Historie: Vom liberalen zum sozialen Staat

Foto (C) ÖGB-Bildarchiv
Die Vertreter der Alliierten, ohne die bis 1955 kein Gesetz in Geltung trat, verfolgten im Wiener Konzerthaus aufmerksam das Referat Bundespräsident Renners über den „sozialen Staat“. 1948 befürworteten und förderten auch die westlichen Großmächte noch die Entwicklung zum Sozialstaat und die Mitsprache der Gewerkschaften.
Beim ersten ÖGB-Bundeskongress forderte Bundespräsident Karl Renner einen Sozialstaat mit Wirtschaftsdemokratie.
Am 23. Mai 1948 hielt Bundespräsident Karl Renner das Schlussreferat beim ersten Kongress der vereinigten österreichischen Gewerkschaften unter dem Motto „Vom liberalen zum sozialen Staat“. Seit der Niederlage des Faschismus, der Wiedererrichtung der österreichischen Demokratie und der ÖGB-Gründung waren erst drei Jahre vergangen. Frisch in Erinnerung waren also noch der Versuch eines demokratischen Sozialstaats mit breitem Handlungsspielraum für Gewerkschaften ab 1918 und der Kampf gegen diese Errungenschaft, der den Weg in Faschismus und Krieg ebnete.

Foto (C) ÖGB-Bildarchiv

Renner spannte den geschichtlichen Bogen vom Entstehen der kapitalistischen Wirtschaft und der Funktion des Staates nach den Ideen des Liberalismus im 19. Jahrhundert bis nach 1945 zur Vision eines demokratischen „sozialen Staates“. Von diesem erhoffte nicht nur er, dass er tatsächlich erreichbar sein und nie wieder infrage gestellt werden würde. Zur Entwicklung ab dem Ersten Weltkrieg führte er aus:

Der Wettbewerb der nationalen Finanzkapitale um die wirtschaftliche Ausbeutung der Welt … wird zur kriegerischen Auseinandersetzung … Die Menschheit, die Zeuge oder Opfer dieser Katastrophe geworden ist, zeigt … eine tiefe seelische Erschütterung. … Der erlittene Druck und Zwang des Militarismus … belebt die Idee der Menschen- und Bürgerrechte … neu… dieser Freiheitsruf ist nicht mehr jener des Altliberalismus, sondern in einer Hinsicht gerade dessen Umkehrung: persönliche, geistige, politische Freiheit des einzelnen, aber dabei zwingende staatliche Ordnung der Gesellschaft in sozialem Geiste … Der ehemalige bloße Justiz- und Ordnungsstaat wurde nunmehr bereits in vorwiegendem Maße Wirtschafts- und Sozialstaat. …

Dieser Schilderung der Sozialpolitik ab 1918 folgte mit dem Hinweis auf den Faschismus die Erklärung, dass nur ein Rechtsstaat ein echter Sozialstaat sein könne.

Der faschistisch-totalitäre Staat hat … auch diese beiden Verwaltungskreise einer lückenlosen autoritär-behördlichen Ordnung unterworfen … Jedenfalls gab der Faschismus sich … als Wirtschafts- und Sozialstaat, um darüber hinwegzutäuschen, dass er aufgehört hatte, Rechtsstaat zu sein …

Sozialstaat, so Renner, ist mehr als Rechtsstaat und mehr als Fürsorgestaat, er soll und muss auch die Demokratisierung der Wirtschaft einschließen:

Es wäre nach dem Ausgeführten eine viel zu enge Auffassung des Begriffes „Sozialstaat“, wenn man sich vorstellte, dass die Einrichtung einer obrigkeitsstaatlichen Vormundschaftsverwaltung in der Form des Schutzes der Schwachen, Leidenden und Erwerbslosen ausreiche, dem Staate diese Bezeichnung zuzuerkennen. Sozial heißt gesellschaftlich, und die Idee, welche die Menschheit heute … bewegt, ist, die Gesellschaft selbst in allen ihren Gliederungen auf der Grundlage ihrer freien Entschließung zu organisieren. Steht doch jeder wirtschaftliche Betrieb, wie jeder einzelne wirtschaftlich Tätige, im Zusammenhang mit der ganzen Volkswirtschaft und ist dieser einzugliedern. … Erst in einer solchen Durchorganisation des gesamten Volkskörpers von unten herauf wird der Staat zum wahrhaften Sozialstaat werden.

Ausgewählt und kommentiert von
Brigitte Pellar
Historikerin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/17.

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Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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