Standort Österreich: Ewig jammert die Wirtschaft
In der öffentlichen Debatte ist es jedoch häufig so, dass der Begriff vom „Standort Österreich“ mit der Wirtschaft gleichgesetzt oder direkt auf die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) reduziert wird. Der populistische Slogan „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut“ mag veraltet und widerlegt sein, hat den Diskurs aber nachhaltig infiziert. Dazu kann beispielsweise das „Deloitte Radar“ gezählt werden. Die Unternehmensberatung analysiert jährlich den Standort Österreich. Einen „Stillstand“ gebe es, und die „Gefahr des Abstiegs“ sei gegeben, was „den Wohlstand akut gefährdet“, würde nicht sofort gegengesteuert werden. „Neben einem neuen Mindset sind hierfür merkliche Senkungen der Steuern und Lohnnebenkosten essenziell“, erklärt Deloitte in einer Presseaussendung. Schließlich befänden sich die Unternehmen im „Würgegriff“ der hiesigen Steuerpolitik, wie es bei der Präsentation noch martialischer hieß.
Ein Marketingtrick, den Helene Schuberth schon kennt. Sie ist Chefökonomin des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) und sagt: „Es ist doch beschämend, dass Wirtschaftsvertreter:innen unseren Wirtschaftsstandort pausenlos schlechtreden, anstatt ihn als das zu bezeichnen, was er ist: nämlich sehr robust.“ Eine Taktik, die vor allem in Zeiten von Lohnverhandlungen oder anstehenden Umverteilungsmaßnahmen beliebt sei und meist nur auf Befragungen weniger Manager:innen beruhe.
Das gilt auch für Deloitte. Um zu ihrem Ergebnis zu kommen, hat die Unternehmensberatung insgesamt 600 Führungskräfte um ihre Einschätzung zu Stärken, Schwächen und Handlungsempfehlungen gebeten. Doch so radikal, wie von der Unternehmensberatung zusammengefasst, muss man die Antworten gar nicht lesen. Gefragt nach der aktuellen Stimmung im Unternehmen beispielsweise antwortete eine überwältigende Mehrheit, dass diese sehr gut bis immerhin neutral sei. Lediglich eine Minderheit von 15 bis 26 Prozent (abhängig von der befragten Gruppe – Management, Belegschaft, Kund:innen, Lieferant:innen und Branche) äußerten sich hier negativ.
Standortvorteil geografische Lage
Und tatsächlich ist es um den Standort Österreich nicht ganz so schlecht bestellt, wie Michael Peneder erklärt. Der stellvertretende Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) fasst es so zusammen: „Ich halte Österreich für einen guten Standort, aber wir haben in den vergangenen fünf bis zehn Jahren an Schwung verloren.“ Das liege vor allem daran, dass Österreich sowohl von der Corona-Pandemie als auch vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine härter getroffen worden sei als andere Länder Europas. „Österreich hat einen großen Standortvorteil, für den es gar nicht viel kann, und das ist seine geografische Lage. Wir haben auf der einen Seite Nachbarregionen mit hohem Einkommen und hoch entwickelter Wirtschaftsstruktur – Bayern, die Schweiz und Norditalien. Auf der anderen Seite haben wir im Osten starke Wachstumsregionen mit hohem Aufholpotenzial und Dynamik“, führt Peneder aus.
Es ist doch beschämend,
dass Wirtschaftsvertreter:innen unseren
Wirtschaftsstandort pausenlos schlechtreden,
anstatt ihn als das zu bezeichnen,
was er ist: nämlich sehr robust.
Helene Schuberth,
Chefökonomin des ÖGB
Drei Dimensionen für die Standortvermessung
Dadurch allein wird klar, dass der Begriff des Standorts mehr Nuancen hat, als ihm in den meisten Debatten eingeräumt werden. „Beim WIFO haben wir bewusst einen breiteren Ansatz. Ein guter Standort ist eine Kombination aus wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, sozialem Ausgleich und ökologischer Nachhaltigkeit. Wettbewerbsfähigkeit ist mehr als nur die Außenhandelsbilanz oder die Lohnstückkosten.“
Zur Erfassung nutzt das WIFO seinen „Radar der Wettbewerbsfähigkeit“. Er stellt den Standort Österreich mittels zwölf Hauptindikatoren und zwölf ergänzender Indikatoren dar. Hauptindikatoren sind etwa Wirtschaftsleistung, CO₂-Intensität, Armutsgefährdung und Einkommensverteilung. Zu den ergänzenden Indikatoren gehören etwa das Pro-Kopf-Einkommen, der Gender-Gap, Weiterbildung und Energieabhängigkeit. So möchte das WIFO die drei Säulen, auf denen der Standort Österreich ruht (Ökonomie, Ökologie und Soziales) angemessen abbilden. Denn, so Peneder weiter: „Zwischen diesen drei Dimensionen gibt es starke Wechselwirkungen. Das können positive Synergien oder negative Trade-offs sein.“ Ein prominentes Beispiel ist das Gesundheitssystem. Ist es gut ausgebaut und auf Vorsorge bedacht, können mehr Menschen länger arbeiten. Fachkräfte gibt es nur, wenn das Bildungssystem ausgebaut ist, und bei einer zunehmenden Ökologisierung entstehen klimagerechte Arbeitsplätze. Allerdings kosten diese Leistungen natürlich auch Steuergeld und erfordern ein gewisses Maß an Bürokratie. Klar ist aber, dass das BIP allein nicht als Nordstern taugt.
Wo Österreich Schwung braucht
Doch bei allen Krisen bleibt die Frage, warum Österreich in den vergangenen Jahren „Schwung verloren“ hat, wie es Peneder umschreibt. Klar, Österreich ist auf einem hohen wirtschaftlichen Leistungsniveau, und die Produktivität ist hoch. Das dämpft die Wachstumsraten. Wirklich zurückgefallen ist Österreich laut dem WIFO-Radar aber in den Bereichen Arbeitsmarkt, Soziales und Ökologie. Tatsächlich hat der Standort Österreich Probleme mit dem Gender-Gap. Aus einer Vielzahl von Gründen können Frauen nicht so viel arbeiten, wie sie wollen. Schuld daran ist unter anderem – neben einem sehr traditionellen Familienbild, das die Care-Arbeit enorm ungleich verteilt – die nicht ausreichend vorhandene
Kinderbetreuung. Das sei ein „auffälliges Defizit“, wie es Peneder nennt – und ein Punkt, den selbst Deloitte kritisiert. Mit einem adäquaten Betreuungsangebot für Kleinkinder könnte man das „ungenutzte Arbeitskräftepotenzial“ heben.
Auch Schuberth wird bei diesem Thema deutlich: „Erst der flächendeckende Ausbau von ganztägigen Kinderbildungseinrichtungen ermöglicht es, dass insbesondere Frauen in Vollzeit arbeiten können – wir haben die zweithöchste Teilzeitquote in der EU. Das ist insbesondere angesichts des Arbeitskräftebedarfs in vielen Bereichen notwendig. Die jahrzehntelangen Versäumnisse auf diesem Gebiet rächen sich jetzt bitterlich.“
Sündenbock Sozialstaatsbeiträge
Eine weitere Forderung der Unternehmensberatung ist die Kürzung der Sozialstaatsbeiträge, diese hätte „höchste Priorität“. Ein Mittel, von dem die Regierung in den vergangenen Jahren üppig Gebrauch gemacht hat. So kam es unter anderem zu Kürzungen bei der Unfallversicherung, beim Familienlastenausgleichs- und beim Insolvenz-Entgelt-Fonds. Hier lauert eine der erwähnten Wechselwirkungen: Wer die Sozialstaatsbeiträge kürzt, kürzt eben auch die Leistungen des Sozialstaates – zum einen. Zum anderen gäbe es in der Debatte eine Täter-Opfer-Umkehr, wie Schuberth ausführt: „Ich empfinde die Debatte, so wie sie geführt wird, als Affront gegen arbeitende Menschen. Man operiert mit Schuldzuweisungen – es werde zu wenig gearbeitet. Wir erinnern uns an den Angriff auf in Teilzeit arbeitende Frauen. Jetzt wurde das um die Debatte über zu hohe sogenannte Lohnnebenkosten und eine zu geringe Wochenarbeitszeit erweitert.“
Eine Debatte, die von den eigentlichen Problemen des Standorts ablenken würde. Peneder formuliert die gleiche Kritik vorsichtiger. „Die hohen Lohnnebenkosten sind schon ein Problem. Senkt man sie, müsste man aber gleichzeitig andere Einnahmequellen erhöhen, um andere Dimensionen der Standortqualität nicht zu gefährden. Ich denke dabei zum Beispiel an Umweltsteuern.“ Schuberth hat hier noch zusätzliche Lösungen: „Ohne eine Beteiligung der Superreichen des Landes über eine Vermögen- oder Erbschaftsteuer werden wir die notwendigen Investitionen zur langfristigen Absicherung des Standorts nicht tätigen können.“
Trügerisches Glück im Ausland statt Standort Österreich
Doch was passiert, wenn die Regierung die Sozialstaatsbeiträge nicht kürzt? Für diesen Fall zeichnen Vertreter:innen der Gesamtwirtschaft ein düsteres Bild: WKO-Präsident Harald Mahrer beispielsweise glaubt an eine Abwanderungswelle von österreichischen Unternehmen. KTM-Chef Stefan Pierer kündigte an, die Produktion nach China und Indien zu verlegen. Und tatsächlich wäre ein entsprechender Umzug nicht schwer, wie auch Peneder betont. „Internationale Konzerne müssen ihre Gewerbeimmobilien nicht kaufen, sondern können sie mieten und sind dadurch flexibler. Reintechnisch ist das Verlagern eines Unternehmens nicht wahnsinnig schwierig.“ Aber was dann? „Manches ist in anderen Ländern einfacher – vielleicht die Umweltauflagen oder die eine oder andere Genehmigung. Aber ist man erst einmal vor Ort, wird man sehen, dass auch dort die Bürokratie sehr dicht und engmaschig ist. Man hat oft nicht so viel zu gewinnen“, erklärt Peneder weiter. Dazu kommen ganz praktische Probleme, denn auch am neuen Standort muss ein Unternehmen erst einmal die benötigten Fachkräfte finden.
Genau das ist aber eine Stärke Österreichs. „Österreich hat exzellent ausgebildete und hoch motivierte Arbeitskräfte. So ist die duale Lehrausbildung ein österreichisches Vorzeigemodell für ganz Europa“, gibt Schuberth ein konkretes Beispiel. Wichtig ist aber, dass diese selbst ausgebildeten Fachkräfte in Österreich bleiben wollen, wie Sandra Jurekovic klipp und klar feststellt. Sie ist Arbeiter:innen-Betriebsratsvorsitzende beim Linzer Standort des japanischen Pharmaunternehmens Takeda. „Von den Produktionsmitarbeiter:innenwürde sicherlich niemand in ein anderes Land ziehen, um den Job zu behalten. Das ist erst ab einer bestimmten Position denkbar.“
Bei der Bank Austria ist die Situation komplexer, wie Roman Zeller ausführt. Er ist Mitglied des Zentralbetriebsrates bei dem Unternehmen. Und das muss derzeit gleich zwei Geschäftsfelder ausbauen: Zum einen darf es sich die Bank nicht leisten, im digitalen Bereich gegenüber immer populärer werdenden FinTechs zu viel Boden zu verlieren. Zum anderen muss die Bank ihren größten Trumpf gegenüber dieser Konkurrenz stärken – nämlich die Präsenz vor Ort samt persönlicher Kund:innen-Beratung. Der Heimatmarkt sei dabei ein Standortvorteil, so Zeller. „Österreich verfügt über ein stabiles wirtschaftliches Umfeld, hohe Kaufkraft und eine geradezu perfekte Lage im Herzen Europas.“
Tatsächlich seien die Hoffnungen vom großen Glück im Ausland eher trügerisch. „Nichtsdestotrotz wurden in der Vergangenheit mehrfach Tätigkeiten in Länder mit niedrigeren Lohnniveaus verlagert. In diesem Zusammenhang tauchten in manchen, sehr komplexen Tätigkeitsbereichen aber neue Problemstellungen auf, die vereinzelt sogar zu Rückverlagerungen geführt haben“, gibt Zeller zu.
Standort Österreich: Vorteile selbst schaffen
Abseits von Rankings und Statistiken, Jahresergebnissen und politischen Entwicklungen geht es nämlich in erster Linie um Menschen. Und hier haben sich Standortvorteile entwickelt, die schwer in Zahlen zu fassen sind. So sitzt Takeda in einem sogenannten Cluster zusammen mit anderen Branchengrößen. Sie teilen sich Services wie Ambulanz und Feuerwehr oder stellen Einrichtungen für die Auszubildenden zur Verfügung. „Wir sind im Chemiepark Linz total gut vernetzt. Von den unterschiedlichen Firmen treffen sich einmal im Monat die Betriebsratsvorsitzenden, weil wir gemeinsame Themen wie Gesundheit und Sicherheit haben“, so Jurekovic.
Das wirkt: Takeda ist weit davon entfernt, den Standort zu verlagern. „Ich glaube, dass wir im Konzern keine unwesentliche Rolle spielen. Der hat in den vergangenen Jahren sehr viele innovative Produkte nach Linz transferiert, und wir rechnen für die Zukunft mit noch mehr“, führt Reinhard Proksch aus, der ebenfalls Betriebsrat im Konzern ist. Die Vorschläge und Mahnungen von Deloitte, Mahrer und Pierer sind zumindest bei Takeda nicht das Allheilmittel, für das sie gefeiert werden. Hier wären andere Lösungen gefragt. „Wir merken, dass den Kolleg:innen ein Zeitgewinn immer wichtiger wird und gleichbedeutend ist mit einem Gewinn an Lebensqualität. Selbst wirklich junge Leute würden am liebsten in Teilzeit arbeiten“, so Jurekovic.
Statt Löcher in den #Sozialstaat zu reißen, sollten die schwarzen Schafe unter den Unternehmen in die Pflicht genommen werden, so #AK Direktorin @SilviaHruska. Beschäftigten werden 1,3 Mrd. € an Mehr- und Überstunden vorenthalten! #Lohnnebenkosten https://t.co/BS4BJWLMoU
— AK Österreich (@Arbeiterkammer) May 7, 2024
Erreicht werden könnte das ganz konkret mit einer Umstellung des Schichtbetriebs. „Wir produzieren an fünf Tagen die Woche 24 Stunden im herkömmlichen Früh-, Mittags- und Nachtschicht-Betrieb. Dieses Prinzip ist meiner Meinung nach überholt, das gibt es in der Branche kaum mehr. Es wäre interessant, die Schichtpläne zu ändern und dadurch die Schichtarbeit zu attraktivieren. Wenn sich dabei eine Verkürzung der Arbeitszeit ergibt, wäre das ein angenehmer Nebeneffekt“, gibt sich Proksch konstruktiv.
Laut Zeller ist sich auch die Bank Austria der eigenen Verantwortung bewusst, vor allem, wenn man den wirtschaftlichen Erfolg der vergangenen Jahre bedenkt. „Angesichts der enormen Gewinnsteigerungen der letzten Jahre und der hohen Inflation gilt es nun aber, noch breiter in die Mitarbeiter:innen zu investieren, unter anderem durch kontinuierliche Evaluierung der Arbeitsbedingungen sowie umfassende Aus- und Weiterbildung, aber etwa auch dadurch, dass man die freiwilligen Sozialleistungen weiter ausbaut, modernisiert und betraglich anpasst.“ Kurzum: Unternehmen wissen, was sie an Österreichs Arbeitskräften, dem Lebensstandard, der Infrastruktur, der geografischen Lage und der Rechtssicherheit haben. All diese Faktoren schlechtzureden – egal ob durch Politik oder Interessenvertretung – wird der eigenen Leistungsfähigkeit nicht gerecht. Mehr Selbstvertrauen ist angebracht!