Für den entwicklungspolitischen Verein des ÖGB „Weltumspannend Arbeiten“ war es eine Begegnungsreise mit Erinnerungswert. Im Nachklang der desaströsen Auswirkungen der griechischen Schuldenkrise entschloss sich der global engagierte Verein, im Jahr 2012 die „Klinik der Solidarität“ in Thessaloniki zu unterstützen. Ein Schritt, der einerseits ganz konkrete Hilfe leistete. Und andererseits mit einer Kampagne über die katastrophalen Folgen der Spar- und Austeritätspolitik in Europa informierte. Der Preis eines ausgeglichenen Haushalts zulasten der arbeitenden Menschen sind verarmte Schulen, geschlossene Spitäler und unzählige Arbeitslose. Im November 2013 besuchten im Rahmen einer ersten Solidaritäts- und Studienreise 24 Gewerkschafter:innen die Klinik und lernten darüber hinaus die immer prekärer werdende, wirtschaftliche wie soziale Lage der Griech:innen hautnah kennen. Eine zweite Reise folgte im April 2014 und mit deutlich größerem Abstand entschloss man sich dazu, eine dritte Reise im November 2022 zu organisieren. Es war für Weltumspannend Arbeiten eine Visite bei alten Bekannten.
Holen, was uns zusteht
Wie jede Krise war auch die griechische Staatsschuldenkrise nicht nur eine Zeit verheerender Entwicklungen für das Gros der Menschen. Sondern auch eine Phase, in welcher sich Alternativen zum bestehenden System auftaten. Griechenland wurde, etwas pathetisch artikuliert, über Nacht zur Nation der Arbeiter:innenselbstverwaltung. Binnen kürzester Zeit eröffneten die Arbeiter:innen geschlossener Unternehmen mehrere Tausend Genossenschaften. Betriebe also, in welchen die arbeitenden Menschen sich selbst verwalten. Optimist:innen zählten zum Höhepunkt etwa 8.000 solcher Versuche.
Freilich war diese Entwicklung primär auf die ohnehin bereits fragile Landwirtschaft konzentriert. Doch auch Industriebetriebe blieben nicht von den Auswirkungen der Krise verschont. Einer dieser Betriebe war Filkeram-Johns, ein in Thessaloniki bekannter Hersteller von Fliesenkleber. Über ein Jahr lang hatten die Arbeiter:innen in der Krise kein regelmäßiges Gehalt mehr überwiesen bekommen. Über Nacht standen sie dann vor verschlossenen Türen und damit vor einem privaten Scherbenhaufen. Der Schock saß tief, doch einige ließen sich davon nicht entmutigen. So entstand – im Verbund mit linken Gruppen in Thessaloniki – die Idee, den Betrieb einfach zu besetzen. Die ursprünglichen Besitzer:innen würden den Arbeiter:innen sowieso bereits Hunderttausende Euro schulden, weshalb sich also, so die Logik dahinter, nicht einfach selbst holen, was einem zustünde?
Basisdemokratie und Selbstverwaltung
Aus Filkeram-Johns wurde Vio.Me, eine selbstverwaltete Seifenmanufaktur. Man nutzte das vorhandene Know-how und die Maschinen, um statt Fliesenkleber ein Produkt herzustellen, das jede:r im Alltag benötigt. Die an allen Ecken aufkommenden landwirtschaftlichen Kooperativen ermöglichten es überdies, die Rohstoffe von dort zu beziehen, also ganze Lieferketten selbstverwaltet zu organisieren. Im Rahmen dieser Umorientierung wollte man auch die vorhandenen hierarchischen Strukturen überwinden und den Betrieb basisdemokratisch verwalten. Anstatt Vorgesetzter und Chefs sollte es Plena, Versammlungen und rotierende Arbeitsbereiche geben. Sie sollten für Abwechslung, Eigenverantwortung und Gleichberechtigung sorgen. Niemand wollte sich bei Vio.Me noch von oben herab behandeln lassen. Auch auf die Akkumulation von Profit sollte verzichtet werden.
Vielmehr war es den Arbeitenden ein Anliegen, mit Projekten wie einer Bäckerei oder einer Klinik den verarmten Teilen der Bevölkerung Thessalonikis eine Perspektive zu bieten, wie man sie ja selbst in diesem Projekt gefunden hatte. „Ich habe selten einen solchen Geist der Solidarität und des Zusammenhalts gespürt“, berichtet Iris Stern. Sie ist Teilnehmerin der letzten Solidaritätsreise und Mitarbeiterin des ÖGB. Ein Versuch, welcher zunächst von umfassender medialer Aufmerksamkeit und landesweiter Begeisterung flankiert wurde. Bis die eigentlichen Besitzer:innen öffentlich ihre Fabrik zurückverlangten. Die etwas über 20 Personen von Vio.Me sehen sich seither konstanter Angriffe der ursprünglichen Eigentümer:innen ausgesetzt. Mehr als einmal versuchten die, Fabrik, Grund und Maschinen zur Zwangsversteigerung zu bringen. Der jüngste dieser Versuche erfolgte Ende September 2023.
Mit einigem medialen und aktivistischem Bahö konnte das Ende von Vio.Me bisher vermieden werden. Zu ihrem eigenen Schutz etablierte das Projekt eine in Schichten eingeteilte Nachtwache, um Überfälle der Dunkelheit zu vermeiden. „Es ist eine gewisse Form der Utopie, die im Kleinen Wirklichkeit wird. Umso spannender war es, diese neue Wirklichkeit einer Fabrik unter Arbeiter:innenkontrolle live zu erleben. Die Solidarität der Kolleg:innen sowie die Bereitschaft, ihre Sache mit allen Mitteln zu verteidigen, war beeindruckend“, so Michael Wögerer von Weltumspannend Arbeiten. Nach all den Jahren ein intensiver, auch persönlicher Austausch, der beiden Seiten Hoffnung und Inspiration für die eigene Arbeit gab.
Wer bei Mondragón arbeitet, ist auch Eigentümer:in
und kann über die Abläufe im Betrieb mitbestimmen.
Mondragón: Geboren aus dem Bürgerkrieg
Es gibt sie also, die positiven Erfahrungen funktionierender Arbeiter:innenselbstverwaltung. Die Frage ist jedoch, wie sich dieses Konzept in größerem, gar internationalem Maßstab bewährt. Ob Kooperativen in der Konkurrenzgesellschaft überlebensfähig sind. Eine rhetorische Frage, deren Beantwortung kurz ausfällt. Internationales Aushängeschild ist die Kooperative Mondragón im spanischen Baskenland. Lokalisiert in der gleichnamigen Ortschaft und nahe von Guernica gelegen. Seine Ursprünge hat das Unternehmen im spanischen Bürgerkrieg. Nach dem Sieg der Francoisten wollte ein Pfarrer in den frühen 1940er-Jahren die tiefen Gräben der Nachbürgerkriegsgesellschaft durch gemeinsame Arbeit zuzuschütten.
Ein selbstverwalteter Industriebetrieb samt angeschlossener Schule für die Kinder war die Lösung sein. Wer bei Mondragón arbeitete, war zugleich Besitzer:in und durfte gleichberechtigt mitbestimmen. Die hergestellten Industriemaschinen waren erfolgreich und so wuchs Mondragón nicht nur zu einem der erfolgreichsten Unternehmen Spaniens heran, sondern zu einem global agierenden Konzern. Inzwischen sind nicht nur eine Konsumgenossenschaft, also ein Supermarkt, Universitäten und eine Bank Teil des Mondragón-Universums, sondern insgesamt über 80.000 Arbeiter:innen. Das erschwert die basisdemokratische Verwaltung und so etablierte sich ein hierarchisches System.
Mondragón: Utopie mit Wermutstropfen
Mondragón ist heute nicht nur ein Betrieb, sondern ein Konglomerat. Ein Zusammenschluss unterschiedlicher Genossenschaften. Sie alle halten sich an die gleichen Grundsätze: Wer bei Mondragón arbeitet, ist auch Eigentümer:in und kann über die Abläufe im Betrieb mitbestimmen. Jene Betriebe, die Teil des Konglomerat sind, wählen kollektiv ihre Vertreter:innen. Diese kommen regelmäßig zusammen und beschließen nach Rücksprache in den Teilgenossenschaften, wohin sich das ganze System entwickeln soll. Transparenz, Partizipation und das Gemeinwohl sind dabei immer oberste Leitprinzipien. Den Teilbetrieben steht es überdies frei, sofern sie sich demokratisch dazu entscheiden, den Zusammenschluss zu verlassen und sich anders auszurichten.
Die Gewinne werden umfassend in soziale Projekte, in Umweltkampagnen und die Universität investiert. Eine Utopie im Großen, mit einigen Wermutstropfen. Wer nämlich tatsächlich bei Mondragón mitbestimmen und Teil der Genossenschaft werden will, muss dafür Anteile erwerben. Diese kosten mehrere Tausend Euro. Zwar gibt es die Investition bei einem Ausstieg mitsamt einer Gewinnbeteiligung zurück, der Einstieg wird ist dadurch aber nicht niederschwellig. Auch, wenn man den Betrag in Raten vom eigenen Lohn abbezahlen kann. Hinzu kommt, dass Mondragón inzwischen Anziehungspunkt für Start-ups aus Kalifornien ist. Internationale Studien, die auch die Universität Innsbruck durchführt, ergaben, dass selbst die kleinste, nur scheinbar vorhandene Möglichkeit zur betrieblichen Mitbestimmung die Produktion signifikant steigert. Eine konkrete Utopie also mit Potenzial dazu, kapitalistisch integriert zu werden und damit ihr transformatorisches Element zu verlieren.
Anmerkung der Redaktion: Wir möchten darauf hinweisen, dass Mondragón keine Gewerkschaftsorganisation hat und auch alle Ansätze bis heute unterbunden wurden.