Die neue Pflegelehre: Wie Jugendliche Politikversagen ausbaden sollen

Eine Pflegerin sitzt auf dem Boden einer Klinik. Sie hat ihre Arme verschränkt, auf ihre Knie gelegt und ihr Blick geht nach unten. Symbolbild für die Pflegelehre.
Die neue Pflegereform soll's richten: Die Regierung will bereits 15-Jährige zu Pfleger:innen ausbilden lassen. | © Adobestock/D Lahoud/peopleimages.com
Österreich braucht Pflegekräfte und eine neu geschaffene Lehre soll Abhilfe schaffen. Zu Ende gedacht ist diese Reform aber nicht.
Im Herbst startet die neue Pflegelehre in vier Berufsschulklassen in Tirol, Vorarlberg, Nieder- und Oberösterreich. Während sich die Regierung dafür bejubelt, sind Fachleute wenig überzeugt: Die neue Pflegelehre sei unausgegoren und wenig zielführend. Auch Expert:innen aus Oberösterreich kritisieren den sogenannte „Ausbildungsversuch“ in ihrem Bundesland. Die neue Pflegelehre sei kaum in der Lage, den Pflegenotstand zu lindern. Im Gegenteil.

Dem Wissen zum Trotz

Aber von vorne. Mit der neuen Pflegelehre sollen Lehrlinge eine Lehre zur Pflegefachassistenz (vierjährige Lehre) oder Pflegeassistenz (dreijährige Lehre) absolvieren können. Die Lehrberufe sollen explizit junge Menschen ansprechen, dem Pflegenotstand entgegenwirken und die bestehenden Ausbildungen ergänzen. Aber: Wer mit 15 Jahren eine derartige Ausbildung anfängt, kann zwei Jahre lang nicht an Patient:innen arbeiten. Eine EU-Richtlinie aus dem Jahre 1973 verbietet dies. Diesem Wissen zum Trotz kommt die Pflegelehre.

Doch damit nicht genug. Ingrid Reischl, Leitende Sekretärin des ÖGB, skizzierte jüngst einige der Probleme: „Der zu frühe Einsatz junger Menschen führt nicht zur Entlastung der angespannten Personalsituation. Die Begegnung mit schweren Krankheiten, demenziellen Erkrankungen und Tod, die der Beruf mit sich bringt, sind für junge Menschen abschreckend und werden in vielen Fällen eher zum frühzeitigen Berufsausstieg führen.“ Und für die Betriebe bedeutet dies: „Mit der Ausbildung junger Menschen kämen zu den bestehenden schlechten Rahmenbedingungen und dem Personalnotstand eine zusätzliche, wesentliche Aufgabe hinzu.“

Mehrfacher Weg, falscher Weg

Heidemarie Staflinger ist Expertin für Sozialpolitik in der Abteilung Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik der AK Oberösterreich. Sie sieht die Pflegelehre mehr als kritisch, wie sie im Gespräch mit Arbeit & Wirtschaft klarstellt. Doch einen Schritt zurück: Wie ist der gegenwärtige Stand hinsichtlich Ausbildung? „Es gibt den klassischen Weg in die Pflege nicht mehr“, meint Staflinger. Heutzutage gibt es viele verschiedene Wege in die Pflege, vom Doktoratsstudium über Masterstudiengänge, das „klassische“, auslaufende Diplom für Gesundheits- und Krankenpflege, ein Bachelorstudium, die Pflegefachassistenz mit Matura sowie jene Ausbildungen, die die Pflegelehre ergänzen soll: Pflegeassistenz (PA) und Pflegefachassistenz (PFA). Die PA setzt neun Schulstufen bzw. den Pflichtschulabschluss voraus und dauert Vollzeit ein Jahr. Die PFA hat etwas angehobene Zulassungsvoraussetzungen (z.B. 10 Schulstufen) und dauert Vollzeit zwei Jahre. Für diese beiden kürzesten Ausbildungen braucht es aktuell ein Mindestalter von 17 Jahren – und genau da will die Politik ansetzen und das Mindestalter senken.

Porträt von Heidemarie Staflinger. Sie kritisiert die neue Pflegelehre.
Heidemarie Staflinger kritisiert die undurchdachten Pläne der Politik: „Ich frage mich, was die Jugendlichen zwei Jahre tun sollen.“ | © AK OÖ – Wolfgang Spitzbart

 

Laut Staflinger spießt es sich aber grundsätzlich. „Da ist eine Lücke, die die Politik schließen will“, so die Expertin, „denn die Jugendlichen entscheiden sich mit 14, 15 Jahren für eine Lehre. Ich frage mich aber, was die Jugendlichen dann zwei Jahre tun sollen.“ Hinzu komme, dass Gesundheits- und Krankenpflege per Gesetz im Bereich des Gesundheitsministers liege, die Lehre aber beim Arbeitsministerium. Das könne zu gesetzlichen Widersprüchlichkeiten führen.

Probleme über Probleme mit der neuen Pflegelehre

Wer halbwegs aufmerksam die Medien verfolgt, weiß, dass es in der Pflege zu wenig Personal gibt. Dieses soll nun auch noch ausbilden. Ein grundsätzlich falscher Ansatz, erklärt Wolfgang Kuttner, Vorsitzender des Landesverbands Oberösterreich im Österreichische Gesundheits- und Krankenpflegeverband, im Gespräch: „Wir vom ÖGKV haben immer Stellung gegen die Pflegelehre bezogen, weil das Prinzip der Lehre im Setting Pflege das falsche Mittel, das falsche Konstrukt ist.“ Er führt ebenfalls rechtliche Fragen an: „Die Ausbildungsverordnung regelt klar, dass in der praktischen Ausbildung verschiedene Stationen durchlaufen werden müssen, etwa innere Medizin, Chirurgie, Langzeitpflege. Das können Befürworter, allen voran Pflegeheime, als Ausbildungsstätten nicht bieten.“ Wie das theoretische Wissen mehrjähriger Ausbildungen in zehn Wochen Berufsschule jährlich zu vermitteln sein soll, sei ebenfalls fraglich.

Staflinger sieht auch am frühen Alter und dem Setting Pflegeheime grundlegende Probleme: „Da kommt ein junger Mensch, erlebt Trauer und Tod. Die Politik meint zwar, dass die Lehrlinge nicht auf die Palliativabteilung kommen. Aber in Pflegeheimen wird gestorben, nicht nur auf der Palliativstation, 70 Prozent haben diagnostizierte Demenz mit möglichen Symptomen wie Verwirrtheit, Aggression oder sexualisierter Übergriffigkeit.“ Zudem wurde das Personalproblem in der Pflege jahrzehntelang nicht angegangen: Das Pflegefachpersonal ist im Schnitt 40 bis 60 Jahre alt, viele gehen in den nächsten Jahren in Pension. Gleichzeitig ist die Drop-Out-Quote bei denen, die eine Pflegeausbildung machen, hoch. Alles längst bekannte Fakten, die auch die Regierung kennt. „Dass die Boomer irgendwann in Pension gehen, länger leben und mehr chronische Krankheiten haben, wissen wir seit 30 Jahren. Wir können die Löcher nicht stopfen, die Problemlage wird auch noch befeuert“, so Kuttner. Sollen Jugendliche jetzt also das Versagen vieler Regierungen ausbaden?

„Wir müssen jeden Strohhalm ergreifen“

Dabei ist ungewiss, ob 15-Jährige überhaupt bereit sind, diese Lücken zu füllen. Im Jahr 2002 lag das durchschnittliche Alter im ersten Lehrjahr bei 15,9 Jahren, 2016 schon bei 16,7. Das Regierungsargument, durch das Herabsetzen des Alters eine Lücke zu schließen, geht also ins Leere. Da kann man gleich warten, bis man 17 ist – und entkräftet gleichermaßen die Befürchtungen von ÖGB und AK. Dennoch: Gibt es etwas Positives? Kuttner etwa meint, man habe sich als Berufsverband zumindest in die Arbeitsgruppe rein reklamiert, um die Chance zu ergreifen, die Ausbildung mit entsprechender Qualität besser zu machen.

Etwas pragmatischer sieht Alfred Mayr die neue Pflegelehre. Er ist Vorsitzender der Gesundheitsgewerkschaft und Landesvorstand der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst in Oberösterreich und zudem auch selber Bürgermeister der Gemeinde St. Stefan-Afiesl. „Jede Intention, die uns hilft, Menschen zu finden, in unserem Bereich zu arbeiten, ist begrüßenswert.“ Das entspreche zwar nicht den Gepflogenheiten, sei aber besser, als unausgebildete Pflegekräfte aus Mangel an Alternativen einzusetzen. In anderen Bereichen funktioniere die Lehre, sie ergänze den Ausbildungsweg und schließlich wolle nicht jeder junge Mensch eine Berufsbildende Mittlere oder Höhere Schule absolvieren. „Wir müssen jeden Strohhalm ergreifen“, erklärt der FCG-Gewerkschafter deshalb.

Und nun?

Das mag ein verständlicher Ansatz sein. Allerdings führt Staflinger an, dass es durch die Pflegereform I schon ein Pflegestipendium für alle über 17 gibt: „Damit kann man jederzeit ein oder zwei Jahre Ausbildung machen und in den Beruf einsteigen. Wer über 20 Jahre alt ist, hat die Möglichkeit auf ein AMS-Pflegestipendium mit mindestens. 1.400 Euro – das ist mehr als die Lehrlingsentschädigung.“ Die Pflegelehre funktioniere nicht, meint Staflinger, auch nicht in Ländern wie der Schweiz, die oft als positives Beispiel genannt wird. Dem stimmt auch der international gut vernetzte Kuttner zu: „Ich bin im europäischen Berufsverband und weiß, dass die Schweiz eine hohe Abbrecher:innenquote hat. Nach der Ausbildung steigen viele schnell aus.“ Die große Pflege-Leere wird die neue Pflegelehre also nicht füllen. Ein Problem, dass unserer immer älter werdenden Gesellschaft noch teuer zu stehen kommen wird. Um die zentralen Probleme anzugehen, hat der ÖGB einen 10-Punkte-Plan für Österreich herausgegeben. Einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Sozialbereich könnte die Herbstlohnrunde 2023 liefern. Die Gewerkschaften vida und GPA haben ihre Forderungen für die Branche übergeben.

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