Wenn Bildungsabschlüsse vererbt werden

Eine Schülerin lehnt ihren Kopf an der Tafel an. Symbolbild für Schulkosten in Österreich.
Die Schule schafft es nicht, allen Kindern den Schulstoff zu vermitteln. Eltern, die es sich leisten können, gleichen das mit teurer Nachhilfe aus. | © Adobe Stock/detailblick-foto
Mittelschule oder Gymnasium? Berufsausbildung oder Studium? Nicht die eigenen Interessen und Fähigkeiten, sondern das Elternhaus entscheidet in Österreich ganz wesentlich über unsere Bildungslaufbahn. Ein Umbau des Systems ist überfällig.
Probieren wir es halt einmal für ein Jahr“, sagt mein Cousin. Im Herbst wird seine Tochter Klara von der Mittelschule in eine Höhere Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe wechseln, so hat sie sich das gewünscht. Sie ist aufgeregt, freut sich auf die neue Schule, auf die neue Umgebung, den größeren Ort, in dem es nicht bloß ein paar Läden rund um den Kirchplatz gibt. Dass sie die Herausforderung meistern und in fünf Jahren die Matura in der Tasche haben wird, daran glaubt in ihrer Familie aber niemand so recht. „Schauen wir einmal …“ Nach dem 9. Schuljahr könnte sie auch in die Lehre wechseln, die berufsbildende Schule abbrechen – vielleicht war der Schritt ja doch zu groß.

„Dein Kind gehört hier nicht her“

Was Klara erlebt, davon berichten so viele Arbeiter:innenkinder, Menschen, die als Erste in ihrer Familie maturiert oder gar studiert haben. Jenes bürgerliche Selbstverständnis, dass die Welt ihnen offenstehe und das Bildungssystem geradezu für sie gemacht sei, fehlt ihren Familien völlig. Jeder Rückschlag, jede Hürde fungieren als Platzanweiser: Dein Kind gehört hier nicht her.

Als ich selbst mit 16 von einer berufsbildenden Schule ins Oberstufengymnasium wechselte und Unmengen an Stoff in Mathe und Französisch nachholen musste, versemmelte ich die erste Schularbeit in beiden Fächern. „Ich bin skeptisch, ob du das schaffst“, habe ich meinen Vater noch im Ohr. Fieberhaft suchte ich nach Alternativen: eine Lehre in der Apotheke? Erst die guten Noten auf die zweiten Schularbeiten besiegelten meinen Weg zur Matura. Wie groß die Unterschiede in meiner Klasse waren, fiel mir erst viel später auf. Da war zum Beispiel der Architektensohn, der eine Klasse wiederholte und ein ganzes Team von Nachhilfelehrer:innen hinter sich versammelte. Auch ihr Sohn würde Architektur studieren, so die Haltung seiner Eltern von Tag eins an – der Lehrkörper im Gymnasium stand da bloß im Weg.

Bildungsabschlüsse als Erbgut

Geschichten wie diese erzählen auf subtile Weise davon, dass Österreich nicht nur im Hinblick auf Vermögen, sondern auch bei den Bildungsabschlüssen eine Erbengesellschaft ist. Schon seit Langem belegen Studien: Wer Akademiker:innen als Eltern hat, landet viel eher selbst auf einer Universität. Und das ist so gewollt. Gesamt- und Ganztagsschulen hingegen, ausgestattet mit ausreichend Personal, sorgen für deutlich mehr Chancengerechtigkeit – das zeigen zum Beispiel skandinavische Länder vor. Gesamtschulen schaffen ein gutes Umfeld für alle Schüler:innen, um sich zu entfalten, Stärken und Interessen zu entdecken – auch für jene, die eine andere Muttersprache haben als Deutsch und deren Eltern sich teure Nachhilfe schlichtweg nicht leisten können.

Ein Universitätsstudium ist freilich nicht „besser“ als eine Berufsausbildung. Dass Bildung nur versehen mit einem Titel als wertvoll gilt, ist zutiefst klassistisch. Und dennoch: Gegen ein Bildungssystem der Erben, das Kinder aussortiert, statt sie zu unterstützen, gilt es mit allen Mitteln anzukämpfen. Wer krampfhaft am Gymnasium festhält, sichert bloß eigene (Erb-)Privilegien ab. Und das geht auf unser aller Kosten.

Weiterführende Artikel

Mehr als Unterricht: Was Ganztagsschulen wirklich leisten

Kinderbetreuung kommt Frauen teuer zu stehen

Herbstlohnrunde 2024: Alle News im Überblick

Du brauchst einen Perspektivenwechsel?

Dann melde dich hier an und erhalte einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.



Mit * markierte Felder sind Pflichtfelder. Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.

Über den/die Autor:in

Brigitte Theißl

lebt in Wien und arbeitet als Journalistin und Erwachsenenbildnerin. Sie und ihre Schwester sind die Ersten in ihrer Familie, die studiert haben.

Du brauchst einen Perspektivenwechsel?

Dann melde dich hier an und erhalte einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.



Mit * markierte Felder sind Pflichtfelder. Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.