Intensive Belastung
In den 1970er-Jahren war das Arbeitsleben in vielen Bereichen völlig anders als heute – denken wir nur daran, mit welcher Technik wir damals kommunizierten: Wir tippten Briefe auf der Schreibmaschine und telefonierten über das Festnetz. Schnellere Datenübermittlung erfolgte bestenfalls über Telex. Computer gab es in der Regel nur in großen Unternehmen und da nur als Zentralrechner, die in eigenen Räumen untergebracht waren. Auch in den Werkshallen wurde noch wesentlich mehr von Menschen und weniger von Robotern gefertigt. Die Arbeit war insgesamt um einiges weniger intensiv, als sie es heute ist.
Mit E-Mail, Handy, Internet und Robotik sind wir um ein Vielfaches produktiver als damals. Allerdings ist auch die Intensität der Arbeit viel höher. Wir erbringen also in derselben Zeit viel mehr Leistung als früher. Diese stärkere Belastung durch zunehmende Verdichtung hat Auswirkungen auf uns Menschen. Das Ansteigen arbeitsbedingter psychischer Erkrankungen und die zunehmenden Fälle von Burn-out sind ein klares Anzeichen dafür, dass immer mehr Beschäftigte an ihre Belastungsgrenze kommen.
Es wäre daher logisch, die Arbeitszeit erneut zu verkürzen, um diese gestiegene Belastung auszugleichen.
Politische Schwarzmalerei gegen die Arbeitszeitverkürzung
Arbeitgebervertreter:innen sehen das natürlich ganz anders. Auf das Reizwort „Arbeitszeitverkürzung“ reagieren sie mit düsteren Zukunftsszenarien: Da könne man gleich das ganze Land zusperren, weil alles den Bach hinuntergehe, malt etwa WKÖ-Präsident Mahrer schwarz. In derselben Tonart spielen verschiedene Kommentator:innen in Tageszeitungen und Wochenmagazinen: Alles nicht finanzierbar, so der Grundtenor. Noch undenkbarer sei das in Zeiten großer Nachfrage an Arbeitskräften. Die Gewerkschaften gefährden – so sagen sie – mit ihrer Forderung den Wohlstand, ja sogar den Sozialstaat.
Aber droht wirklich der Zusammenbruch, und rutschen wir alle in die Armut ab, wenn wir die Arbeitszeit verkürzen? Gern wird argumentiert, dass eine Arbeitszeitverkürzung den Bedarf an Arbeitskräften deutlich erhöhen würde. Und es gäbe heute ja schon viel zu wenig Fachkräfte, wie etwa in der Pflege oder bei der Polizei. Was dabei außer Acht gelassen wird: Gerade in besonders belastenden Berufen fehlen Arbeitskräfte, weil Beschäftigte eine 40-Stunden-Woche nicht durchhalten. Wir reden von Menschen, die ihren Beruf gerne ausüben, aber aufgrund der Belastungen die Branche verlassen und sich weniger anstrengende Tätigkeiten suchen.
Wir erbringen in derselben Zeit viel mehr Leistung als früher.
Martin Müller, Jurist und Leiter des Referats Rechts- und Kollektivvertragspolitik im ÖGB
Viele Menschen würden in diese Berufe zurückgehen, und auch mehr junge Menschen würden sich für diese Berufe entscheiden, wenn die Arbeitszeit – und damit die Belastung – deutlich geringer wäre. In der Zeit der Verkürzung von 45 auf 40 Stunden lag die Arbeitslosenquote übrigens durchgängig unter zwei Prozent. Der Bedarf an Arbeitskräften war damals also sogar höher als heute. Trotzdem gab es weiterhin Wirtschaftswachstum und wachsenden Wohlstand.
Hauptsache, dem Kapital geht’s gut
Dann kommt noch das Kostenargument. Wenn die Steigerung der Produktivität schon bei den Lohnabschlüssen berücksichtigt worden ist, könne sie doch nicht auch noch eine Arbeitszeitverkürzung finanzieren. Dieses Argument geht davon aus, dass die Steigerung der Produktivität immer den Arbeitnehmer:innen zugutegekommen sei. Wäre dem so, dann wäre die Lohnquote – das ist der Anteil der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen – stetig gestiegen. Das Gegenteil ist in den letzten Jahrzehnten der Fall gewesen. Der Anteil der Löhne und Gehälter ist gefallen, der Anteil der Kapitalerträge hingegen gestiegen. Das bedeutet: Gewinne aus Rationalisierung und Digitalisierung sind nicht bei den Arbeitnehmer:innen angekommen. Es gibt genügend Reserven, um kurzzeitig erhöhte Kosten abzufedern. Die auch in Zukunft weiter steigende Produktivität wird die Arbeitszeitverkürzung finanzieren. Auch nach Einführung der 40-Stunden-Woche ist die Wirtschaft schließlich weiter gewachsen.
Warum wir 3 Tage pro Woche frei brauchen:
1. Wir brauchen einen Tag, um uns von der Woche zu erholen.
2. Wir brauchen einen Tag für Haushalt & Einkauf.
3. Wir brauchen einen Tag für Freunde, Familie und Dinge, die uns glücklich machen. #Arbeitszeitverkürzung #VierTageWoche— ÖGB (@oegb_at) January 6, 2023
Auch der Sozialstaat ist bei bisherigen Arbeitszeitverkürzungen nicht zusammengebrochen. Warum auch? Unser Sozialsystem wird zum größten Teil durch Beiträge finanziert, die sich von den Löhnen und Gehältern ableiten. Wird die Arbeitszeit bei gleicher Lohnhöhe gesenkt, bleiben die Beiträge für den Sozialstaat gleich. Weshalb das daher das Sozialsystem in Gefahr bringen soll, bleibt schleierhaft.
Stufenweiser Weg zur Arbeitszeitverkürzung
Auf der anderen Seite stehen die Vorteile, die eine Verkürzung der Arbeitszeit mit sich bringt. Zahlreiche internationale Studien, von Schweden über Island bis ins Vereinigte Königreich, haben in den letzten Jahren die Auswirkungen verkürzter Arbeitszeit analysiert: All diese Studien kamen zu dem Ergebnis, dass die Beschäftigten bei verkürzter Arbeitszeit produktiver, konzentrierter und gesünder waren als davor. Kürzere Arbeitszeit führt zu mehr Zeit mit der Familie, was sich positiv auf die Verteilung der Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen auswirken kann. Auch die Zahl der Krankenstände und jene der Fälle von Burn-out gingen zurück. Zahlreiche Unternehmen, die an den Modellversuchen teilgenommen hatten, behielten wegen der guten Erfahrungen die kürzere Arbeitszeit bei. Selbstverständlich wäre es ein Problem, die Arbeitszeit mit 1. 1. 2024 um 20 Prozent zu senken. Aber das will auch niemand. Wir streben eine stufenweise Reduktion der Arbeitszeit an. Unser Ziel ist eine Verkürzung der Arbeitszeit, die die gestiegene Produktivität und die stetig steigende Verdichtung der Arbeit berücksichtigt. Unser vorrangiges Ziel dabei ist die Reduktion der Arbeitsstunden pro Woche. Sollten wir eine Verlängerung des Urlaubs oder mehr freie Tage im Jahr erreichen können, nehmen wir das gerne auch.
& Podcast
Mehr zum Thema hören Sie in der Folge „Arbeitszeit” des Podcasts „Klassenkampf von oben”.