Da wartet, von Tourist:innen umschwärmt und vom gelegentlichen Blitzlicht erhellt, der Bremer Roland, immerhin der älteste Steinroland der Welt. Früher – dieser stammt aus dem Jahr 1404 – symbolisierten diese Statuen die Eigenständigkeit einer Stadt. Und das ist den Menschen hier wichtig und gehört zur Identität und zum Lebensgefühl – es ist Teil der hanseatischen DNA. Kein Zufall auch, dass Bremen (neben dem Saarland) das einzige Bundesland in Deutschland ist, das über eine Arbeitnehmerkammer verfügt. Die sitzt nur dreihundert Meter (oder zwei Straßen) entfernt von den großen Sehenswürdigkeiten der Stadt – ironischerweise direkt gegenüber der Geschäftsstelle der neoliberalen Partei FDP.
Arbeitnehmerkammer Bremen: Automatisch dabei
Die Bremer Arbeitnehmerkammer vertritt und berät etwa 400.000 Beschäftigte im Land Bremen. Wer hier einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgeht, ist automatisch Mitglied. „Wir sind ein Industriestandort mit Automobil-, Luft- und Raumfahrt- sowie Stahlunternehmen. Auch der Bereich Logistik und Häfen ist hier stark vertreten. Bei wissensintensiven Dienstleistungen – beispielsweise bei Finanz-, Versicherungs- und Beratungsdienstleistungen – sind wir nicht so stark aufgestellt“, führt Peer Rosenthal, Geschäftsführer der Arbeitnehmerkammer, im Gespräch mit Arbeit&Wirtschaft aus.
Zur Wahrheit gehört, dass sich in Bremen enorme Gräben auftun. Einerseits gibt es die erwähnten Industriejobs – fair bezahlt, oft gewerkschaftlich organisiert. Auf der anderen Seite ist die Servicebranche mit teils prekären Arbeitsverhältnissen stark ausgeprägt. Dazwischen existiert vergleichsweise wenig. Das hat mit einer Bremer Besonderheit zu tun: Bremen ist das kleinste Bundesland Deutschlands – sowohl, was die Fläche angeht, als auch gemessen an der Zahl der Einwohner:innen. Davon gibt es rund 685.000. Die leben aber nicht alle in der Stadt Bremen, sondern auch in der Stadt Bremerhaven (115.000), ein paar Kilometer die Weser runter an der Nordsee. Das Land Bremen ist nämlich ein Zwei-Städte-Staat – die beiden Städte gehen aber nicht ineinander über, sondern sind durch Niedersachsen voneinander getrennt. Es ist, als würde St. Pölten zu Wien gehören.
Bremen im Sturm globaler Umbrüche
Der Wandel der vergangenen Jahre – etwa der Aufstieg Chinas und neue geopolitische Herausforderungen – hat die zwei Städte unterschiedlich getroffen. „Bremen ist bis heute von den Strukturumbrüchen in der Vergangenheit betroffen: zum einen vom starken Rückgang bei den Werften und zum anderen vom Abzug der US-Truppen aus dem Standort Bremerhaven“, so Rosenthal. Der Untergang der deutschen Jacht- und Schiffsindustrie mit all ihren Zulieferbetrieben hat Bremerhaven sehr viel härter getroffen als Bremen. Eine nachhaltige Lösung fand man bis heute nicht, und die Langzeitarbeitslosigkeit hat sich verfestigt. Im Jahresschnitt 2023 beträgt die Arbeitslosenquote im Land Bremen 10,6 Prozent (41.155 Personen) – der höchste Wert im deutschen Ländervergleich, wobei die Stadt Bremen mit „nur“ 10,2 Prozent zu kämpfen hat, Bremerhaven jedoch mit 14,1 Prozent. Mitten in diesem arbeitsmarktpolitischen Sturm: die Arbeitnehmerkammer.
Enorme Kontaktquote
Unter dem grauen Bremer Winterhimmel duckt sich deren Gebäude eher unter das Stadtbild hindurch, als dass es sich wirklich einfügt. Das historische und einschüchternde Landesgericht direkt gegenüber verstärkt den Eindruck. Doch wer eintritt, wird von wärmendem Licht und einem strahlenden Lächeln empfangen. Gleich neben dem Eingangsbereich beginnen die wechselnden Ausstellungen Bremer Künstler:innen – Fotografien, Zeichnungen, Malerei. Rosenthal empfängt uns im dritten Stock. Vom Besprechungszimmer aus ist man auf Augenhöhe mit der sogenannten Seufzerbrücke des Landesgerichts, benannt nach den Atemgeräuschen der Verurteilten, die früher über sie ihren Gang zur Haft antraten, nachdem die Verhandlung gleich nebenan beendet war. Heutzutage ist sie mehr Foto-Hotspot, denn judikative Institution.
Die Krisen der vergangenen Jahre haben die Bedeutung der Arbeitnehmerkammer verdeutlicht. Es war auch ihren Bemühungen zu verdanken, dass es nicht noch schlimmer kam. „Während der Coronapandemie hat der Bürgermeister eine Sozialpartnerrunde eingerichtet, in der wir gemeinsam Maßnahmen diskutiert und abgestimmt haben. Die Runde haben wir in der Energiekrise fortgesetzt. Jetzt richten wir gerade einen Transformationsrat ein“, so Rosenthal.
Arbeitnehmerkammer Bremen in der Politik dabei
Für die Arbeitnehmerkammer Bremen ist diese Art der Kommunikation mit den Entscheidungsträger:innen aus Politik und Wirtschaft noch wichtiger als in Österreich. Das liegt an einer kuriosen Besonderheit: Zwar sind alle Arbeitnehmer:innen automatisch Mitglied, eine Meldung oder eine Datenbank gibt es aber nicht. Die Institution weiß also nicht, wer ihre Mitglieder sind, wo die Personen arbeiten oder leben und wie sie am besten über ihre Rechte aufgeklärt werden könnten.
Ihren Ruf hat sich die Einrichtung also hart erarbeitet – mit Erfolg: „Wir haben einen relativ hohen Bekanntheitsgrad, gerade bei anderen Anlaufstellen. Wenn die Menschen in der Arbeitswelt auf der Suche nach Rat sind, kommen sie sehr schnell auf uns“, erklärt Rosenthal die Bekanntheit. Herzstück des Erfolgs sind die Beratungen. Davon führt die Arbeitnehmerkammer Bremen jährlich 90.000 bis 100.000 durch – mal per Mail oder telefonisch, aber auch persönlich in der Niederlassung. Angesichts von 400.000 Mitgliedern ist das eine enorme Kontaktquote – selbst wenn viele Menschen mehrfach die Beratung in Anspruch nehmen, bis eine Lösung gefunden ist.
Arbeitnehmerkammer Bremen bietet gehaltvolle Beratung
Kaarina Hauer ist Leiterin der Rechtsberatung. Im Gespräch wird schnell klar, dass bei allen Unterschieden und Sonderwegen die Beschäftigten in Bremen vor den gleichen Herausforderungen stehen wie in Österreich. „Ein Beratungsschwerpunkt ist die Vergütung. Die Beschäftigten bekommen sie entweder nicht oder nicht in der vereinbarten Höhe oder nicht rechtzeitig ausgezahlt. Danach folgen Kündigungen und alles, was damit zusammenhängt. Der dritte Beratungsschwerpunkt sind Arbeitszeit und Urlaub“, fasst Hauer die Arbeit zusammen. Und auch die aktuellen Trends sind die gleichen, etwa die zunehmende Arbeitsverdichtung und deren negative Auswirkungen auf die Gesundheit. Auch in Deutschland gehe eben die Babyboomer:innen-Generation in Pension und hinterlasse personelle Lücken, die häufig nicht geschlossen würden.
Hauer ist Rechtsanwältin. Vor vielen Sätzen macht sie eine kurze Pause, damit die Antworten wohlüberlegt sind. Sie spricht druckreif – etwas, das auch der Job mit sich bringt. Die Materie ist komplex, Präzision deswegen eminent wichtig. Und die Probleme sind oftmals existenzbedrohend. Der große Graben in der Bremer Wirtschaft – Servicejobs auf der einen, Industriejobs auf der anderen Seite – spiegle sich auch in der Beratung wider. Wer prekär beschäftigt sei, käme mit essenziellen Dingen wie dem Gehalt, das gar nicht gezahlt werde, oder verkehrsuntauglichen Bussen zur Paketzustellung. Bei den großen Industrieunternehmen gehe es eher um die Höhe der Ablöse oder Kündigungsfristen.
Beratung für alle
An dieser Stelle wird Hauer etwas emotionaler, auch weil sie zuvor in der freien Wirtschaft gearbeitet hat. Menschen, die prekär arbeiten, können sich häufig keine Rechtsberatung leisten, um gegen Missstände vorzugehen. Hier spielt das keine Rolle, alle werden gleich behandelt – unabhängig von Streitgegenstand und Einkommen. Ein zentraler Aspekt von Hauer und ihren Kolleg:innen (insgesamt 60 Personen arbeiten bei der Arbeitnehmerkammer Bremen in der Beratung) ist es auch, das Angebot so niederschwellig wie möglich zu halten. In komplexen Fällen arbeitet sie mit Dolmetscher:innen zusammen, ein Programm zum Einsatz von Videodolmetscher:innen – um die Beratung zu beschleunigen – läuft gerade. Die Homepage ist mehrsprachig und in leichter Sprache verfügbar.
„Diejenigen, die Sprachbarrieren haben, kommen sehr häufig mit einem:einer Dolmetscher:in aus dem Freundes- oder Familienkreis. Das ist nicht immer glücklich, weil die Themen komplex sind und der:die mitgebrachte Dolmetscher:in häufig selbst Sprachbarrieren hat und zudem keine neutrale Stellung einnimmt. Wir wissen daher nicht immer, was tatsächlich bei den Ratsuchenden ankommt.“ Denn die Gespräche sind oft komplex und umfangreich. Die Ratsuchenden sollen danach eine Güteverhandlung oder die erste Instanz allein bestreiten können. Sie sollen verstehen, woher Rechte kommen, die sie haben, und wie sie funktionieren.
Bremens Zukunftspläne
Der Erfolg ist nur selten sichtbar. Die Menschen gehen beraten und rechtlich informiert zurück zu ihren Unternehmen oder sogar vor Gericht. Ob sie aber Recht bekommen haben, erfahren Hauer und ihr Kolleg:innen nur selten.
Für die Zukunft ist in Bremen ein „3D-Strukturwandel“ geplant. Das Kürzel steht für Dekarbonisierung, Digitalisierung und Demografie. Im Kern geht es um eine Qualifizierungsoffensive im Rahmen eines Transformationsprozesses. Weder für den Hafen noch die Stahlindustrie oder die Auto- und Luftfahrtbranche ist dieser leicht umzusetzen. „Es geht darum, auf Wasserstoff und perspektivisch auf grünen Wasserstoff umzustellen. Das wollen wir mit konkreten Umsetzungsvorschlägen unterstützen und uns auch an der Durchführung beteiligen“, erklärt Rosenthal.
Ob das reicht, bleibt abzuwarten. Es tut sich ein Spannungsfeld zwischen Zukunftsfähigkeit und Jobsicherheit auf. Rosenthal: „Der Hafen steht vor enormen Herausforderungen bei Digitalisierung und Automatisierung, weil die Konkurrenz in Rotterdam und Hamburg hier einen deutlichen Vorsprung hat. Dabei stellt sich nicht nur die Kostenfrage, sondern auch die Frage nach den Perspektiven für die Beschäftigten.“
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Hitlers „schlechteste Stadt im Reich“
Kurzer Abriss der Gründung der Arbeitnehmerkammer Bremen.
Wie so vieles im Norden beginnt auch diese Geschichte im Hafen: Ein Streik der Werftarbeiter:innen im Jahr 1903 eskalierte, nachdem die Firmen zwar die geforderte Pensionskasse eingeführt, aber kurzerhand die Rädelsführer des Streiks rausgeschmissen hatten. Über Monate solidarisierten sich immer mehr Beschäftigte und brachten einen Generalstreik ins Spiel. Es ging dabei auch um das Wahlrecht und die Vertretung der arbeitenden Klasse. Eine zermürbende politische Debatte ohne Fortschritte – unterbrochen von größeren und kleineren Protesten – begann. Immerhin fanden viele Vertreter:innen der Arbeitenden in diesen Jahren den Weg in die Politik.
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 nahmen die Arbeiter:innen und Soldat:innen dann die Politik selbst in die Hand und gründeten eine Räterepublik – ein Spuk, den ausgerechnet Reichspräsident Friedrich Ebert, der zuvor selbst für die Arbeitnehmerkammer gekämpft hatte, mit Waffengewalt beenden ließ. In den folgenden Monaten erhielten Streikende kein Brot, und Stacheldrahtbarrikaden blockierten Plätze und Märkte. Doch die Proteste und der politische Wandel trugen Früchte. Die Arbeitnehmerkammer hielt Einzug in die neue Bremer Verfassung und konnte 1921 gegründet werden. Als dann die Nazis an die Macht kamen, geriet die Kammer in deren Fokus.
Hitler bezeichnete Bremen als „seine schlechteste Stadt im Reich“ und ließ hier SA und Polizei mit besonderer Härte vorgehen. Bei Wahlen in der Arbeitnehmerkammer hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie ein NSDAP-Mitglied auch nur einen Sitz gewonnen – auch nicht bei den Neuwahlen 1933. Die unliebsamen Wahlsieger wurden wenige Monate später aus dem Dienst entfernt und teilweise inhaftiert. Mit Unterstützung der amerikanischen Militärregierung wurde nach dem verlorenen Krieg die Arbeitnehmerkammer Bremen wieder aufgebaut.
- Norddeutsche Weisheit, die einen Sachzwang ausdrückt – auf Hochdeutsch: „Was sein muss, muss sein.“