Sue Longley: „Sehr betroffen machen mich Fälle sexueller Übergriffe“

Sue Longley, Generalsekretärin der internationalen Gewerkschaft IUF, auf einem Podium vor einem Mikrofon.
Sue Longley kämpft als Generalsekretärin der IUF gegen die schlechten Arbeitsbedingungen in der globalen Landwirtschaft. | © IUF
Die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft sind weltweit oft katastrophal. Sue Longley, Generalsekretärin der IUF, gibt im Interview mit der Arbeit&Wirtschaft Einblick.
Kinderarbeit, schlechte Arbeitsbedingungen und kaum Schutz: Die Menschen, die unsere Lebensmittel auf den Teller bringen, zahlen einen hohen Preis für ihre Arbeit. In vielen Ländern fällt die Landwirtschaft nicht einmal unter das allgemeine Arbeitsrecht. Im Interview erklärt Sue Longley, wie besonders Landarbeiter:innen, die unser Essen produzieren, ungerecht behandelt werden.

Sue Longley
Longleys Kampf für die Landarbeiter:innen dauert schon lange an. Seit 1979 arbeitet sie für die britische Landarbeitergewerkschaft, seit 2017 ist sie Generalsekretärin der „International Union of Food, Agricultural, Hotel, Restaurant, Catering, Tobacco and Allied Workers’ Associations“ (IUF). „Ein langweiliger Lebenslauf“, sagt sie knapp, „letztlich immer der gleiche Arbeitgeber“. Dabei vereint die IUF 407 Gewerkschaften aus 126 Ländern und hat mehr als zehn Millionen Mitgliedern.

Arbeit&Wirtschaft: Trotz aller Krisen steigt die Zahl der Millionäre. Bekommen die Beschäftigten ihren gerechten Anteil?

Sue Longley: Nein. Wir sehen eine kontinuierliche Abnahme von Festanstellungen. Immer mehr Arbeitsplätze werden ausgelagert, was die Arbeitsbedingungen schlechter macht und die gewerkschaftliche Organisierung erschwert.

Die Landwirtschaft ist traditionell ein Sektor mit schlechten Arbeitsbedingungen, Plantagen waren ein Kernstück der kolonialen Ausbeutung des Globalen Südens. Hält diese Tradition bis heute an?

Viele Länder sind immer noch stark von Plantagen abhängig, wenn es um Beschäftigung geht. Früher hatten viele internationale Unternehmen eigene Plantagen, aber in den vergangenen Jahren haben sie desinvestiert und kaufen nun viel von Lieferant:innen, wo die Arbeitsbedingungen meist schlechter sind. Wir brauchen eine deutliche Veränderung der Machtverhältnisse in den weltweiten landwirtschaftlichen Lieferketten, damit Plantagenarbeiter:innen sowie Kleinbauern und -bäuerinnen in der Lage sind, angemessene Bedingungen auszuhandeln. In vielen Ländern unterliegen Jobs in der Landwirtschaft nicht dem allgemeinen Arbeitsrecht, das gilt selbst für die USA und Kanada. Kinderarbeit, schlechte Arbeitsbedingungen und unzureichende Schutzbestimmungen charakterisieren die Landwirtschaft bis heute.

Sue Longley, Generalsekretärin der internationalen Gewerkschaft IUF, auf einer Demonstration.
Sue Longley geht für die IUF auf die Straße. | © IUF/May

Kinderarbeit ist also nach wie vor ein Problem?

Ein riesengroßes, Corona hat es noch verschärft. In keinem Sektor gibt es mehr Kinderarbeit als in der Landwirtschaft. Dazu hören wir immer wieder Bekenntnisse von Unternehmen, etwas zu ändern, sehen aber wenig realen Fortschritt.

Ein wachsendes Phänomen ist die Beschäftigung von Migrant:innen. Ohne sie ist die Landwirtschaft in den USA oder der EU, in Costa Rica oder Südafrika nicht mehr vorstellbar. Warum ist das so?

Wegen der schlechten Bedingungen in der Landwirtschaft. Es ist schwierig, hierfür einheimisches Personal zu finden. Deswegen wächst die Zahl ausländischer Beschäftigter sowie deren Herkunftsländer. Die Menschen sind enormen Risiken ausgesetzt, es gibt zahlreiche Arbeitsunfälle, vielfach werden sie auch in der EU um den Mindestlohn betrogen. Fälle von Zwangsarbeit sind nicht selten, manche müssen ihre Pässe abgeben, so dass sie nicht anderswo Arbeit suchen können.

In den USA haben viele unserer Mitglieder bei vergangenen Wahlen
für Donald Trump gestimmt und werden es wahrscheinlich wieder machen.
Was können wir dagegen unternehmen? Wir wollen die Demokratie verteidigen
und Rassismus verstößt dagegen.

Sue Longley, Generalsekretärin IUF

Die europäische Landarbeitergewerkschaft EFFAT hat schon vor Jahren ein größeres Programm gegen Arbeitsrechtsverstöße bei Migrant:innen aufgelegt. Ist das ein wichtiges Thema für alle Gewerkschaften der IUF?

Grundsätzlich ja, doch ich muss ehrlich sagen, dass wir als Gewerkschaftsbewegung noch nicht den besten Weg gefunden haben, um Migrant:innen zu organisieren. In einigen Gewerkschaften haben wir Kollege:innen mit Migrationshintergrund, das ist eine gute Voraussetzung. Auf unserer letzten Konferenz im Juni 2023 haben wir über dieses Thema lange diskutiert und die Frage der besseren Integration von migrantischen Arbeiter:innen wird einer unserer zukünftigen Schwerpunkte sein.

In vielen Staaten sehen wir rechtsextreme Parteien, die sich stark gegen Migrant:innen wenden. Rassistische Positionen finden auch unter Arbeiter:innen große Unterstützung. Ist das ein Phänomen, das die IUF-Gewerkschaften betrifft, oder spielt das am Arbeitsplatz keine Rolle?

Doch, das ist ein Thema, mit dem wir konfrontiert sind. In den USA haben viele unserer Mitglieder bei vergangenen Wahlen für Donald Trump gestimmt und werden es wahrscheinlich wieder machen. Was können wir dagegen unternehmen? Wir wollen die Demokratie verteidigen und Rassismus verstößt dagegen. Wir werden das Thema deshalb stärker in unsere Bildungsarbeit einbauen, damit alle Kolleg:innen vor Ort gegen rassistische Vorurteile argumentieren und sich mit Betroffenen solidarisieren können. Es gibt keinen einzigen Sektor der IUF, der nicht von migrantischer Arbeit abhängig ist.

Sie haben in Ihren gewerkschaftlichen Funktionen schon viel erlebt: Gibt es noch Situationen, die Sie besonders bewegen?

Sehr betroffen machen mich Fälle sexueller Übergriffe. Das ist in vielen Ländern so verbreitet! Oft müssen wir bei Null anfangen und den Frauen erklären: Nein, das musst du nicht machen, wenn du einen Job willst. Im vergangenen Jahr hat eine Journalistin für den britischen Rundfunk BBC dokumentiert, wie Frauen in Kenia zu Sex genötigt werden, wenn sie eine Anstellung wollen. Und das bei Zuliefer-Firmen von multinationalen Unternehmen, die sich gerne auf ihren Verhaltenskodex berufen. Schockierend!

Einen Verhaltenskodex oder ein privates Zertifikat haben alle großen Unternehmen. Sind diese Zertifikate also nutzlos?

Ich müsste lange suchen, um einen Fall zu finden, bei dem sie zu wirklichen Verbesserungen der Arbeitsrechte beigetragen haben. Es geht hier nur darum, das Frosch-Logo der Rainforest Alliance an die Fabriktür zu heften und den Supermärkten zu zeigen, dass alles gut sei. Ich kenne kein Beispiel, bei dem die Zertifizierung dazu beigetragen hat, eine Gewerkschaft oder Tarifverhandlungen zu stärken.

Macht der faire Handel hier einen Unterschied?

Es hat immer wieder Versuche gegeben, gewerkschaftliche Aspekte im Faitrade zu stärken, aber die waren alle nicht sonderlich erfolgreich. Die Situation auf Plantagen ist eine ganz andere als bei Kleinproduzent:innen, und der faire Handel versteht die extrem hierarchischen Strukturen auf Plantagen nicht. Wir setzen mehr auf das europäische Lieferkettengesetz. Auch hierfür brauchen wir starke Gewerkschaften. Wenn ich mich in der Welt umschaue, sehe ich überall immer mehr gesellschaftliche Konflikte. Wir müssen uns zusammenschließen, uns organisieren, uns politisch engagieren, um die Demokratie zu verteidigen und für Gerechtigkeit am Arbeitsplatz einzutreten.

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Über den/die Autor:in

Frank Braßel

Historiker und Journalist. Langjähriger Mitarbeiter der internationalen Menschenrechtsorganisation FIAN und der Entwicklungsorganisation Oxfam. Von 2005-2011 Berater im unabhängigen Agrarforschungszentrum SIPAE in Quito/Ecuador.

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