Inklusive Bildung: Schule als Mittelpunkt des sozialen Lebens
Gespräche mit betroffenen Eltern untermauern diesen Befund, zeigen aber auch auf, wie speziell und individuell jeweils die Bedürfnisse sind. Da ist beispielsweise der 14-jährige Anton. Seine Mutter, Karin Riebenbauer, infizierte sich in der Schwangerschaft mit Toxoplasmose. Die Folge: eine starke kognitive Einschränkung ihres Sohnes. Anton kann weder lesen noch schreiben oder rechnen. Hinzu kommen epileptische Anfälle. Derzeit besucht Anton eine Sonderschule. „Wir hätten natürlich Inklusion bevorzugt“, sagt die Mutter, „aber wir haben uns für die Hans-Radl-Schule entschieden, weil wir dort Wertschätzung erfahren haben.“ Auch eine sanfte Schuleingewöhnung – die Mutter durfte zu Beginn anwesend sein – war möglich.
Es gibt viele Menschen mit Behinderungen, die einen Beitrag leisten könnten und
den auch liebend gerne leisten würden.
Karin Riebenbauer
Anton ist ein lebhafter Teenager mit vielen Interessen. „Er hat sich toll entwickelt, man kann ganz normale Gespräche mit ihm führen, er ist lustig und gerne unter Menschen.“ Da der Jugendliche wegen der ständigen Gefahr eines epileptischen Anfalls nicht alleine unterwegs sein darf, ist die Schule für ihn nicht nur Bildungseinrichtung, sondern macht einen großen Teil seines sozialen Lebens aus. Lange wird er diese Schule aber nicht mehr besuchen können.
Die Politik behindert inklusive Bildung
In Österreich gibt es eine Ausbildungspflicht bis 18 Jahre – nicht aber für Jugendliche wie Anton, die keinen Abschluss machen werden können. Für sie fehlen entsprechende Bildungsangebote. Karin Riebenbauer gründete daher mit anderen Eltern die Initiative „Recht auf Bildung für alle“. Ein zehntes Schuljahr bekämen die meisten Schüler:innen noch bewilligt, ein elftes und zwölftes aber leider nicht, erzählt sie. Die Initiative setzt sich für diese zusätzlichen Jahre Schulbesuch ein. Bald ist auch ihr Sohn in dieser Situation, und Riebenbauer ist sich sicher, dass ihm ein weiterer Schulbesuch helfen würde, sich weiterzuentwickeln. Gerade jetzt ortet sie Entwicklungssprünge. Er sei beispielsweise sehr interessiert an Geschichte und Geografie, aber auch Gartenarbeit mache ihm Freude. Unterstützt man ihn darin, hier seinen Weg zu finden, könnte er eines Tages vielleicht selbst arbeiten. Ohne weitere Schuljahre muss er nach der neunten Schulstufe eine Tagesstätte besuchen, wo Menschen kaum gefördert werden. „Und dann bezieht er nur Taschengeld und wird vom Staat erhalten. Das verstehe ich nicht. Es gibt viele Menschen mit Behinderungen, die einen Beitrag leisten könnten und den auch liebend gerne leisten würden.“
Was bringt die Zukunft?
Bei Lea, der neunjährigen Tochter von Sandra Haupt, ist die Situation eine gänzlich andere: Lea ist mehrfachbehindert, bedingt durch einen Sauerstoffmangel bei der Geburt und Resultat von medizinischen Fehlentscheidungen. Lea kann weder gehen noch sprechen, sie benötigt Windeln und muss gefüttert werden. Immerhin kann die Familie inzwischen die nötigen Therapien bezahlen, da man sich nach einem mehrjährigen Rechtsstreit außergerichtlich mit dem Krankenhaus geeinigt hat. Lea besucht derzeit die Sonderschule für schwerstbehinderte Kinder in der Herchenhahngasse in Wien. „Lea wird nie gehen oder sprechen können. Vielleicht kann sie eines Tages selbstständig sitzen“, sagt Haupt. Es gebe für ihre Tochter keine Bildungsziele wie für andere Kinder.
Aber jeder Tag, an dem es ihr gut gehe, sei fein – und jeder Tag, an dem ihr Mann und sie die Tochter gut betreut wissen. Bis zum Alter von 15 könne Lea nun in die Schule gehen. Aber dann? „Mein Wunsch wäre die Sicherheit, auch nach der Schule einen Betreuungsplatz für Lea zu haben.“ Haupt weiß aber, dass sie einen solchen Platz eventuell nicht finden wird. Ihr Mann arbeitet im Schichtdienst bei der Berufsfeuerwehr. Sie selbst ist als Außendienstmitarbeiterin für Behindertenhilfsmittel tätig. „Mein Arbeitgeber ist sehr entgegenkommend, ich habe freie Zeiteinteilung, so kommen wir derzeit gut zurecht.“ Bei einer Bekannten, deren Tochter ebenfalls mehrfachbehindert sei, sehe sie, dass diese nun Tag und Nacht mit der Jugendlichen zu Hause sei. „Ich weiß also nicht, was die Zukunft bringt.“
Inklusiv und integrativ
Die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und der Betreuung eines Kindes mit Behinderungen ist auch für Karin Riebenbauer – sie ist nun in Teilzeit in der Firma ihres Mannes angestellt – und für Angie Weikmann ein großes Thema. Weikmanns Mann und sie haben sich mit einer IT-Firma selbstständig gemacht. „So können wir uns beide die Zeit gut einteilen und sind flexibler.“ Ihr Sohn Clemens hat soeben seinen achten Geburtstag gefeiert. Am Fensterbrett im Wohnzimmer steht noch der Geburtstagszug mit den acht Kerzen.
Clemens kam mit dem Prader-Willi-Syndrom zur Welt – einem Gendefekt, der zu kognitiven Einschränkungen, aber auch zu Kleinwüchsigkeit und aufgrund eines ständigen Hungergefühls zu Adipositas führen kann. Da der Bub von klein auf Wachstumshormone erhält, ist seine Größe altersgemäß. Auch in Sachen Ernährung tut Weikmann, was sie kann: Empfohlen wird eine möglichst gesunde Kost und so wenig süßer Geschmack wie möglich. Jeden Tag schaut sie daher, was es in der Schule zu essen gibt, und kocht eine gesunde Variante ohne Beigabe von Zucker und mit Vollkornprodukten für ihn. Clemens hat einen Schulplatz in der „Lerngemeinschaft 15“ ergattert – einer inklusiv und integrativ geführten Gesamtschule von der ersten bis zur achten Schulstufe, die in Form von Mehrstufenklassen organisiert ist. In jeder dieser Klassen unterrichten ein:e Pädagog:in, ein:e Sonderpädagog:in sowie ein:e weitere:r Teamlehrer:in.
Engagement rund um die Uhr
Auch Weikmann engagiert sich im Rahmen einer Initiative, diese nennt sich „Bessere Schule jetzt“. Gegründet wurde sie 2021, als es in Wien zu Umschichtungen von Ressourcen kam und integrativen Mehrstufenklassen die Stunden mit Teamlehrer:innen gestrichen werden sollten. Diese wurden bereits von zwanzig auf zehn gekürzt. Deren komplette Streichung hätte dieses Schulmodell verunmöglicht. „Unser größter Erfolg war, dass wir diese zehn Stunden retten konnten“, freut sich Weikmann. Mit einem österreichweiten „Aktionstag Bildung“ soll auch diesen Juni wieder auf die Schieflagen im heimischen Schulsystem hingewiesen werden. Weikmann sieht sich als privilegiert, weil sie die Ressourcen habe, sich für ihren Sohn einzusetzen. Viele andere Kinder würden aber ebenfalls so einen Schulplatz benötigen, wie ihn die „Lerngemeinschaft 15“ biete.
„Wir müssen uns als Gesellschaft überlegen, welche Schulen wir heute brauchen.“ In anderen Ländern gebe es vereinzelt bereits Menschen mit Down-Syndrom, die an Unis studieren oder das Wetter moderieren. Davon sei man in Österreich meilenweit entfernt. „Dabei gibt es so viele Best-Practice-Beispiele, wie Schule, aber auch Gesellschaft anderswo inklusiv funktioniert.“ Dazu gehöre auch, dass Kinder, die mehr Zeit brauchen, um Lernziele zu erreichen, diese bekommen – eben durch zusätzliche Schuljahre.
Eltern spielen Taxi
Laut Bildungsministerium wurden 2022/23 10.893 Schüler:innen an einer Sonderschule unterrichtet. 17.947 Schüler:innen besuchten eine Integrationsklasse. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf, etwa auch aufgrund einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum, dürfte allerdings weit höher liegen – offizielle Zahlen fehlen. Was Bildungsexpert:innen, aber auch Elterninitiativen massiv kritisieren, ist die Deckelung der finanziellen Unterstützungen für Kinder mit Förderbedarf. Laut Statistik Austria hatten österreichweit 2021/22 offiziell 5,1 Prozent der Schüler:innen von der ersten bis zur neunten Schulstufe sonderpädagogischen Förderbedarf. Die Ressourcen durch das Ministerium seien aber bei 2,7 Prozent der Schüler:innen in den Pflichtschulen gedeckelt.
AK-Expertin Larcher fordert hier mehr Ressourcen. Vor allem setzt sie sich für ein Schulsystem ein, das darauf achtet, was jedes einzelne Kind braucht, und darüber hinaus den Eltern eine Vollzeitberufstätigkeit ermöglicht. Dazu wäre es nötig, dass multiprofessionelle Teams etwa auch mit Psycholog:innen, Logopäd:innen, Ergotherapeut:innen an den Schulen andocken. „Derzeit spielen hier die Eltern Taxi, aber nicht alle können das leisten.“ Grundsätzlich laute das Credo im Sinne aller Kinder: individualisieren, individualisieren, individualisieren. „Wo liegt das Potenzial des Kindes? Und welche Lernräume und Methoden braucht es?“ Genau das versucht man in Schulen wie der „Lerngemeinschaft 15“ oder dem Evangelischen Realgymnasium Donaustadt.
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