In diesen ganztägigen Schulen werden neben dem regulären Unterricht ein gemeinsames Mittagessen, betreute Lernzeiten und Freizeitaktivitäten angeboten. Dadurch versprechen sie nicht nur eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern auch ein Potenzial für mehr Bildungsgerechtigkeit. Der Zugang zu Essen ist für die Entwicklung von Kindern dabei ebenso wichtig wie guter Unterricht: „In Österreich gibt es immer mehr Kinder, die aus verschiedenen Gründen kaum oder gar nichts essen. Hungrig lernt es sich nicht gut“, sagt Elke Larcher, Referentin für Schulpolitik und Elementarpädagogik in der Abteilung Bildungspolitik der AK Wien.
Ganztagsschulkonzept statt vererbter Bildung
Generell macht sich in Österreich bemerkbar, dass Bildung weiterhin vererbt wird und es politische Schritte für mehr Bildungsgerechtigkeit braucht. 57 Prozent der Kinder, deren Eltern einen Universitätsabschluss haben, erreichen in Österreich ebenfalls einen Hochschulabschluss. Haben die Eltern maximal die Pflichtschule absolviert, gelingt das nur rund 7 Prozent der Kinder. Bildungsungleichheit manifestiert sich dabei bereits in frühen Jahren. „Die Art, wie Schule funktioniert – wann sie anfängt, wann sie endet, wie unterrichtet wird –, unterstützt die starke Bildungsvererbung“, erklärt Elke Larcher. Wer über Bildungsgerechtigkeit diskutiere, müsse sich zunächst einmal Kindergarten und Vorschule ansehen. Je nach Bildungshintergrund der Eltern würden die Kinder bei der Einschulung drei Entwicklungsjahre trennen. Während manche Kinder eine ganze Bibliothek zu Hause hätten, gebe es in anderen Haushalten nicht einmal eine stabile Internetverbindung.
Doch statt des Ganztagsschulkonzepts ist die Halbtagsschule dennoch nach wie vor das Standardmodell. Der Unterricht findet bis mittags statt, danach gehen die Kinder entweder nach Hause oder in eine Nachmittagsbetreuung, falls diese angeboten wird. Die Verantwortung dafür, dass sie die Hausaufgaben machen, liegt bei den Familien. „Kinder hören in der Schule die Dinge einmal, aber das Wiederholen und Verinnerlichen muss zu Hause stattfinden“, so Bildungsexpertin Larcher. „Wenn Eltern keine emotionalen oder zeitlichen Ressourcen haben, um ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen, haben diese keine Chance, mit ihren Mitschüler:innen mitzuhalten.“
Ganztagsschulkonzept soll Lücken schließen
Je höher der Bildungsabschluss der Eltern, desto leichter fällt es ihnen in der Regel, die Kinder beim Lernen zu unterstützen. Es kommt aber auch darauf an, wo sie ihren Bildungsweg durchlaufen haben. „Es gibt viel informelles Wissen über Lernen und Bildung, das Eltern nur haben, wenn sie selbst in Österreich eine Schule besucht haben“, sagt Elke Larcher. Das österreichische Schulsystem setze stark auf die private Verantwortung, die Familien für die Bildung ihrer Kinder tragen. Die Spitze des Eisbergs sei die Nachhilfe. „Jede:r zweite AHS-Schüler:in bekommt Nachhilfe, und wenn Ressourcen fehlen, dann bleibt der Weg zur Matura versperrt. Das hat nichts mit den Fähigkeiten der Kinder zu tun“, weiß Larcher. Dazu kommt, dass viele Kinder zu Hause keinen eigenen Arbeitsplatz haben, um ungestört lernen zu können.
Das Ganztagsschulkonzept könnte diese österreichischen Bildungslücken schließen. Ursprünglich eingeführt, um die Betreuungssicherheit zu gewährleisten, haben sie zusätzlich das Potenzial, Bildungsgerechtigkeit zu fördern. „Eine gute Ganztagsschule leistet zwei Dinge“, sagt Larcher: „Sie ist so organisiert, dass jedes Kind die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen erwirbt und am Ende neben Deutsch idealerweise die Muttersprache gut beherrscht.“ Das zweite und noch wichtigere Ziel seien die Entwicklung von Stärken und der Zugang zu qualitativ hochwertiger Freizeit. „Diese ist für die Zukunft der Kinder ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger als der Lehrplan“, sagt Elke Larcher.
Freizeit kann lernwirksam sein
Nach der Mittagspause starten die Schüler:innen der Vereinsgasse in den Nachmittag, der aus Lernen und Freizeit besteht. Klassische Hausübungen gibt es nicht. Die Kinder machen die Aufgaben mit Unterstützung der Lehrer:innen in der Schule. Neben dem schulischen Lernen sei ein freizeitpädagogisches Angebot essenziell für die Entwicklung, da dieses besonders auf die Förderung des Selbstwerts der Kinder abziele, meint Larcher: „Sie bekommen ein Verständnis dafür, wer sie sind, was sie können oder nicht können und wie zum Teil auch schwierige Aufgaben gelöst werden. Das sind alles Punkte auf der Landkarte, die sich in der Psyche eines Menschen bildet. Die gelernten Fertigkeiten unterstützen auch das schulische Lernen.“
In der Vereinsgasse machen die Kinder jede Woche einen ganztägigen Ausflug. Gemeinsam mit ihren Lehrer:innen und den Freizeitpädagog:innen sind sie unterwegs, um entweder einen Unterrichtsgegenstand in der Praxis zu vertiefen oder auf den Spielplatz zu gehen. „Bei uns gibt es außerdem einen Mehrsprachigkeitsschwerpunkt, die Kinder können Bastelkurse besuchen oder lernen das Fahrradfahren“, sagt Schulleiterin Lener. Der Schultag endet um 17:20 Uhr.
Ganztagsschulkonzept: Städte beim Ausbau klar im Vorteil
Das Ganztagsschulkonzept hat das Potenzial, faire Bildungschancen für alle zu sichern. Dennoch geht der Ausbau nur schleppend voran. „Wir beobachten zwischen den Bundesländern ein ziemliches Gefälle, wobei es Städte deutlich leichter haben“, sagt die Bildungsexpertin der AK. „Während Wien und das Burgenland stark auf Ganztagsschulen setzen, sind sie im Westen ein völlig vernachlässigtes Thema. Dort gibt es – wenn überhaupt – nur schulische Nachmittagsbetreuung.“
Eigentlich sollte der Schulbesuch an öffentlichen Schulen gratis sein, so #AK Präsidentin @renate_anderl. Doch die Realität sieht anders aus: im Schnitt geben Eltern pro Schuljahr 2.223 € pro Kind aus. Der Großteil fällt jetzt zu Schulbeginn an, für viele eine enorme Belastung pic.twitter.com/fPYxGNvfli
— AK Österreich (@Arbeiterkammer) August 27, 2024
Ein Grund für den Mangel sei, dass die Umsetzung von den Gemeinden organisiert wird. Diese hätten jedoch zu wenig personelle und finanzielle Ressourcen, um sinnvolle und lernwirksame freizeitpädagogische Angebote zu schaffen. „Die nächste Regierung muss die dringenden Bildungsreformen angehen. Neben der zeitlichen Organisation von Schule ist es auch wichtig, dass sie erkennt, dass nicht jede Schule in Österreich gleich ist“, sagt Larcher und ergänzt: „Es macht einen Riesenunterschied, wo die Schulen sind, weil die Bildungsgrundlagen der Kinder komplett unterschiedlich sind.“ Investitionen in frühkindliche Bildung und Volksschulen seien nicht nur bildungspolitisch sinnvoll, sondern seien auch eine präventive sozialpolitische Maßnahme, weil dadurch kostspielige Reparaturmaßnahmen auf dem zweiten und dritten Bildungsweg vermieden würden. Es brauche Planungssicherheit für die Schulen. „Was es nicht braucht, ist mehr Leistungsdruck für Schüler:innen, denn der schnürt ein Korsett, in dem sie sich schlecht entwickeln können“, sagt Elke Larcher.
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