In Österreich ist jeder zweite Mensch mit Behinderung auf Arbeitssuche – viele arbeiten in schlecht bezahlten Jobs oder in Bereichen, wo es statt eines Gehalts nur Taschengeld gibt. Dabei ist jedes Unternehmen verpflichtet, pro 25 Beschäftigte einen begünstigt behinderten Menschen einzustellen. Doch drei Viertel der Arbeitgeber:innen erfüllen diese Beschäftigungspflicht gar nicht oder nicht zur Gänze. Lieber wird eine Ausgleichstaxe bezahlt. Sie beträgt je nach Größe des Betriebs zwischen 320 und 477 Euro pro unbesetzten Platz und Monat – Peanuts im Vergleich zu anderen Kosten, die ein Unternehmen regelmäßig aufzuwenden hat. Die Ausgleichstaxe wird deshalb kaum als große Belastung wahrgenommen. Patrick Berger leitet das „Chancen Nutzen“-Büro im ÖGB. Er fordert, dass die Ausgleichstaxe zumindest auf die Höhe eines Monatsgehalts erhöht wird. Gleichzeitig gibt er zu bedenken: „Es ist nicht so, dass Arbeitgeber:innen nichts mit Menschen mit Behinderungen zu tun haben wollen. Viele wissen nicht so genau, was auf sie zukommen könnte. Sie haben einfach Berührungsängste.“
Inklusion in der Arbeitswelt: Zusammenhalt stärken!
„Europäische Studien zeigen, dass Unternehmen, die Vielfalt leben, auch ungemein profitieren“, erläutert Martina Chlestil, Juristin in der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien. Vielfalt bedeutet: Arbeitnehmer:innen unabhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, Religion oder Weltanschauung sowie unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben, einzustellen. Chlestil: „Wenn Unternehmen Diversität gut managen, können sie auch bessere Leistungen für ihre Kund:innen anbieten.“ Die AK-Juristin fordert einen Richtungswechsel in den Betrieben: „Die Arbeitgeber:innen sollten die Fähigkeiten und Potenziale der Menschen mit Behinderungen sehen und den Blick nicht nur darauf richten, was aufgrund einer Behinderung oder einer gesundheitlichen Einschränkung vielleicht nicht möglich ist.“
Unsicheren Arbeitgeber:innen rät Patrick Berger, sich mit all ihren Fragen an das „Chancen Nutzen“-Büro zu wenden. „Wir beraten Arbeitnehmer:innenvertretungen, Behindertenvertrauenspersonen, Betriebsräte, aber auch Personalabteilungen.“ Ebenso werden Seminare, Workshops, Betriebsberatungen und Coachings angeboten. Berger nennt ein Beispiel: „Wenn ich eine Mitarbeiterin mit Hörbehinderung habe, sollten die akustischen Signale durch visuelle ersetzt werden – wichtig ist, für die Kommunikation Unterstützung bereitzustellen.“
Bitte nicht zu höflich!
Miteinander tratschen, sich austauschen, den Umgang pflegen – fraglos eine Selbstverständlichkeit unter Kolleg:innen. Doch viele Beschäftigte trauen sich aus Furcht vor Fettnäpfchen nicht, überhaupt ein Gespräch zu beginnen. Bloß, weil ein Mensch blind ist oder sich mithilfe eines Rollstuhls fortbewegt, besteht noch keine Notwendigkeit für Kommunikation mit Wattebausch. Das Bedürfnis nach Gleichbehandlung und konstruktiver Kritik ohne besondere Rücksichtnahme ist hoch – alles andere ist lähmend fürs Gemüt, sorgt für Isolation und den Ausschluss vom Leben nicht behinderter Menschen. „Mein persönlicher Eindruck ist, dass ich aufgrund meiner Sprechbehinderung manchmal unterschätzt werde“, erzählt WAG-Beraterin Katharina Praniess. „Aber sobald mich mein Gegenüber besser kennt, löst sich der Knoten.“
Die Wienerin führt Erstgespräche mit Menschen, die nach einer Persönlichen Assistenz am Arbeitsplatz (PAA) suchen. Als ausgebildete Psychologin gelingt es ihr schnell, Vertrauen aufzubauen – dass Praniess selbst mit PAA arbeitet, ist freilich ein Bonus für Kund:innen. Sie kann aus der eigenen Erfahrung schöpfen und abklären, welche Erwartungen realistisch sind.
Bloß, weil ein Mensch blind ist
oder sich mithilfe eines Rollstuhls fortbewegt,
besteht noch keine Notwendigkeit für
Kommunikation mit Wattebausch.
Patrick Berger, Leiter des
„Chancen Nutzen“-Büros
Ihre Persönliche Assistentin Andrea unterstützt Katharina Praniess bei Handreichungen im Berufsalltag, wie etwa beim Tippen auf Ansage oder bei der Kommunikation. Sie hilft aber auch beim An- und Ausziehen des Mantels. Es ist eine professionelle Beziehung auf freundschaftlicher Ebene, und die Chemie stimmt, wie beide bestätigen. „Auch wenn manche Beratung anstrengend ist: Ich liebe meinen Job“, versichert Katharina Praniess. Um ihre Freizeit genießen zu können – seien es Theaterbesuche, Musical-Vorstellungen, der Wiener Prater oder die Schönheiten rund um Schönbrunn – vertraut Praniess auch privat einer Persönlichen Assistenz.
Inklusion in der Arbeitswelt heißt assistieren, nicht betreuen
Allerdings – und das ist der entscheidende Haken – fehlt es in ganz Österreich an Persönlichen Assistent:innen am Arbeitsplatz (PAA) und auch an Assistent:innen zur Unterstützung außerhalb der Arbeitswelt (PA). Das Grundübel ist das Fehlen einheitlicher Regelungen – manche Bundesländer ermöglichen für die Assistent:innen Anstellungen, andere nur freie Dienstverträge. Zudem gibt es auch Bundesländer, die gewisse Behinderungsgruppen kategorisch von dieser Leistung ausschließen. Und die Anzahl der bewilligten Stunden variiert massiv. Ob Betroffene im Burgenland, in Vorarlberg oder in Wien leben, ist leider wirklich ein großer Unterschied. Was bundesländerübergreifend zutrifft: Menschen, die Persönliche Assistenz benötigen, können sich das tatsächliche Stundenkontingent für ein selbstbestimmtes Leben meist nicht leisten.
Mein persönlicher Eindruck ist,
dass ich aufgrund meiner Sprechbehinderung manchmal unterschätzt werde.
Aber sobald mich mein Gegenüber besser kennt, löst sich der Knoten.
Katharina Praniess, WAG-Beraterin
„Wir fordern daher seit Jahren eine einheitliche Regelung“, sagt Jasna Puskaric, geschäftsführende Vorständin der WAG. Derzeit finanziert der Bund die Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz, die neun Bundesländer stellen die Mittel für die Unterstützung außerhalb der Arbeitswelt bereit. Bereits im Dezember 2022 hat Sozialminister Johannes Rauch ein Pilotprojekt angekündigt, das einheitliche Rahmenbedingungen für alle Lebensbereiche schaffen soll. „Doch derzeit nehmen nur Tirol, Vorarlberg und Kärnten daran teil, das Burgenland wird bald nachziehen“, zeigt sich Puskaric enttäuscht. „Ich wünsche mir, dass sich die anderen Bundesländer endlich auch am Pilotprojekt beteiligen.“
Miteinander (auf)wachsen
Auch in anderen Bereichen sind Bund und Länder gefordert, denn Inklusion sollte schon von klein auf beginnen. Der gemeinsame Besuch des Kindergartens bzw. der Grundschule führt dazu, dass Menschen mit und ohne Behinderungen einander besser kennen, was in der Regel die Vorbehalte verringert. „Derweil müssen viele, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, mit einer qualitativ schlechten Ausbildung leben“, macht Patrick Berger deutlich. „Viele von ihnen erhalten nicht die Bildung, die für sie intellektuell möglich wäre.“
Für Unternehmen muss es attraktiver werden, Menschen mit Behinderungen einzustellen. „Auch Arbeitgeber:innen sind aufgefordert, ihren Beitrag zur Inklusion zu leisten. Sie müssen Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit geben, eine Beschäftigung auszuüben. Dazu braucht es gute, flächendeckende Unterstützungsmöglichkeiten“, erklärt AK-Juristin Martina Chlestil. Was auffällt: Bereits heute gibt es gute Förderungen vom Arbeitsmarktservice (AMS), wenn Arbeitnehmer:innen mit Behinderungen neu eingestellt werden. Allerdings wissen viele Firmen darüber gar nicht Bescheid. Freilich: Die größten Hürden und Barrieren sind leider jene, die es in den Köpfen der Gesellschaft zu bewältigen gilt. „Sie müssen dringend abgebaut werden, und das erreichen wir einzig durch ein selbstverständliches Miteinanderaufwachsen“, ist Katharina Praniess überzeugt. „Bei Kleinkindern beobachten wir ja auch, wie ein unkompliziertes Miteinander gelingt – durch Aufeinanderzugehen, Wissensdurst und vor allem die Akzeptanz, dass jeder bzw. jede anders ist.“