von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen muss aber noch vom EU-Parlament bestätigt werden. Ob alle nominierten Kommissar:innen das strenge Hearing in den nächsten Wochen überstehen, ist nicht ausgemacht. Bei manchen wird deren Qualifikation oder Integrität angezweifelt. Schon bevor die 27-köpfige Kommission zu arbeiten beginnt – Anfang Dezember oder erst zu Beginn 2025 – ist eines klar: Die deutsche Politikerin von der Leyen (CDU) hat sich als Machtpolitikerin ersten Ranges profiliert. 

Neue EU-Kommission mit ultrarechtem Vize 

Offensichtlich ist auch, dass die neue EU-Kommission konservativer und wohl auch neoliberaler ist als alle vorherigen – ein Ausdruck für den Rechtsruck in Europa und der Europäischen Union. 14 Kommissare und Kommissarinnen gehören der größten Fraktion im EU-Parlament an, der Europäischen Volkspartei (EVP). Mit elf Frauen und 16 Männern verpasst das Team die Geschlechterparität. 

Für besonderen Unmut sorgt Raffaele Fitto, immerhin von der Leyens Vize. Der Italiener soll das Ressort für Regionalförderung und Reformen übernehmen und ist Mitglied der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia. Im Europa-Parlament ist die Partei Teil der rechtskonservativen nationalen EKR-Fraktion (Europäische Konservative und Reformer), die sich bei Abstimmungen häufig der EVP anschließt.   

Dazu kommt, dass die Kommissionspräsidentin mit Wettbewerbsfähigkeit, Industrie, Verteidigung sowie Sicherheit neue Schwerpunkte setzen will. Klimaschutz und die Prioritäten des Green Deal sind nicht mehr die oberste Priorität. Ob sich die EU-Kommission das leisten kann, werden die nächsten Umweltkatastrophen zeigen – und das ist nicht zynisch gemeint. 

Es fehlt an strategischem Denken 

Für große Irritation sorgt die Abschaffung des Portfolios „Beschäftigung und Soziales“. Auch wenn die rechtlichen und finanziellen Möglichkeiten dafür im EU-Gesetzeswerk beschränkt sind, hat der noch amtierende Kommissar Nicolas Schmit beachtliche Fortschritte beim Schutz der Arbeitnehmer:innenrechte erzielt. Dazu gehören etwa Regeln gegen Lohn- und Sozialdumping, einheitliche Standards für Mindestlöhne (insbesondere für ost- und südosteuropäische Beschäftigte) sowie Aus- und Fortbildung für Arbeitslose. 

Vergessen oder bewusst ignoriert hat Ursula von der Leyen den besonderen Stellenwert des sozialen Dialogs, der sich vor allem bei der Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren nach 2008 bewährt hat. Dabei kann sich ein Nichteinbeziehen der Sozialpartner als echter Bumerang erweisen. Gerade, wenn die Industriepolitik neu ausgerichtet werden soll und der ökologische und digitale Umbau der Wirtschaft bevorsteht, ist es riskant, die Interessen der Beschäftigten zu vernachlässigen. Das zeigt, dass es von der Leyen an strategischem Denken und sozialer Anerkennung mangelt. 

EU-Kommission vor großen Fragen 

Für die künftige EU-Kommission sind das keine guten Voraussetzungen. Dabei sind die Herausforderungen für Europa riesig: Um mit den USA und China mithalten zu können, lautet das neue Schlagwort Wettbewerbsfähigkeit. Ob der Weg dahin über Deregulierung im Binnenmarkt oder über Innovation in der Industriepolitik führt, darüber haben die Kontroversen erst begonnen. Eines ist aber klar: Ohne die Gewerkschaften und Interessenvertretungen von Arbeitnehmer:innen wird es Europa nicht schaffen.  


Ein kleiner Lichtblick ist zumindest die Ernennung eines Kommissars für Wohnen. Der dänische Sozialdemokrat und Klimaexperte Dan Jørgensen ist dafür zuständig, sein Hauptdossier ist allerdings die Energie. Ob er Mittel und Programme für sozialen Wohnbau durchsetzen kann, wird man sehen. Immerhin muss er seine Kolleg:innen überzeugen, denn alle Entscheidungen in der EU-Kommission werden entweder mit Konsens oder mit einfacher Mehrheit getroffen.  

Der Ball liegt nun also beim EU-Parlament. Bei ihrem Votum über die gesamte Kommission können die EU-Abgeordneten beweisen, wie viel Soziales im künftigen Europa steckt. Rückschritte in der Beschäftigungs- und Sozialpolitik darf sich die EU-Kommission allerdings nicht leisten, damit würde sie sich nur der Unvernunft und Realitätsverweigerung mitschuldig machen. 

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Über den/die Autor:in

Margaretha Kopeinig

Margaretha Kopeinig ist freie Journalistin, Autorin und Brüssel-Korrespondentin für den Kurier. Ihre universitäre Ausbildung führte sie nach Wien und Bogotá, wo sie sich mit den Schwerpunkten Politik, Soziologie und Geschichte beschäftigte.

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