Arbeit & Wirtschaft: Was sind die Kernaussagen des aktuellen Strukturwandelbarometers aus Ihrer Sicht?
Stefan Friesenbichler: Zunächst zur Erklärung: Es gibt immer einen Basisteil und einen jeweiligen Schwerpunkt. Das war dieses Mal die sozio-ökologische Nachhaltigkeit. Im Teil, den wir immer abfragen, sehen wir den hohen Arbeitsdruck noch immer als entscheidend. Zwei Drittel der befragten Betriebsrät:innen sagen, dass dieser immens hoch ist. Das führt in weiterer Folge zu schlechter werdendem Arbeitsklima und -bedingungen. Es ist mit ein Faktor hinsichtlich des Facharbeiter:innenmangels, weil das Arbeiten nicht attraktiv ist. Der zweite Schwerpunkt zeigt erstens, dass die ökologische Nachhaltigkeit erst durch wirtschaftliche Notwendigkeit passiert oder es entsprechende öffentliche Förderungen gibt. Ein Beispiel sind Fuhrparks: Erst wenn es aus finanziellen Gründen notwendig und durch eine Förderung attraktiv ist, wird dieser nachhaltiger. Zweitens sehen wir in puncto soziale Nachhaltigkeit, dass man andere, oft wirtschaftliche Probleme zuerst behebt und dadurch weniger darauf schaut, wie es den Arbeitnehmer:innen besser gehen kann.
Was sind die konkreten Folgen daraus?
Willi Mernyi: Ich zitiere dazu eine Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO). Vor ein paar Jahren haben sie eine namens „Wirkmodell Krankenstand“ gemacht. Da kommt klar heraus, dass viele Krankenstände ihre Ursache am Arbeitsplatz haben. Also sagt nicht nur „die Gewerkschaft“, dass uns das gegenwärtige Arbeiten krank macht, sondern auch das WIFO. Wenn ich das mit den Aussagen von Herrn Friesenbichler verbinde, sehe ich Folgendes: Zunächst wurde geglaubt, dass der in der Pandemie entstandene Druck „nach“ Corona wieder abnimmt. Der Druck ist aber nach wie vor immens, stark spürbar und macht die Menschen nicht glücklich.
Das heißt: In einem kleinen Betrieb, mit 20 Beschäftigten, arbeiten alle viel, eine:r wird krank, die anderen 19 müssen einspringen, dann wird der nächste krank und so weiter…
Mernyi: Es ist genau so, wie sie das beschreiben. Aber nicht nur innerhalb eines Betriebes. Ich kenne beispielsweise eine Gemeinde in Oberösterreich, da gibt es vier Wirtshäuser, häufig kommen Touristenbusse vorbei. Die Gasthäuser finden grundsätzlich wenig Personal, helfen sich aber gegenseitig. Aber irgendwann geht sich das nicht mehr aus und einer sperrt zu. Die Gastronomie ist überhaupt ein gutes Beispiel für den Arbeitsdruck. Die Beschäftigten gehen gar nicht mehr von einer Arbeitsstelle zur nächsten, um eine Verbesserung hinsichtlich Arbeitsdruck zu erreichen, sondern verlassen die Branche.
Ist eine Gruppe auf Basis der Untersuchung vom Arbeitsdruck besonders betroffen?
Friesenbichler: Nachdem zwei Drittel der Betriebsrät:innen angibt, dass der Druck zu hoch ist, kann man sagen, dass es flächendeckend ist. Und über alle Berufsgruppen hinweg zu registrieren ist. Aber dieses von Herrn Mernyi erwähnte ‚Hut draufhauen‘, muss man sich auch einmal leisten können. Menschen, die finanziell schlechter gestellt sind, trifft der Arbeitsdruck natürlich mehr, weil sie wegen niedriger Qualifikation oder schlechter Bezahlung nicht so leicht mehrere Monate etwas anderes suchen können. Für sie ist das wie ein Gefängnis, sie müssen sich dem Druck aussetzen, kommen nicht raus und sind somit in einer sich nach unten drehenden Spirale.
Sprich: Es trifft die Schwächsten eher?
Friesenbichler: Der Druck betrifft alle, von Hochverdiener:innen bis zu jenen mit nominell niedriger Ausbildung. Es ist ein Arbeitsweltphänomen, das wir in der Form noch nicht beobachtet haben.
Was wären die ersten, akuten Lösungen, um den Druck herauszunehmen?
Mernyi: Es muss zu einem prinzipiellen Umdenken kommen. Nehmen wir das allgegenwärtige Thema Nachhaltigkeit her. Jeder weiß, wie wichtig es ist. In Betrieben redet man in dem Zusammenhang über das Klima, die Produktion, die Lieferketten. Selten höre ich etwas von sozialer Nachhaltigkeit. Viele Arbeitnehmer:innen klagen über mangelnden Respekt, den man ihnen gegenüber an den Tag legt. Es gibt keine Einzelmaßnahme oder mehrere Schrauben, an denen man drehen kann. Es ist eine generelle Frage, ob ich Mitarbeiter:innen respektvoll behandle oder nicht. Wir müssen darüber nachdenken, was Wertschätzung in der Arbeitswelt bedeutet. Da geht es um banale Geschichte. Wenn der Schichtplan alle zwei Tage vorher gemacht wird, kann niemand sein Leben planen. Das ist eben keine Frage von Koordination oder Organisation im Betrieb, sondern geschieht aus dem mangelnden Respekt gegenüber den Arbeitnehmer:innen. Das ist ein wesentlicher, globaler Punkt, den man beachten muss, ohne sich in Einzelmaßnahmen zu verheddern. Das nächste ist die Arbeitszeitfrage. Wenn ich mir die Unternehmen anschaue, die von sich aus weniger Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich anbieten, machen sie das, weil sie die besseren, gesünderen und motivierteren Mitarbeitenden dadurch haben. Da frage ich mich schon, warum das bei einer Diskussion um soziale Nachhaltigkeit nicht das Hauptthema ist.
Bleiben wir noch kurz beim Respekt. In erster Linie sollen ein menschlicher Umgang und das, was rechtlich schon gilt, einmal konsequent umgesetzt werden?
Friesenbichler: Wenn in der Arbeitswelt alle unter Strom stehen, wird die E-Mail kürzer, der Ton rauer. Es passiert so viel zwischenmenschlich, dass das Arbeitsklima verschlechtert. Genau das sehen wir auch im Strukturwandelbarometer. Der Umgang untereinander ist aber auch eine Führungssache: Wie kann ich den Druck auf mehrere Schultern verteilen, wie kann ich innovativ tätig sein? Prozesse zu reflektieren, braucht aber auch Zeit. Arbeitsdruck ist ein Symptom, das viel darüber erzählt, warum es in der Arbeitswelt nicht rosig läuft.
Zur sozialen Nachhaltigkeit gehört auch die Altersstruktur dazu. Wer muss darauf achten, dass genügend Nachwuchs nachkommt, wenn geburtenstarke Jahrgänge in Pension gehen?
Friesenbichler: Die Altersteilzeit ist ein gutes Modell, das leider oft nicht angewandt wird. In unseren Umfragen geben schon viele 30-Jährige an, dass sie nicht davon ausgehen, gesund in diesem Ausmaß bis zur Pensionierung arbeiten zu können. Es braucht Modelle, um das Know-how im Betrieb zu lassen, aber die Arbeitslast senken, dass man bis zum Regelpensionsalter arbeiten kann. Hier orte ich Verbesserungsbedarf.
Es gibt viele Ansätze, um den Arbeitsdruck zu verringern, zum Teil schon in der Realität, wie etwa die sechste Urlaubswoche, die Viertagewoche und so weiter. Die Arbeitszeitverkürzung hat gegenwärtig keine parlamentarische Mehrheit. Also plakativ gefragt: Welche Maßnahme müsste die Regierung sofort umsetzen, damit sich der Druck verringert?
Mernyi: Ich möchte mich nicht auf Viertagewoche oder mehr Urlaub festlegen. Für alle Branchen in allen Bereichen die passende Antwort zu finden, ist unmöglich. Ein Beispiel: Eine große Vorarlberger Firma hat über 150 verschiedene Arbeitszeitmodelle. Jetzt kann man nicht hergehen und das, das und das machen. Das ist Blödsinn! Man muss sich das für jede Branche und jeden Bereich ansehen. Die Frage der Arbeitszeitverkürzung ist zentral, egal welche Partei sich dieser annimmt. Die Wirtschaft sagt sowieso immer: Dann gehen wir in Konkurs, die ist noch bei jeder Arbeitszeitverkürzung in Konkurs gegangen. Wir sehen die Gewinne der Unternehmen einerseits und den Druck der Beschäftigten andererseits. Da ist klar, dass wir bei der Arbeitszeit etwas machen müssen. Was ich nicht ganz verstehe: Jeder kann Zahlen lesen. Im öffentlichen Dienst gehen in den kommenden Jahren 20 Prozent der Beschäftigten in Pension. Vom Akademiker bis zu einfacheren Tätigkeiten. Wenn die in Person gehen, werden die nachkommen, die jetzt woanders arbeiten. Etwa von der Gastro zum Zoll. Da „entvölkern“ sich die Branchen und wir merken das in der Gastronomie: Dort will niemand mehr arbeiten, weil die Arbeitsbedingungen so schlecht sind. Natürlich geht es auch um Bezahlung, aber wenn der Druck so hoch ist, machen dich ein paar Euro mehr auch nicht glücklich.
Die Benefits einer Arbeitszeitverkürzung sind wissenschaftlich gut untersucht. Warum kommt sie nicht? Warum regieren Regierungen nicht?
Mernyi: Es ist eine generelle Haltung, dass der Wirtschaft zu überlassen und dann wird es schon funktionieren. Wohin uns das führt, sehen wir beispielsweise bei der Inflation. Man lässt es laufen und hofft, der Markt regelt das schon. Aber der Markt scheißt uns grad was. Wenn Politik nicht mehr eingreift, frage ich mich, wofür ich überhaupt wähle. Ich bin schon wirklich angefressen, weil man es nur treiben lässt. Was ich bei der Arbeitszeit nicht verstehe, ist, dass wir in anderen Bereichen nicht so wissenschaftsfeindlich sind. Ich verstehe es nicht. Es liegt ja alles am Tisch. Die Firmen, die eine Arbeitszeitverkürzung machen, feiern ja auch Erfolge.
Friesenbichler: Die Gewichtung in der Politik ist eine andere. Es wird mit Emotionen gespielt, der nächste Aufreger gesucht, man will Lager geschaffen. Konstruktiv an der Sache arbeitet man nicht.
„In Branchen oder Unternehmen mit Betriebsrat sehen wir weniger instabile oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse“: @ifes_at-Meinungsforscherin @EvaZeglovits erklärt im großen Interview, warum Betriebsräte gerade jetzt Gold wert sind.https://t.co/I32OAz8qya
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) October 30, 2023
Kann man davon ausgehen, dass die Unternehmen hier eher tätig werden als die Politik, vor allem, weil es nicht mehr geht?
Friesenbichler: Es gibt eigentlich noch mehr wirtschaftlich positive Faktoren, warum es gut ist, Menschen lange im Unternehmen zu haben. Mit jedem Jahr wird jede Arbeitnehmer:in produktiver. Man kennt seinen Job und ist schneller, kann Kanäle besser nutzen. Im ersten Jahr im Beruf findet man sich im Endeffekt nur zurecht. Je länger man dabei ist, desto produktiver wird man. Gute Arbeitsbedingungen, wie etwa eine kürzere Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich, erhöhen die Rentabilität. Es sollte im wirtschaftlichen Interesse der Unternehmen stehen.
Abschließend: Wenn wir die Arbeitszeitverkürzung umsetzten, wird das auch im Strukturwandelbarometer bemerkbar?
Mernyi: Mit Sicherheit. In dem Fall vertraue ich der kapitalistischen Logik: Wenn in einer Branche einer anfängt, dann hat dieses Unternehmen Zulauf. Noch eine Geschichte zum Abschluss: Ich fahre neulich nach Amstetten, fährt ein Auto eines Malereibetriebs vorbei. Der hatte keine Website draufstehen, aber „Wir haben die 4-Tage-Woche“. Die 4-Tage-Woche funktioniert also auch in der Bauwirtscht. In Ybbs fährt er zur Tankstelle, ich hinten nach und frage ihn, warum er das macht. Er meint: „Ich hole mir die Besten, muss nicht jeden nehmen. Wir schaffen dasselbe, wie mit einer 5-Tage-Woche, meine Angestellten sind happy.“ Das wird sich durchsetzen.