Arbeit&Wirtschaft: Wo steht Österreich bei der Behindertenpolitik auf einer Skala von eins bis zehn?
Steger: Der Zustand der Behindertenpolitik in Österreich ist schlecht. Je länger die Republik untätig bleibt, desto weiter entfernt sind wir vom Zehner, weil der Zehner sich immer weiterentwickelt. Aber ich kann keine Zahl nennen, dafür ist das Thema Gleichstellung und Chancengerechtigkeit für Menschen mit Behinderungen zu weitläufig.
Ladstätter: Es fehlt noch einiges bis zur Barrierefreiheit. Den Zehner-Zustand werden wir weder in diesem noch im nächsten Leben erreichen, weil sich auch die Ziele entwickeln. Was wir vor 30 Jahren angestrebt haben – damals hieß es Behindertengerechtigkeit –, wäre heute nicht mehr genug.
Bitte nennen Sie ein Beispiel.
Ladstätter: Wenn vor Jahrzehnten Eltern erfolgreich dafür gekämpft haben, dass ihr Kind mit Behinderung in die Schule gehen kann, war das positiv. Heute geht es um Inklusion und darum, dass Aussonderung behinderter Menschen generell nicht mehr erlaubt sein sollte.
Wie steht Österreichs Behindertenpolitik im internationalen Vergleich da?
Steger: Wir liegen weit hinten. Südtirol zum Beispiel hat die Aussonderung und Andersbehandlung von Menschen mit Behinderungen schon in den 1970er-Jahren abgeschafft, während Österreich noch heute von einer gemeinsamen Schule für alle Kinder weit weg ist.
Ladstätter: Noch bevor wir in Österreich die rechtliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in der Bundesverfassung erkämpft haben, hat das Uganda geschafft. Das heißt aber nicht, dass Uganda besser als Österreich ist. In vielen afrikanischen Ländern gibt es eben nicht wie bei uns eine jahrzehntelange Aussonderungstradition. Sie tun sich leichter, wenn sie mit Inklusion beginnen.
Gibt es etwas, wo Österreich in der Behindertenpolitik vorne ist?
Steger: Ja, im Aussondern. Die Weichenstellung wird gesetzt, wenn Kinder mit Behinderungen in die Sonderschule gehen, statt gemeinsam mit Kindern ohne Behinderungen aufzuwachsen. In der Sonderschule gibt es sehr fähige Pädagog:innen mit bedarfsgerechteren Angeboten als in der Regelschule. Aber wir bräuchten Sonderschulbedingungen für alle Kinder, dann könnten alle miteinander aufwachsen und lernen. Auch der Erlass von Minister Polaschek, der klarstellt, dass ich im Gymnasium eine Assistenz kriege, nützt mir nichts, wenn ich die ersten Jahre meiner Schulkarriere in der Sonderschule war – dann werde ich den Sprung ins Gymnasium nämlich nicht schaffen.
Ladstätter: Es geht nicht nur darum, dass Menschen mit Behinderungen ausgesondert werden, sondern auch darum, dass die Gesellschaft dadurch mit ihnen keinen Kontakt hat.
Steger: In den üblichen biografischen Verläufen gibt es keine Begegnungsräume mit Menschen mit Behinderungen. Wenn man dann am Arbeitsplatz auf Personen mit Behinderungen trifft, entsteht oft eine künstliche Situation, weil man sie als Extra-Spezies sieht, die man besonders behandeln muss.
Welche Konsequenzen hat das für Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt?
Steger: Schlechte Bildungschancen, schlechte Qualifikation, weniger gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt, nicht adäquate Unterstützung am Arbeitsplatz und Existenzsicherung sind untrennbar miteinander verbunden. 47 Prozent aller begünstigt behinderten Menschen sind arbeitslos – das sind 60.000 Menschen. Weitere 30.000 arbeiten in Einrichtungen mit Beschäftigungstherapie. Menschen mit Behinderungen sind doppelt so häufig manifest arm bzw. armutsgefährdet.
Es gibt viele Unternehmen, die ihrer Pflicht nicht nachkommen, Personen mit Behinderungen einzustellen, und lieber die Ausgleichstaxe zahlen. Ist es glaubwürdig, wenn Unternehmen sagen, sie haben niemanden gefunden?
Ladstätter: Ja, es gibt Unternehmen, die keine Mitarbeiter:innen finden. Ich sage böse dazu: weder mit noch ohne Behinderung.
Woran liegt das?
Steger: Das hat viele Gründe. Oft mangelt es an der Arbeitsplatzausstattung. Natürlich kann es sein, dass zum Beispiel ich mit meiner Oberschenkel-Amputation nicht geeignet wäre, am Fließband zu arbeiten. Aber ich kann im Backoffice arbeiten. Man muss auch schauen, welche Ausbildungen die Personen bräuchten. Zum Beispiel sind gehörlose Personen strukturell vom Bildungszugang ausgeschlossen, weil es in der Fort- und Weiterbildung keine Dolmetschangebote in Gebärdensprache gibt. Die Verantwortung wird an die Individuen abgeschoben. Nach dem Motto: Du bist deines Glückes Schmied:in, und wenn du dich ein bisschen anstrengst, kriegst du einen Job. Es geht auch um Arbeitsplatzassistenz, die bis dato Pflegegeldbezieher:innen vorbehalten ist. Ich frage mich auch, warum Unternehmen nicht junge Leute mit Behinderungen im Haus ausbilden.
Ladstätter: Aber der Bund und die Länder sind um keinen Deut besser. Ein Beispiel: Der Fonds Soziales Wien schafft es nicht, gemäß Behinderteneinstellungsgesetz ausreichend behinderte Menschen zu beschäftigen. Wir als Wiener Monitoringstelle haben erhoben, wie viel Ausgleichstaxe Unternehmen der Stadt Wien zahlen. Ich darf keine Zahlen nennen, aber es sind teilweise bis zu siebenstellige Summen. Auch große Hilfsorganisationen zahlen teilweise solch hohe Summen.
Steger: Auch die Ministerien stellen zu wenige junge Leute mit Feststellungsbescheid ein. Und keine einzige Universität erfüllt die Einstellungspflicht. Jede Universität zahlt ein paar 100.000 Euro Ausgleichstaxe pro Jahr – mit Steuergeld!
Frau Steger, was ärgert Sie als Behindertenanwältin an der rechtlichen Lage von Menschen mit Behinderungen besonders?
Steger: Es ist zwar gut, dass wir das Gleichstellungsgesetz haben, aber es ist wahnsinnig zahnlos, weil wir keinen Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch bei Diskriminierungen haben. Für die Gleichstellung und die Rechtedurchsetzung von Menschen mit Behinderungen ist es essenziell, dass ich nicht nur 700 Euro Schadenersatz kriege, wenn ich bei meinem Hausarzt nicht in die Praxis kann, sondern dass er umbaut und barrierefrei zugänglich wird. Neben dem Gleichstellungsgesetz haben wir die Bundesverfassung, und wir haben die UN-Konvention ratifiziert. Wir haben eine Tonne voll mit Antidiskriminierungsbestimmungen. Aber die Rechtsdurchsetzung ist nach wie vor bestenfalls lauwarm.
Österreich hat die UN-Behindertenrechtskonvention 2008 unterzeichnet, aber im Sommer 2023 wurde bei der Staatenprüfung in Genf diskutiert, ob sie auf uns zutrifft. Wie ist das möglich?
Steger: Das ist ein österreichischer Habitus: Wasch mich, aber mach mich nicht nass – wir ratifizieren die Konvention, aber haben den Erfüllungsvorbehalt und müssen sie nicht umsetzen. Der Erfüllungsvorbehalt bedeutet, dass die Artikel aus der Konvention nicht direkt anwendbar sind im Sinne eines Diskriminierungsschutzes, sondern die Gesetze die Details zu regeln haben. Es hätte eine legistische Verankerung der Zielsetzungen aus der Konvention in den Landes-, Bundes- und sonstigen Bestimmungen gemacht werden müssen – das ist nicht passiert. Aber der Erfüllungsvorbehalt war ab dem Zeitpunkt obsolet, als die EU die Konvention ratifiziert hat.
Österreich hat 16 Seiten Handlungsempfehlungen erhalten. Kritisiert wurden u. a. die Bereiche Recht auf selbstbestimmtes Leben, Inklusion in der Gemeinschaft und Recht auf inklusive Bildung.
Ladstätter: Wir wurden aber auch eine halbe Seite lang gelobt, würden nun manche einwenden. Was in Österreich nicht verstanden wurde: Sobald man sich verpflichtet, Rechte zu gewährleisten, ist es keine Frage des Wollens mehr, sondern eine feststehende Verantwortung. Dann kann man auch nicht in einem Bundesland wollen und in einem anderen nicht.
An der Durchsetzung von Menschenrechten scheitert es ja des Öfteren.
Steger: Es wird ein bisschen so getan, als würde die UN-Konvention neben den österreichischen Gesetzen existieren und als gäbe es keine Notwendigkeit, beides miteinander zu verweben.
Ladstätter: Das Konzept der Menschenrechte ist in Österreich wenig traditionsbehaftet. Aber es geht auch anders: Bei der Verbandsklage gegen das Bildungsministerium ist herausgekommen, dass der Mangel bei der Persönlichen Assistenz im Bildungsbereich rechtswidrig und zu ändern ist. Dabei hat das Gericht als Grundlage das Behindertengleichstellungsrecht und die Behindertenrechtskonvention herangezogen.
Im März hat der Ministerrat beschlossen, dass es künftig Lohn statt Taschengeld für Menschen geben soll, die in inklusiven oder integrativen Arbeitsmodellen arbeiten. Dann steigt ihr Einkommen, und sie sind sozial- und pensionsversichert.
Ladstätter: Die Details der Richtlinie müssen noch erarbeitet werden, aber erst einmal stimmt mich das optimistisch. „Taschengeld“ klingt, als wäre es für Kinder bestimmt.
Steger: Der Zustand, dass Menschen mit Behinderungen wie Kinder behandelt werden, ist in vielen Leistungen abgebildet, die man ihnen zugesteht. Sie bekommen erhöhte Familienbeihilfe bis ans Lebensende oder leben von der Waisenpension, selbst wenn sie schon über 50 sind. Wir bewegen uns da in sozialrechtlichen Untiefen. Diese Menschen haben dann als Einkommen Pflegegeld, Taschengeld aus der Werkstatt, Waisenpension und erhöhte Familienbeihilfe. Ein bunter Strauß voll Spaß und Schabernack. Auch in ihrer Wohnsituation spiegelt sich das wider. Zwar gibt es jetzt statt großen Heimen kleine teilbetreute Wohneinrichtungen und WGs. Aber auch dort suche ich mir nicht aus, mit wem ich lebe, wann und was ich esse und wann ich ins Bett gehe. Und ich werde von Leuten betreut, die ich mir auch nicht aussuchen kann.
Wie beurteilen Sie die Situation in der Pflege in Bezug auf Menschen mit Behinderungen?
Ladstätter: Sozialpolitisch ist die Pflege eine Dauerbaustelle. Wenn ich krank bin, habe ich einen Anspruch auf Behandlung. Aber Pflegebedürftigkeit und die dadurch entstehenden Kosten sind in Österreich individualisiert. Ich bekomme zum Beispiel über 6.000 Euro im Monat für Persönliche Assistenz, damit ich dann aufs Klo gehen kann, wenn ich muss, und selbstbestimmt leben kann – das ist ein Thema, aber wenn jemand dauernd Insulin braucht, ist das kein Thema.
In der Behindertenpolitik heißt es oft, dass das Geld nicht reicht. Ist es eine Geldfrage, wie wir mit Behinderungen umgehen?
Ladstätter: Wir reden von der Umsetzung von Menschenrechten – es geht nicht darum, einer Person ein Goodie zu genehmigen und einer anderen nicht.
Steger: Es macht einen Unterschied, ob wir darüber diskutieren, welche rechtlichen Grundlagen es braucht, um Gleichstellung herbeizuführen. Oder ob wir ständig die Menükarte lesen und schauen, was uns etwas kostet, und dann überlegen, ob wir es machen oder nicht. Da kommt auch unsere Geschichte ins Treffen. In Österreich wurden Menschen mit Behinderungen systematisch erfasst, sterilisiert und ermordet. Wir hatten sogar bis zum Jahr 2000 die Sterilisation behinderter Menschen ohne deren Zustimmung. Selbst heute wird das, mit dem Einverständnis der Eltern, noch gemacht.
Ladstätter: Ein anderes Thema ist ein Detail bei der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs: Potenziell behindertes Leben darf bis zur Geburt abgetrieben werden. Dahinter steht, dass behindertes Leben als weniger wertvoll angesehen wird. Auch dies wurde bei der Staatenprüfung kritisiert.
Weiterführende Links:
EuGH stärkt Diskriminierungsschutz von Menschen mit Behinderung