Das klingt im ersten Moment seltsam: „Es ist nicht so, dass man eine florierende Wirtschaft für einen guten Sozialstaat braucht“, sagt Katharina Mader. Sie ist Chefökonomin des Momentum Instituts. „Sondern umgekehrt: Man braucht einen guten Sozialstaat für eine florierende Wirtschaft.“ Bei genauerem Überlegen steht die Tatsache recht klar vor Augen. Der Sozialstaat sorgt dafür, dass in Krisen nicht gleich die Nachfrage zusammenbricht, dass weniger Firmen in die Insolvenz rutschen, dass Belegschaften nicht sofort entlassen werden müssen und vieles mehr. Der Sozialstaat schafft Wohlstand.
Wie der Sozialstaat Wohlstand schafft
Auch die deutsche Wirtschaftsjournalistin und Bestsellerautorin Ulrike Herrmann formuliert es ganz ähnlich. „Ohne Sozialstaat kann es den Kapitalismus gar nicht geben“, sagt sie. „Zumindest keinen so erfolgreichen wie in den prosperierenden kapitalistischen Wohlfahrtsgesellschaften der vergangenen 120 Jahre.“ Das hängt auch damit zusammen, dass mit der kapitalistischen Wirtschaft eine Form von gesellschaftlicher Modernität einherging. Herrmann: „Der Kapitalismus sprengt Familienbande. Die Menschen sollen mobil sein. Individualismus setzt sich durch – und damit auch das Modell der Kleinfamilie. Dadurch wurde das alte Sicherheitsnetz der Großfamilie zerstört, also brauchte es ein anderes Sicherheitsnetz.“
Der Sozialstaat sorgt dafür, dass in Krisen nicht gleich die Nachfrage zusammenbricht, dass weniger Firmen in die Insolvenz rutschen, dass Belegschaften nicht sofort entlassen werden müssen.
Wirtschaftliche Vorteile
Selbst in liberal-konservativen Kreisen sind sich heute die meisten der Tatsache bewusst. Der Sozialstaat ist nicht nur für diejenigen gut, die auf ihn angewiesen sind – die Unterprivilegierten, die Arbeitnehmer:innen, die einfachen Leute –, sondern für das Gemeinwesen und die Marktwirtschaft selbst. Der Sozialstaat stabilisiert eine in sich instabile Ökonomie. „Ökonomen rehabilitieren Europas Sozialstaat“, titelte vor einigen Jahren das deutsche Handelsblatt, das linker Romantik unverdächtig ist. Anlass war eine langfristig angelegte Mega-Studie. Sie nahm die Lebenserwartung, allgemeine Lebenszufriedenheit, aber auch harte ökonomische Faktoren wie Arbeitsplatzqualität, Lohnentwicklung und Produktivität der Wirtschaft unter die Lupe. Beteiligt waren 150 europäische Ökonom:innen. Das Ergebnis: Der Sozialstaat ist nicht nur moralisch „nützlich“ oder unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten – er ist auch wirtschaftlich von Vorteil.
Die positiven Effekte zeigen sich aber nicht sofort, wie es in der „Sharelife“-Studie hieß, die die Lebensumstände von 28.000 Europäer:innen penibel untersuchte. Besonders stark ist die Wirkung auf eine bessere Gesundheit und eine höhere Lebensqualität der allermeisten Bürger:innen in Sozialstaaten. Auch eine gute Absicherung von Arbeitslosen hat langfristig positive Effekte. Arbeitslosigkeit macht krank und hinterlässt psychische Narben. Sie senkt das Selbstbewusstsein, und wenn die Absicherung fehlt, gibt es viel Druck, auch eine schlechte Arbeit anzunehmen. Ein guter Sozialstaat kann diese langfristigen negativen Effekte „verringern“, so einer der beteiligten Forscher.
Wenn alles der Markt regelt, dann führt das nicht nur zu großen sozialen Ungleichheiten, sondern diese Ungleichheiten selbst sind ökonomisch „ineffizient“. Weil viele Menschen dann ihre Talente nicht entwickeln können und weil, wenn Arbeitslosigkeit mit sozialem Absturz verbunden ist, die Produktivität selbst sinkt, da dann viele Menschen dequalifiziert werden. Der Sozialstaat ist also auch ein ökonomischer „Standortvorteil“.
Mehrwert des Sozialstaats
Aber was ist das überhaupt genau, der Sozialstaat? Spontan denkt man an ein paar wesentliche Eckpunkte. Eine Mindestsicherung, die vor dem totalen Absturz schützt und das unterste Sicherheitsnetz bildet. Dazu die verschiedenen Institutionen der Sozialversicherung, also Arbeitslosenversicherung, Pensionsversicherung, Krankenversicherung. Das wäre aber eine viel zu enge Vorstellung vom Sozialstaat. „Es gibt eine Philosophie des Sozialstaats“, sagt Momentum-Forscherin Katharina Mader. „Er ist nicht nur ein Auffangnetz. Er hat auch eine Wohlfahrts- und Umverteilungsfunktion. Der Sozialstaat wurde aufgrund von Gerechtigkeitsnormen entwickelt, setzt sie aber zugleich auch selbst.“ Soll heißen: Verbreitete Vorstellungen von Gerechtigkeit haben geholfen, den Sozialstaat durchzusetzen, aber er beeinflusst zugleich auch, was wir als „gerecht“ ansehen.
Zum Sozialstaat im weiteren Sinne gehören daher ebenso ein öffentliches Bildungssystem, das gratis und gerecht ist und allen gleiche Chancen bietet, sowie die Kindergärten und das Pflegesystem. Auch ein gerechtes Steuersystem mit einer progressiven Einkommensteuer ist Teil des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements. Ebenso Familienleistungen, die nicht nur die Ärmsten bekommen, aber auch eine Wohnbauförderung und der kommunale oder gemeinnützige Wohnbau, der dafür sorgen soll, dass Wohnkosten leistbar bleiben. Ulrike Herrmann: „Auch hier gilt: Wenn die Menschen keine bezahlbaren Wohnungen mehr finden können, gibt es für die kapitalistischen Unternehmungen keine Arbeitskräfte mehr.“ In Regionen mit Fachkräftemangel und hohen Wohnungspreisen weiß man mittlerweile längst, dass das kein fiktives Problem ist.
Automatisch stabilisierend
In der ökonomischen Fachwelt nennt man viele dieser Mechanismen „automatische Stabilisatoren“, weil sie Ausschläge der Konjunkturzyklen abschwächen. Geht die Arbeitslosigkeit hoch, steigen die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung – und die Konsumnachfrage geht nicht eklatant zurück. Und all das geschieht „automatisch“, ohne dass die Regierung ein Gesetz oder Konjunkturprogramm beschließen müsste.
„Der Sozialstaat schafft eine Stabilisierung der Erwartungen“, sagt Markus Marterbauer, Chefökonom der Arbeiterkammer. Er trägt dazu bei, den Menschen die Angst zu nehmen, und das hat ganz direkte Auswirkungen, etwa auf die Konjunktur. Denn je schlechter die Zukunftserwartungen der Menschen, umso mehr werden sie sparen – und dann bricht die Nachfrage ein. „Aber die Stabilisierung der Erwartungen stabilisiert auch die Demokratie.“ In der gegenwärtigen Inflationsphase haben die Menschen „mit Recht Angst, etwa die Angst vor Armut oder Abstieg“. Das ist Gift für die Demokratie. Neoliberale schüren nicht selten diese Angst. Angst wird eingesetzt, um die Menschen bei der Stange zu halten, entsprechend der Maxime: Spure, lass mit dir alles machen, denn beim kleinsten Fehler fliegst du aus der Kurve.
Sozialstaat und Wohlstand: Vermögen der einfachen Leute
Die Institutionen des Sozialstaats geben Sicherheit – im Fall von Krankheit, Unfall, Alter und so weiter. Schlaue Gesellschaftsanalytiker:innen haben erkannt, dass das eine Aufgabe ist, die bei den Reichen deren Vermögen erfüllt. Wer Millionen auf dem Konto hat, der:die darf sich sicher fühlen, welch Unbill auch immer seinen:ihren Weg kreuzen mag. Der Sozialstaat ist daher gewissermaßen das „Vermögen der einfachen Leute“.
Der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel hat auf diesen wichtigen Aspekt des Sozialversicherungssystems hingewiesen, indem er sich Gedanken darüber machte, welche Rolle Finanzvermögen (und andere Vermögensarten) in unserer Gesellschaft spielen. Sie geben Sicherheit. Und mit der Sicherheit geht Autonomie einher. Wer vermögend ist, der ist gegen Widrigkeiten abgesichert, kann also auch etwas wagen. Und genau diese Rolle spielen die Sozialversicherungen für jene, die nicht vermögend sind – oder besser: die bisher nicht vermögend waren. Castel: „Kann es so etwas wie ein Vermögen geben, das nicht privater Natur ist und doch einer Person zugeschrieben wird, das also sozial ist, aber privatem Nießbrauch offen steht? Dieser Stein der Weisen […] hat sich schließlich finden lassen. Es sind die Leistungen der Pflichtversicherungen: ein Vermögen, dessen Ursprung und Funktionsregeln sozialer Natur sind, das aber die Funktion eines privaten Vermögens erfüllt.“
Risiken eingehen, dank Absicherung
Diese Ansprüche des:der Einzelnen aus Sozialversicherungen sind, so Castel, „eine andere Eigentumsform, die nicht wie Geld zirkuliert und sich nicht wie eine Ware tauschen lässt.“ Das ist schon ein seltsames Eigentum, eine eigene Art von Vermögen. Es ist ein Vermögen, das ich aber, im Unterschied zum Geld auf dem Sparbuch, nicht heute schon ausgeben kann. Und ich kann es, anders als etwa eine Immobilie, nicht heute schon einem:einer anderen für einen bestimmten Gegenwert übertragen. Ich kann damit nicht handeln.
Aber es hat dennoch genau die Wirkung, die früher allein die Vermögenden genießen konnten. Es sichert ab und ermöglicht daher, Risiken einzugehen, sich zu erproben, nicht in jedem Moment auf maximale Sicherheit achten zu müssen. Castel spricht vom „Sozialvermögen“.
Ohne Sozialstaat kann es den Kapitalismus gar nicht geben,
zumindest keinen so erfolgreichen wie in den kapitalistischen
Wohlfahrtsgesellschaften der vergangenen 120 Jahre.
Ulrike Herrmann, deutsche Wirtschaftsjournalistin
Das Griechen-Paradox
Das hat manchmal auch eigentümliche Folgen. So haben etwa gute Sozialstaaten sehr häufig eine im Vergleich zu anderen Nationen relativ gerechte Einkommensverteilung, aber eine hohe Vermögensungleichheit. Der wirtschaftsliberale Ökonom Rudi Bachmann dazu: „Gesellschaften mit sehr gutem Sozialstaat, guter Altersvorsorge und mieterfreundlichem Mietrecht weisen empirisch oft eine hohe Vermögensungleichheit auf.“ Warum das so ist, ist leicht verständlich. Wenn es keinen Wohlfahrtsstaat gibt, muss man sehr viel Geld auf die Seite legen und selbst für Notfälle sparen – für das Alter, für den Fall von Krankheit. In Ländern mit günstigen Mieten und guten Gemeindebauten leben viele Menschen in Mietwohnungen.
Wo es das nicht gibt, haben mehr Leute ein eigenes Häuschen oder eine Eigentumswohnung. Oft führen diese Menschen ein schlechteres Leben, haben aber mehr „Eigentum“. Und deshalb kann die Vermögensstatistik in solchen Ländern egalitärer sein als in Wohlfahrtsstaaten. Das führt mitunter zu skurrilen statistischen Messeffekten. Etwa dass die Griechen im Durchschnitt reicher sind als die Deutschen.
Anspruch mit Haltung
Trotz der vielen unbestreitbaren positiven Effekte sind die verschiedenen Institutionen des Sozialstaats immer wieder Angriffen ausgesetzt – etwa dass die Finanzierungskosten zu hoch seien, Arbeit verteuert und damit Wachstum gebremst würde. Gerne wird lamentiert, es gäbe eine „soziale Hängematte“, in der es sich Faulpelze bequem machen würden. Pflichtversicherungen und gesetzliche Kassensysteme würden die Bürger:innen auch „entmündigen“, war ein berühmtes neoliberales Antisozialstaatsargument. „Was für eine Vorstellung von Mündigkeit steckt dahinter, wenn von ‚Entmündigung‘ der Bürger die Rede ist, weil diese vor weniger Schicksalsschlägen auf der Hut sein müssen?“, fragten Herbert Ehrenberg und Anke Fuchs schon vor bald 50 Jahren in ihrem Buch „Sozialstaat und Freiheit“.
Aber die Sozialstaatsgegner:innen können sich mitunter auch auf durchaus verbreitete Gerechtigkeitsnormen stützen. Und auch auf Werte, die in den arbeitenden Klassen verbreitet sind. Solche Werte und Normen sind beispielsweise: Allen soll geholfen werden, die es wirklich brauchen, aber niemand soll ein „Freispiel“ haben und es sich „auf Kosten anderer“ bequem machen. Um Ansprüche zu haben, muss ich auch etwas leisten usw.
Die Angriffe auf den Sozialstaat sind in multikulturellen Gesellschaften einfacher, weil mit Ressentiments operiert werden kann.
Konfliktfall: Menschenbilder
„Es gibt eine hohe Zustimmung zum Sozialstaat“, sagt die Sozialwissenschaftlerin Carina Altreiter, die vor einiger Zeit in einem Forschungsteam eine große Studie über die verschiedenen Solidaritätskulturen in Österreich gemacht hat. „Die meisten Leute finden, dass der österreichische Sozialstaat wichtig ist, dass man auf ihn stolz sein kann, darauf, dass man sich bei uns um die Menschen kümmert.“ Doch unterschiedliche Gruppen haben sehr unterschiedliche Haltungen, was damit konkret gemeint ist.
Verstärkt wird das noch durch unterschiedliche Logiken der verschiedenen Instrumente des Sozialstaats. Arbeitslosen- und Pensionsversicherung entsprechen dem Reziprozitätsprinzip. Für die Einzahlungen steht einem also ein entsprechender Anspruch zu, also für die Beiträge eine Leistung. Dann gibt es jene Sicherheitsnetze, die einer ganz anderen Logik folgen, etwa die Mindestsicherung oder Wohnbeihilfen. „Hier gilt eine Bedarfsgerechtigkeit“, sagt Altreiter – und nicht so sehr das Leistungs- und Reziprozitätsprinzip. Diese Widersprüchlichkeit haben sich Rechte und Konservative in den vergangenen Jahrzehnten reichlich zunutze gemacht und getrommelt, der Sozialstaat würde die Menschen „verweichlichen“. Und irgendwelche Trittbrettfahrer:innen würden sich durchschummeln.
Politisches Spiel mit Ressentiments
Letztendlich, so Carina Altreiter, gibt es hier auch „einen Konflikt verschiedener Menschenbilder“. Altreiter: „Ich denke, die Menschen haben ein Interesse an Partizipation, sie wollen etwas tun, sie wollen einer Arbeit nachgehen, auch deshalb, weil die Erwerbslosigkeit mit Stigmata verbunden ist, aber auch, weil sie mit anderen kooperieren wollen.“ Die kleine Minderheit, die paar wenigen, die das ausnützen, fallen nicht so sehr ins Gewicht. „Wenn man aber ein eher negatives Menschenbild hat, wenn man davon ausgeht, dass die Menschen faul sind, sich jeden Vorteil ertricksen würden, dann nimmt man eher an, dass man sie mit Daumenschrauben zwingen muss, etwas zu arbeiten, weil sie sonst in der Mehrzahl ‚arbeitsunwillig‘ wären.“ Menschenbilder und mit ihnen verbundene Gerechtigkeitsnormen sind somit in der Sozialstaatsdebatte zentral.
Schwer ignorieren kann man auch das Faktum, dass Bande der Solidarität im Nahbereich leichter entsteht als über weite Distanzen hinweg. Dass sie in Gesellschaften, in denen sich die Menschen als „ähnlich“ empfinden, tragfähiger sind. In ethnisch oder sprachlich homogenen Gesellschaften sind Sozialstaaten leichter entstanden. Je mehr Diversität, umso schwieriger. Die Angriffe auf den Sozialstaat sind in multikulturellen Gesellschaften einfacher, weil mit Ressentiments operiert werden kann. Weiße Arbeiter:innen konnte man in den USA besonders leicht gegen Sozialhilfe mobilisieren. Weil man behauptete, sie käme vor allem faulen alleinerziehenden schwarzen Müttern zugute. Ökonom:innen halten das für den Hauptgrund, warum die USA nur einen „halben“ Sozialstaat ausbauen konnten.
Weniger Wachstum, weniger Soziales?
Der Sozialstaat, wie er sich in den vergangenen 150 Jahren entwickelt hat, beruht auf ökonomischem Wachstum und mehr Wohlstand. Und leistet seinerseits einen großen Beitrag zum Wohlstandszuwachs. Aber was, wenn angesichts von Klimakrise und größerer globaler Gerechtigkeit die Zeit der Zuwächse vorbei ist? Manche Expert:innen hoffen zwar auf „grünes Wachstum“, dass der Umbau der Energiesysteme auf erneuerbare Energien und die Umrüstung der Industrie auf Nachhaltigkeit einfach zu einem „anderen Wachstum“ führen würden. Ulrike Herrmann hält das jedoch für abwegig. Wir werden ums Schrumpfen nicht herumkommen und uns mit weniger begnügen müssen.
Keine arge Askese, aber dass es stets mehr zu verteilen gibt, das können wir uns ihrer Ansicht nach in Zukunft abschminken. „Wenn die Einkommen schrumpfen, müssen natürlich auch die Sozialleistungen schrumpfen – das hat aber eine Grenze nach unten.“ Und wenn knappe Ressourcen gerecht verteilt werden sollen, dann, so Herrmann, „wird das über die Preismechanismen nicht mehr gehen, weil dann füllen sich die Reichen bei Wasserknappheit ihren Pool, während die Armen nichts mehr zu trinken haben“. Das kann bei einigen Güterarten zu einer „extremen Form des Sozialstaats führen, nämlich der Rationierung: Der Reiche bekommt genauso viel wie der Arme.“