Arbeit&Wirtschaft: Herr Kommissar, wie setzen Sie die sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele der „Europäischen Säule sozialer Rechte“ in konkrete Politik um?
Nicolas Schmit: Es geht um das sozio-ökonomische Modell der Europäischen Union, das sich wesentlich von anderen Teilen der Welt unterscheidet. In der EU wird das Wirtschaftliche mit dem Sozialen verbunden. Das heißt, wir leben in einer Gesellschaft, wo im Prinzip keiner fallen gelassen wird. Das steht auch so in den Verträgen. Wir nennen das soziale Marktwirtschaft.
Erfüllt die EU aktuell diese Vorgabe?
Zum Teil ja, zum Teil nein. Gerade die Finanzkrise hat das europäische Modell unter Druck gesetzt, in manchen Ländern mehr, in anderen weniger. Deshalb haben wir die Säule sozialer Rechte geschaffen, die 2017 von der Juncker-Kommission vorgeschlagen und von den Mitgliedsstaaten in Göteborg verkündet wurde. Wir haben einen Aktionsplan bis zum Jahr 2030 vorgelegt. Im Jahr 2025 werden die bisherigen Maßnahmen einer gründlichen Prüfung unterzogen. Diese Revision ist bereits vereinbart. Von Anfang an war für uns ein besserer Ausgleich in der Lohnpolitik ganz wichtig. Wir haben einheitliche Standards für die Festlegung von Mindestlöhnen beschlossen, nämlich für Länder, wo sie erforderlich sind. Das gilt nicht für Österreich, denn mit seiner Tarifpolitik ist Österreich absolut Weltspitze. Dazu tragen auch Sozialpartner und starke Gewerkschaften bei. Dieses System des sozialen Dialogs, des Ausgleichs zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen, wollen wir gerade auch in den neuen Mitgliedsländern festigen.
Was haben Sie in Ihrer Amtszeit als Beschäftigungskommissar erreicht?
Wir haben die Kindergarantie vereinbart. Darunter verstehen wir die gezielte und koordinierte Bekämpfung von Kinderarmut. Kinderarmut ist die Weitervererbung von Armut, die Weitervererbung des sozialen Ausschlusses. In einer Gesellschaft, in der wir beklagen, dass wir nicht genügend Fachkräfte haben, müssen wir jedem Kind eine Chance geben. Für mich sind auch die Sicherheit und die Gesundheit am Arbeitsplatz ein zentrales Anliegen. So wurde die Richtlinie über Asbest am Arbeitsplatz geändert und der Grenzwert für die Asbestbelastung am Arbeitsplatz deutlich gesenkt. Ich denke, wir müssen die Sozialpolitik mit dem Wandel in unserer Gesellschaft besser verbinden und unsere Wirtschaft wieder auf eine stabilere soziale Basis stellen.
Wie kann der umfassende Wandel in der Gesellschaft, der Produktionsformen, Demografie und die Ökologie umfasst, sozial abgefedert werden?
Es kann nicht sein, dass der Wandel abgekoppelt von sozialen Kriterien erfolgt. Der Anpassungsprozess muss so gestaltet sein, dass die Menschen nicht permanent in Sorge und Angst leben. Sie brauchen positive Perspektiven. Dazu gehört ganz wesentlich eine gute Aus- und Weiterbildung, das erste Prinzip der Europäischen Säule sozialer Rechte. Die EU-Kommission hat das Ziel vorgegeben, dass bis 2030 mindestens 60 Prozent aller Erwerbstätigen jährlich an einer Weiterbildung teilnehmen können. Dieses Recht auf Aus- und Fortbildung muss gewährleistet sein.
Lässt sich der Anspruch, ein sozialeres Europa zu schaffen, in einer neoliberal ausgerichteten Wirtschaft überhaupt realisieren?
In diesem Punkt glaube ich sehr stark an das Prinzip der Realität: Was hat die neoliberale Politik wirtschaftlich erreicht? Haben wir wirklich gute Wachstumsraten gehabt? Haben wir es geschafft, gute Arbeitsplätze zu schaffen? Diese Ziele sind mit neoliberaler Politik nicht erreicht worden. Deswegen müssen wir die Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik auf eine neue Basis stellen. Diese neoliberalen Auswüchse dürfen nicht mehr dominant sein.
Was ist Ihre Position zum Thema Flexibilität? Dieser Begriff ist doch eng mit neoliberaler Politik und Praxis verbunden.
Diese neoliberale Meinung, wonach egal welcher Arbeitsplatz besser sei als keiner, ist falsch. Wir brauchen Flexibilität, aber in dem Sinne, dass wir den Menschen helfen, sich aus- und weiterzubilden und junge Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Flexibilität darf nicht auf Prekarisierung ausgerichtet sein. Das heißt, Flexibilität darf nicht auf Beschäftigungsverhältnisse ausgerichtet sein, die besonders geringen Lohn, keine soziale Absicherung und eine ungewisse Zukunft für Arbeitnehmer:innen mit sich bringen.
Ist Plattformwirtschaft die neue Form des Prekariats am Arbeitsmarkt? Die EU hat lange für eine Lösung gerungen.
Es ist sehr wichtig, dass ein Kompromiss zu der Richtlinie über die Plattformarbeit gefunden wurde. Wir wollen nicht, dass Menschen, die in der EU arbeiten, prekären Verhältnissen ausgesetzt sind. Daher müssen wir dafür sorgen, dass die Plattformen die in der EU etablierten Arbeits- und Sozialstandards einhalten, die ja auch für die Offline-Unternehmen gelten. Wenn Mitarbeiter:innen als Selbstständige eingestuft werden, aber tatsächlich Arbeitnehmer:innen sind, fehlen ihnen Leistungen, die ihnen zustehen – etwa Kranken- oder Unfallversicherung, Mindestlohn oder Elternurlaub. Die Richtlinie bringt mehr Rechtssicherheit und gleiche Wettbewerbsbedingungen in Europa und zwischen Unternehmen.
Sie haben im März dieses Jahres Regelungen für Praktika vorgestellt. Worum geht es dabei konkret?
Wir haben Regelungen über die Qualität und Arbeitsbedingungen von Praktika vorgestellt. Oft werden Praktika nämlich nicht oder schlecht bezahlt. Praktika sollen einen guten Start in den Arbeitsmarkt ermöglichen, dafür müssen sie aber von guter Qualität sein. Junge Menschen, die ein Praktikum absolvieren, um praktische Erfahrungen in ihrer Ausbildung zu sammeln und dafür nicht fair entlohnt werden, das ist nicht akzeptabel.
Was passiert mit jungen Menschen, die keinen Job, keine entsprechende Ausbildung haben oder keine Schulung finden?
Das ist meine große Sorge. Wir haben in der EU acht Millionen junge Menschen, die nicht in Ausbildung, Arbeit oder in einer Schulung sind. Die gehen nicht nur sich selbst verloren, weil sie Chancen nicht wahrnehmen können, sie gehen auch der Gesellschaft und dem Arbeitsmarkt verloren. Und das gerade in einer Zeit, wo wir über Fachkräftemangel klagen.
Sind Sie für eine Jobgarantie in der EU?
Da bin ich etwas zurückhaltender. Wer soll das garantieren? Der Staat? Wir müssen Menschen helfen, sich im Arbeitsleben zurechtzufinden, und dass sie gute Arbeitsbedingungen haben und korrekt bezahlt werden. Ein Arbeitsfeld, das ausgebaut werden sollte, ist die Sozialwirtschaft und soziale Dienstleistungen. Hier gibt es viel Bedarf und wertvolle Arbeit, aber die Bedingungen müssen stimmen. Das ist für mich ein Weg, den man gehen sollte.
Sie haben den Fachkräftemangel erwähnt. Was sind die Ursachen dafür? Und was kann man dagegen tun?
Für den Fachkräftemangel gibt es verschiedene Ursachen: die Demografie, strukturelle Probleme auf dem Arbeitsmarkt und die Ausbildung. Verschiedene Sektoren der Wirtschaft werden aus verschiedenen Ursachen gemieden, wie niedrige Löhne oder schlechte Arbeitsbedingungen. Es braucht mehr attraktive Angebote. Sehr oft sind es soziale Bereiche, in denen viele Frauen beschäftigt sind. Gerade diese Berufe müssen unbedingt aufgewertet werden. Das gilt sowohl für die Arbeitsbedingungen als auch für die Löhne.
Geraten nicht gerade Frauen-Arbeitsplätze durch neue Technologien wie künstliche Intelligenz ganz besonders unter Druck?
Frauen sind in verschiedenen Dienstleistungsbereichen tätig, wo künstliche Intelligenz schon eingreift. Es wird notwendig sein, dass auch Frauen mehr Möglichkeiten haben, sich gerade im Bereich neuer Technologien aus- und weiterzubilden. Wir haben nicht nur einen Fachkräftemangel im IT-Bereich, wir haben einen Gap, eine Kluft, was die Beschäftigung von Männern und Frauen in diesem Sektor angeht: Etwa 25 Prozent Frauen stehen 75 Prozent Männern gegenüber. Dieses Verhältnis muss korrigiert werden. Es braucht mehr Frauen in IT-Jobs, denn diese sind die Arbeitsplätze der Zukunft.
Die #EU bringt viele Vorteile, unterstützt Projekte und Initiativen in ganz Europa – auch in deiner Region. Hier sind 3 Beispiele, wie Arbeitnehmer:innen von der EU profitieren. 1/5#EUWahl24 #Europawahl2024 #StimmefürDemokratie #Arbeitnehmerinnen
— ÖGB (@oegb_at) May 15, 2024
Wie viele Arbeitsplätze werden durch neue Technologien verloren gehen?
Was es sicher geben wird, ist ein Wandel im Inhalt der Arbeit. In manchen Sektoren wird es zu einer großen Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften kommen. Auch hier wird es massive Weiterbildung brauchen. Ob es unter dem Strich weniger oder mehr Arbeitsplätze geben wird, ist in der Wissenschaft umstritten. Die einen sagen, wir werden Arbeitsplätze verlieren – dann stellt sich die Frage, wie wir das gesellschaftlich organisieren. Gleichzeitig werden wir große Produktivitätsgewinne haben, und es stellt sich auch die Frage, wie diese aufgeteilt werden: in Arbeitszeit, in Löhne und Gewinne. Diese Veränderungen müssen unbedingt gut organisiert sein. Es gibt ja auch neue Arbeitszeitmodelle.
Sind Sie für die Vier-Tage-Woche?
Da bin ich sehr offen. Ich sage nicht, das ist jetzt die Lösung. Wir werden den Mangel an Fachkräften nicht nur mit niedrigeren Arbeitszeiten auffangen. Auf der anderen Seite gibt es technologische Entwicklungen, die weniger Arbeiten ermöglichen. Man sollte es den Sozialpartnern überlassen, wie das Ganze organisiert wird. Es gibt Unternehmen, die führen die Vier-Tage-Woche ein und gewinnen dadurch an Attraktivität. Sie finden Leute auf dem Arbeitsmarkt, die sie sonst nicht gefunden hätten. Wie gesagt, das ist eine Frage der Sozialpartner-Verhandlungen.
Wie groß ist die Gefahr, dass durch eine rigide Sparpolitik soziale Stabilität und Wohlstand erodieren?
Diese Gefahr besteht immer. Aber: Ich trete politisch an, um den Menschen klar zu sagen, dass für mich Austerität keine Option ist. Weder eine wirtschaftliche noch eine soziale. Wir brauchen jetzt gerade in dieser Zeit, wo unsere Gesellschaften durch Wandel, Klima und Krieg herausgefordert sind, eine Politik der Solidarität. Wir brauchen keine Politik, die den Sozialstaat abbaut. Das wäre nicht nur ein Problem für Europa, das wäre am Ende ein Problem für unsere Demokratie. Jetzt auf eine rigide Sparpolitik zu setzen, wäre ein kapitaler Fehler. Ich werde diese Tendenz absolut bekämpfen. Dazu kommt, dass wir den Menschen das Gefühl geben müssen, dass sie gute Zukunftsmöglichkeiten haben.
Ist das auch Ihr Credo als Spitzenkandidat der Sozialdemokraten für die EU-Wahl?
Ich bin gegen Austerität, weil diese Sparpolitik wirtschaftlich nichts bringt, sondern nur zerstört. Ich glaube an eine neue Orientierung in der Politik. Nämlich jenen Tendenzen, die nur negativ und zerstörerisch sind, eine positive Einstellung entgegenzusetzen. Ich trete für ein wirtschaftlich starkes und soziales Europa ein, das fähig ist, solidarisch die großen Herausforderungen zu bewältigen. Ein nationalistischer Rückschritt würde für die Bürger:innen hohe soziale aber auch politische Kosten bedeuten.
Umfragen für die EU-Wahl deuten darauf hin, dass Rechtsextreme und nationale Populist:innen zulegen werden. Was ist Ihre Gegenstrategie?
Ich habe durch die Kandidatur den Auftrag bekommen, für ein positives Projekt Europa, ein schlagkräftiges Projekt Europa zu kämpfen. Ich möchte dabei besonders die Solidarität in der Gesellschaft betonen. Wir brauchen einen guten Sozialstaat, den sozialen Dialog und starke Sozialpartner. Das unterstützt die Demokratie und nimmt die Menschen mit. Wir brauchen keine Gesellschaft, die Menschen gegeneinander aufhetzt, die uns zurück in eine nationalistische Vergangenheit mit all ihren Katastrophen führt. Ich zitiere in diesem Zusammenhang gerne François Mitterand, als er 1995 im EU-Parlament sagte: „Le nationalisme, c’est la guerre!“ („Nationalismus, das bedeutet Krieg!“). Leider hat er Recht behalten.