Rückkehr zum Sozialstaat
Eine umfassende Europa-Organisation nationaler Gewerkschaftsbünde war damals keineswegs selbstverständlich. Bisher standen in Europa drei Zusammenschlüsse nebeneinander: der „Weltgewerkschaftsbund“ für die kommunistischen Staaten, der „Europäische Bund Freier Gewerkschaften“ der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ und der „Gewerkschaftsausschuss für die Europäische Freihandelszone“, dem auch der ÖGB angehörte. Der Helsinki-Prozess und der Ausbau der EWG verlangten jetzt eine einheitliche Vertretung der Interessen von Arbeitnehmer:innen. So entstand der EGB aus EWG- und EFTA-Gewerkschaftsbünden, offen für alle nationalen Gewerkschaftsorganisationen unabhängig von ihrer politischen Richtung. Die christlichen Gewerkschaften und der kommunistische Gewerkschaftsbund Italiens waren von Anfang an dabei und später folgten auch die nationalen kommunistischen Organisationen Spaniens und Frankreichs. Nach dem Ende des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa erfolgte ab 1990 die rasche Aufnahme der neuen Gewerkschaften aus den nun betont marktwirtschaftlich orientierten Staaten. Aktuell vertritt der EGB etwa 45 Millionen Arbeitnehmer:innen, die in 93 nationalen Gewerkschaftsbünden aus 41 Ländern und zehn europäischen Gewerkschaftsbünden für Wirtschaftssektoren organisiert sind.
EGB: Rückkehr zum sozialstaatlichen Weg
Als zentrale Schaltstelle für Gewerkschaftspolitik auf europäischer Ebene kämpfte der EGB für ein „soziales Europa“, von 1993 bis 2006 unter österreichischer Präsidentschaft. Ab der neoliberalen Wende der 1980er-Jahre wurden die Widerstände gegen europaweite hohe Sozialstandards aber immer stärker, und entgegen den ursprünglichen Plänen fand die „soziale Dimension“ 1992 im Gründungsvertrag der Europäischen Union keinen Platz. Der EGB konnte nur noch ein unverbindliches Zusatzprotokoll der sozialen Grundrechte erreichen, und auch das nur, weil er über seine Mitgliedsbünde massiv Druck ausübte.
Das von der EU-Kommission 2017 proklamierte Ziel einer „Europäischen Säule sozialer Rechte“ blieb zunächst ebenfalls totes Papier. Der EGB fordert, dass die aktuelle Expert:innenempfehlung für die Umsetzung des Programms eine für alle EU-Staaten verbindliche Richtlinie wird. Wäre die Empfehlung wirklich durchsetzbar, würde das die Rückkehr zum sozialstaatlichen Weg bedeuten und damit auch die Position der Gewerkschaftsbewegung im „Sozialen Dialog“ stärken. Denn die Gleichwertigkeit der Interessenvertretung ist im Rahmen der europäischen Sozialpartnerschaft nicht gegeben.
Soziales Gewissen Europas
Im „Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss“, dem zuständigen EU-Gremium, sind neben dem EGB und den großen sektoralen Gewerkschaftsbünden nicht nur mehrere Arbeitgeber:innenorganisationen, sondern noch etliche weitere Interessengruppen vertreten, und entsprechend schwierig ist es, Vorschläge der „europäischen Sozialpartner“ an die EU-Kommission zustande zu bringen. Trotzdem bewies der EGB immer wieder, wie unverzichtbar er als soziales Gewissen Europas ist. Von ihm organisierte europaweite Protestaktionen verhinderten 2006 zum Beispiel Sozialdumpingbestimmungen in der neuen EU-Dienstleistungsrichtlinie, die auch österreichische Arbeitnehmer:innen direkt betroffen hätten. In diesen und in etlichen anderen Fällen unterstützte das EU-Parlament die Gewerkschaftsanliegen. Dessen Einflussmöglichkeit wurde zwar in den EU-Verträgen nach 1992 gestärkt, aber die volle Demokratisierung steht noch aus, etwa die Möglichkeiten zu eigenständigen Gesetzesinitiativen. Der EGB forderte 2019 neuerlich diesen Demokratisierungsschritt ein.