Seit dem 15. März unterrichtet der pensionierte Lehrer aus Leidenschaft die Schüler:innen der 1b und der 4a in Deutsch, seinem Hauptfach – jedoch nicht wie einst als Vollzeit-Lehrkraft, sondern im Rahmen einer halben Lehrverpflichtung. Sellner sieht es als „Lebenschance“, nach so vielen Jahren Pause noch einmal ins aktive Berufsleben zurückzukehren: „Es ist keine Nostalgie, sondern ein Glück“, meint er. „Ich habe Lebensfreude und arbeite gern mit Kindern und Jugendlichen.“ Er war neugierig darauf, wie sich der Einstieg in den neuen alten Beruf entwickeln würde. Dafür hat er sein tätiges Leben als Pensionist unterbrochen. Die Reaktion eines seiner Freunde darauf war eindeutig: „Bist du wahnsinnig?“
Da am RG 18 einige Deutsch-Professor:innen gesundheitsbedingt ausgefallen waren und kurzfristig weder andere Professor:innen noch Deutsch-Lehramts-Student:innen als Ersatz gefunden werden konnten, hatte eine Personalvertreterin am RG 18 bei Sellner angeklopft. „Kurz entschlossen habe ich für die Zeit bis Ende des Schuljahres ,Ja‘ gesagt“, schildert Sellner. Nachdem auch Wiens Bildungsdirektion zugestimmt hatte, erhielt Sellner seinen Dienstvertrag.
Kurz nach seinem Schuleinstieg hat Sellner allen Eltern der Schüler:innen beider Klassen einen Brief geschrieben: „Die Zusammenarbeit mit Ihren Töchtern und Söhnen kommt nach einer abwartend-skeptischen Anlaufphase immer besser voran“, ist darin zu lesen. Er ist motiviert und freut sich, wenn seinen Schüler:innen etwas gelingt. Nach einem Unterrichtstag ist er allerdings müde und braucht eine Pause – etwas, das er früher nie benötigt hat.
Ich bin kein Role-Model
für die Politik.
Reinhart Sellner, Lehrer und Pensionist
Hinzu kommt: Der Wiedereinstieg war schwierig, weil er mitten unterm Schuljahr erfolgte. „Das bedeutet mehr Arbeit als bei einem normalen Anfangen am Beginn eines Schuljahrs. Und ich habe jetzt realisiert, dass ich alt bin. Für das Musizieren in meiner Freizeit fehlen mir jetzt Zeit und Kraft“, sagt Sellner. Ob er jetzt zum alten Eisen zählt? „Keineswegs!“, erwidert er. „Ich komme nicht aus einer Schrotthändlerfamilie, sondern ich bin lebendig und agil, und das wünsche ich auch allen anderen.“
Auf der Suche nach Rückkehrer:innen
Aktion mit Anfangsschwierigkeiten: Die Wiener Bildungsdirektion hatte im Dezember des Vorjahres knapp 300 pensionierte Lehrer:innen zur Rückkehr in die Klassen eingeladen. Nur drei sind zurückgekommen – mit Sellner vier. Nach dem mäßigen Erfolg hat die Bildungsdirektion Ende Februar 2023 alle Direktor:innen aufgefordert zu prüfen, ob Lehrpersonen für eine Dienstleistung über das 65. Lebensjahr hinaus gewonnen werden können. Das Buhlen machte sich bezahlt: Bereits 20 Lehrer:innen haben in Wien heuer ihren Pensionsantritt aufgeschoben. „In der Steiermark sind momentan rund 15 pensionierte Lehrkräfte beschäftigt“, freut sich Miriam Klampferer von der steirischen Bildungsdirektion.
In Salzburg zählt man aktuell bis zu zehn pensionierte Landeslehrer:innen, die aus der Pension in die Klassen zurückgekehrt sind. „Im Moment arbeiten wir an einer neuen Einladung, die wir im Laufe des Mai an pensionierte Landeslehrer:innen verschicken werden“, heißt es aus der Salzburger Bildungsdirektion.
In Oberösterreichs Pflichtschulen unterrichten aktuell 50 pensionierte Lehrkräfte, berichtet Elisabeth Seiche, Bedarfskoordinatorin der Bildungsdirektion Oberösterreich. Dabei gehe die Rekrutierung von Pensionist:innen sehr oft vom Schulstandort aus. „Und wir haben durchwegs sehr gute Erfahrungen mit pensionierten Lehrer:innen gemacht. In der Regel kennen sie das Kollegium bzw. den Schulstandort, an den sie zurückkehren. Wir kennen keine:n, der:die sich gemeldet hat, ohne wirklich Lust zu haben.“ Ganz im Gegenteil: „Diejenigen, die sich melden, sind sehr engagiert und mit Herzblut dabei.“
Personalnot der Wirtschaft
Im Jänner präsentierte die Bundesregierung nach ihrer Klausur in Mauerbach einen Plan, der längeres Arbeiten möglich machen soll. Verknappt bedeutet das: Wer sein Leben lang Schwerstarbeit leiste, dem:der müssten neue Perspektiven in der Berufswelt gegeben werden, damit er:sie länger arbeiten könne. Dafür wird es jedoch mehr brauchen als bessere Rahmenbedingungen.
In Zeiten der Personalnot werden Pensionist:innen zwar von vielen Unternehmen gerade wegen ihrer langjährigen Erfahrung und ihres Fachwissens als Personalreserve geschätzt und umgarnt. In der betrieblichen Praxis sieht das aber oft anders aus. Da fühlen sich viele Beschäftigte ab dem 50. Lebensjahr in ihrem Job nicht mehr willkommen. Tausende bangen um ihren Arbeitsplatz, nicht zuletzt deshalb, weil sie besser verdienen.
Auch die Wiener Linien haben im Herbst eine Rückholaktion gestartet. Rund 40 pensionierte U-Bahn-Fahrer:innen wurden kontaktiert, um sie zur Rückkehr in den Führerstand zu motivieren. Ein halbes Dutzend nahm die Einladung an.
Der Wiener Gesundheitsverbund (WiGeV) hatte ebenso versucht, pensioniertes Pflegepersonal sowie Ärzt:innen im Ruhestand wieder in die Stationen der Wiener Krankenhäuser zu bringen. Vergangenes Jahr waren allerdings nur drei Personen den Aufrufen des Gesundheitsverbunds gefolgt. Fazit: Die „Rückholaktion“ wurde beendet.
Jobbörsen buhlen um Pensionist:innen
Arbeitswillige Menschen jenseits des 60. Lebensjahres werden auch auf diversen Jobbörsen umworben. „Karriere.at“ etwa bietet 68 Jobs für Senior:innen an, bei „Jobrapido“ und bei der neu gegründeten oberösterreichischen Job-Plattform „60plus“ sind es je zehn.
Hinter „60plus“ steht der oberösterreichische Unternehmer Wolfgang Feichtenschlager. Seine Jobbörse sieht er nicht als kommerzielles, sondern als politisches Projekt: „Es braucht Anreize, wenn wir Pensionist:innen ins Erwerbsleben zurückholen wollen. Wir müssen die Geringfügigkeit aussetzen, die Pensionist:innen von Pensionsbeiträgen befreien und die Einkommensteuer pauschalieren.“ Wenn das Arbeiten von Pensionist:innen erwünscht sei, konstatiert Feichtenschlager, dann sollte es Entlastungen für sie geben.
Das sieht Reinhart Sellner ähnlich. Nach 41 Dienstjahren bezieht er nun für seine halbe Lehrverpflichtung ein Anfängergehalt. „Das muss ich auf der Basis meiner Pension versteuern“, rechnet er vor. „Das heißt, von meinem Bruttobetrag bleibt am Ende weniger übrig als bei einem Anfänger.“ Der pragmatisierte Lehrer hätte natürlich auch seine Pension ruhend stellen lassen, sein 42. Dienstjahr beginnen und sich als Bundesbediensteter wieder in den Dienst stellen lassen können. „Das wäre alles sehr kompliziert gewesen“, sagt Sellner.
Eine Handvoll Mitarbeiter:innen mehr
Mehr finanzielle Anreize für Pensionist:innen würden jedenfalls auch das Geschäft der Arbeitsvermittlungen von Pensionist:innen beflügeln. Die Jobbörse „60plus“ hat seit Jahresbeginn bis Mitte Mai fünf Arbeitsuchende vermittelt – einen Bilanzbuchhalter, der geringfügig angestellt wurde, eine 61-jährige Bürokraft bei einem gemeinnützigen Wohnbauträger und Verkaufspersonal einer Bäckerei. Die Jobs, die er derzeit in seiner Vermittlungspipeline hat, sind beispielsweise ein:e Kellner:in mit Inkasso, ein:e Facharbeiter:in im Bereich Elektronik, ein:e Mitarbeiter:in für Verkauf und Service sowie eine:n bautechnische:n Zeichner:in. Feichtenschlager ist bestrebt, mit weiteren Arbeitgeber:innen zusammenzuarbeiten.Von den rund 1,78 Millionen Menschen, die älter als 65 Jahre sind, könnte nach Schätzung des Unternehmers „jede:r sechste auf einen Nebenjob hoffen“. Das seien rund 300.000 Menschen, die sich nach den Inflationsschüben der vergangenen Monate für einen Nebenjob interessieren.
Pensionist:innen ins Erwerbsleben
zurückzuholen ist eine massive
Umverteilung zulasten der Hackler:innen.
Alois Stöger, Leiter der PRO-GE Sozialpolitik
Kein Role-Model für die Politik
Dabei spricht für viele Pensionist:innen auch einiges gegen eine Rückkehr in die Arbeit. Reinhart Sellner betont ausdrücklich: „Ich bin kein Role-Model für die Politik, so nach dem Motto: Seht euch diesen 76-Jährigen an, wenn der kann, dann können das die 65- bis 70-Jährigen auch.“ Tatsächlich, sagt er, steigen die Berufsbelastungen auch in den pädagogischen Berufen sei 20 Jahren: „Kolleg:innen um die 50 sind ausgelaugt, leiden an Burnout-Erkrankungen, arbeiten unfreiwillig in Teilzeit, und immer mehr gehen in Frühpension.“
Ähnlich kritisch sieht das Arbeiten in der Pension Alois Stöger, leitender Sekretär in der Produktionsgewerkschaft PRO-GE: „Der Vorstoß der Regierung zielt auf Selbstständige und Menschen in freien Berufen ab, also Architekt:innen, Anwält:innen oder Geschäftsführer:innen und Prokurist:innen, oder Menschen, die einen Bürojob hatten. Für ihre Zielgruppe haben sie Geld, obwohl die kein Zuckerl brauchen.“ Stöger sieht darin eine „massive Umverteilung zulasten der Hackler:innen“. Arbeiter:innen haben sich im Regelfall in ihrer Arbeit verausgabt. Nur wenige haben einen schönen Job, sie arbeiten in der Schicht oder haben eine taktgebundene Arbeit. „Die sagen: ‚Es reicht‘“, schildert Stöger. „Die meisten Männer sind nach 40 Arbeitsjahren ausgebrannt und gehen mit 62 in Pension. Sie nehmen die damit verbundenen Abschläge in Kauf. Nur wenige Hackler arbeiten länger. Und jede zweite Frau geht aus der Arbeitslosigkeit in die Pension. Das ist die Realität.“
Diskriminierung älterer Arbeitnehmer:innen
Gegen den schönen Schein sprechen auch aktuelle Zahlen bei der Diskriminierung älterer Menschen: Aktuell kam es bei der Gleichbehandlungsanwaltschaft zu knapp 400 Anfragen im Zusammenhang mit Altersdiskriminierung von insgesamt knapp 4.962 im Berichtszeitraum 2020/21. Gleichbehandlungsanwältin Sandra Konstatzky erzählt im Interview mit Arbeit&Wirtschaft, dass ältere Arbeitnehmer:innen berichten, sie würden von Kolleg:innen oder Arbeitgeber:innen abfällig auf ihre Schwerhörigkeit, Langsamkeit oder Vergesslichkeit angesprochen. Nicht unwahrscheinlich, dass es auch bei der Rückkehr aus der Pension zu solchen Situationen kommt.
Insgesamt ist Altersdiskriminierung bei der Gleichbehandlungsanwaltschaft die drittgrößte Kategorie – gleich nach Diskriminierung wegen des Geschlechts und ethnischer Zugehörigkeit. Die meisten Fälle bei Altersdiskriminierung in der Arbeitswelt werden aktuell von Beschäftigten zwischen dem 57. und 60. Lebensjahr gemeldet. Auf sie entfällt gut ein Drittel (36 Prozent) aller bei der Gleichbehandlungsanwaltschaft gemeldeten Fälle. Knapp dahinter liegen Arbeitskräfte zwischen dem 51. und 56. Lebensjahr (31 Prozent), gefolgt von Beschäftigten im Alter zwischen 61 und 64 Jahren (12 Prozent). Sehr wenige Menschen melden sich wegen Altersdiskriminierung, wenn sie 65 Jahre oder älter sind. „Es geht hier oft um Alltagssituationen, in denen leider immer noch Rechtsschutzlücken bestehen“, sagt Konstatzky. Jede:r Fünfte, der:die sich bei der Gleichbehandlungsanwaltschaft meldet, ist jünger als 50 Jahre.
Und Konstatzky bringt ein anonymisiertes Beispiel: „Wenn ältere Mitarbeiter:innen bei Online-Besprechungen aufgrund von schlechter Telefonleitungsqualität nachfragen, können schon einmal abfällige Bemerkungen in Richtung Altersschwerhörigkeit fallen.“ In einem konkreten Fall, schildert sie, sei dem Mitarbeiter mehrmals mitgeteilt worden, er wäre zu alt. Schließlich sei er gekündigt worden. Er habe sich daraufhin an die Gleichbehandlungsanwaltschaft gewandt und einen Antrag zur Überprüfung der diskriminierenden Kündigung bei der Gleichbehandlungskommission gestellt. Das habe sich ausgezahlt: „Aus der Kündigung wurde schließlich eine einvernehmliche Auflösung des Dienstverhältnisses. Und der Betroffene bekommt eine dreimonatige Freistellung und eine finanzielle Entschädigung für eine umfangreiche Weiterbildung.“
Menschen länger im Berufsleben zu halten, wird nicht funktionieren, indem man Ihnen die geblockte Altersteilzeit verwehrt. Es funktioniert mit fairen Arbeitsbedingungen und besserer Bezahlung.
#Regierungsklausur #Altersteilzeit— Wolfgang Katzian (@katzianw) January 11, 2023
Zurück in der Schopenhauerstraße am Bundesrealgymnasium 18. Die Schulglocke läutet. Der Unterricht ist für heute zu Ende. Reinhart Sellner ist zufrieden. Es ist gut gelaufen in der 4b. Heute nimmt er die Schularbeiten zum Verbessern mit nach Hause. Ob er im nächsten Schuljahr weitermacht? „Nein – oder vielleicht doch: In einer Notsituation würde ich wieder einspringen“, sagt Sellner selbstbewusst, ehe er wieder auf sein Fahrrad steigt und nach Hause fährt.