„Leidtragende werden die Versicherten sein“ – Ingrid Reischl (WGKK) im Interview

Porträtfoto von Ingrid Reischl
Seit 2009 leitet Ingrid Reischl als erste Frau in dieser Position als Obfrau die Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK).
Foto (C) Matt Observe

Inhalt

  1. Seite 1 - Status quo der Wiener Gebietskrankenkasse
  2. Seite 2 - Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen
  3. Seite 3 - Sparen durch Leistungskürzungen?
  4. Seite 4 - Was wären die Alternativen?
  5. Auf einer Seite lesen >
Ingrid Reischl, Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse, kritisiert die Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen und des halben Hauptverbands, für die ihrer Ansicht nach viel zu wenig Zeit vorgesehen ist. Auf der Strecke würden die Versicherten bleiben, weil sich die Kassen jetzt mit sich selbst beschäftigen müssen. Und die neue Österreichische Gesundheitskasse werde ein Bürokratiemonster sein.
Die Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) feiert heuer ihr 150jähriges Bestehen, was Anlass zu feiern ist, zumal die Krankenversicherung ursprünglich von Arbeitern selbst organisiert wurde. Gleichzeitig steht die älteste österreichische Krankenkasse am Beginn einer herausfordernden Zeit, denn die Bundesregierung plant, die neun Gebietskrankenkassen zur Österreichischen Gesundheitskasse zusammenzulegen.

Zur Person
Ingrid Reischl ist seit 2009 Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse und war die erste Frau in dieser Position. Ebenso seit 2009 ist sie Vorsitzende der Trägerkonferenz im Hauptverband der Sozialversicherungsträger. Die ausgebildete Erzieherin hat in Wien Politikwissenschaften studiert und war ab 1990 für die GPA tätig. Ab 1993 vertrat sie die ArbeitnehmerInnenseite in verschiedensten Gremien österreichischer Sozialversicherungen. Sie war als Universitätslektorin tätig und absolvierte Management- und Betriebswirtschafts-Ausbildungen.

Die Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) besteht seit 150 Jahren. Warum ist das Anlass zu feiern?

Dass es eine selbst verwaltete Krankenversicherung so lange gibt, ist ein Grund zum Feiern. Wir haben allerdings keine großen Veranstaltungen gemacht, sondern waren vor Ort bei den Menschen, bei Messen und in Einkaufszentren, wo wir über unser Service informiert haben. Die WGKK war ein kleiner Verein von Arbeitern mit 6.000 Mitgliedern – und hat es zur größten Krankenversicherung Österreichs gebracht.

Damals gab es ja noch gar keine Krankenversicherung, mit Ausnahme von einzelnen Firmen, die das ihren Mitarbeitern angeboten haben.

Ja, es gab Angebote von den Firmen, denen die Arbeiter aber teilweise misstraut haben. Wenn man das Unternehmen gewechselt hat, hat man die Versicherung verloren. Und so haben die Arbeitnehmer gesagt, sie gründen eine Krankenversicherung in Selbstverwaltung.

Wie beurteilen Sie den heutigen Status quo: Was ist am österreichischen Sozialversicherungssystem gut, was schlecht?

Die vorige Regierung hat im Vorjahr eine große Studie bei der London School of Economics in Auftrag gegeben, die klar gezeigt hat, dass wir im internationalen Vergleich fast den niederschwelligsten Zugang aller OECD-Systeme haben: Das heißt, die Menschen kommen leicht zu ihrer Gesundheitsversorgung. Sie sind sehr gut versorgt, vor allem auch bei sehr schweren Erkrankungen. Die Kritikpunkte sind bekannt: Wir haben im internationalen Vergleich eine hohe Spitalslastigkeit, was das System teurer macht. Das ist auch der Grund dafür, dass wir bei den Kosten ein bisschen über dem EU-Durchschnitt liegen. Und: Die Wiener und Wienerinnen lieben ihre Spitäler auch sehr.

Die vorige Regierung hat im Vorjahr eine große Studie bei der London School of Economics in Auftrag gegeben, die klar gezeigt hat, dass wir im internationalen Vergleich fast den niederschwelligsten Zugang aller OECD-Systeme haben: Das heißt, die Menschen kommen leicht zu ihrer Gesundheitsversorgung. 

Wie meinen Sie das?

Sie gehen auch mit Kleinigkeiten und Dingen, die dort nicht hingehören, in die Notfallambulanz. Es wäre naheliegend, zum Beispiel zum Hausarzt zu gehen anstatt ins Spital, wo es viele Keime gibt. Wir haben da angesetzt und eine hausärztliche Versorgung bei der Akutambulanz im AKH eingerichtet. Dort lernen die Menschen, dass der Allgemeinmediziner bei einem Sonnenbrand oder einem Nagelpilz besser helfen kann als der Topspezialist im AKH.

Viele scheinen wirklich mit den abstrusesten Beschwerden in die Ambulanzen zu kommen.

Sicher 60 Prozent der Menschen, die von sich aus in eine Spitalsambulanz kommen, gehören eigentlich in eine hausärztliche Versorgung. Um diese Situation zu ändern, gibt es seit über einem Jahr die Gesundheitshotline 1450, wo die Menschen anrufen können und durch Fachpersonal gezielt dorthin geleitet werden, wo sie hingehören. Dahinter steht ein wissenschaftlicher Entscheidungsbaum: Pflegepersonal im First Level und Ärzte im Second Level sind rund um die Uhr erreichbar. Es gibt international sehr gute Erfahrung damit und bei uns auch. Es muss nur noch bekannter werden, denn es rufen zu wenige Menschen an.

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Über den/die Autor:in

Alexandra Rotter

Alexandra Rotter hat Kunstgeschichte in Wien und Lausanne studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin in Wien und schreibt vor allem über Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie und Zukunft.

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